»Bist du ein ehrliches Gespenst, so sprich«, sagte er endlich.
Hornblower fühlte, wie ihn plötzlich ein Anfall von Übelkeit überkam - er litt immer noch unter der Nachwirkung der Bootsfahrt, und darum setzten ihm die Stickluft und der Gestank im Zwischendeck erklärlicherweise besonders zu. Es fiel ihm also an sich schon schwer zu sprechen, am ärgsten aber war, daß er überhaupt keine Ahnung hatte, wie er sich diesen Leuten gegenüber benehmen sollte.
»Mein Name ist Hornblower«, brachte er schließlich stammelnd hervor.
»Da hast du aber lausiges Pech gehabt«, meinte ein anderer aus der Runde ohne jede Spur von Mitgefühl.
In diesem Augenblick schoß der heulende Sturm, der draußen herrschte, ganz plötzlich um mehrere Striche aus, so daß sich die schwere Justinian ein wenig auf die Seite legte, ehe sie in die neue Richtung schwojte und wieder einmal heftig in die Ankertrossen ruckte. Für Hornblower war das ein Gefühl, als ob sich die Welt aus den Angeln höbe. Alles schien sich um ihn zu drehen, und zugleich spürte er, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat, obwohl er am ganzen Leib vor Kälte zitterte.
»Ich habe den Eindruck«, sagte der Bärtige am Kopf des Tisches, »daß Sie an Bord dieses Schiffes gekommen sind, um sich Ihren seebefahrenen Kameraden aufzudrängen. Wir hätten also wieder einmal so einen begriffsstutzigen, ahnungslosen Zeitgenossen unter uns, der uns das Leben schwer macht, weil wir ihm mühsam beibringen müssen, was er zu tun und zu lassen hat. Schaut euch den Kerl nur einmal an...«, der Sprecher wies mit einer Geste auf Hornblower, und alle Anwesenden sahen sich nach ihm um. »Ja, seht ihn euch an! Mit dem ist der König wieder einmal verdammt schlecht bedient... Wie alt sind Sie eigentlich?«
»Si - siebzehn, Sir«, stammelte Hornblower.
»Was, schon siebzehn Jahre?« Der Ton des Sprechers verriet nur zu deutlich, wie er darüber dachte. »Bilden Sie sich nur ja nicht ein, daß da noch ein richtiger Seemann aus Ihnen wird.
Dazu hätten Sie mit zwölf anfangen müssen.«
In diesem Augenblick holte das Schiff von neuem über, so daß Hornblower nach der Tischkante greifen mußte, um sein Gleichgewicht zu halten.
»Meine Herren«, begann er feierlich, ohne recht zu wissen, wie er sich dieser Gesellschaft verständlich machen sollte.
»Ach du großer Gott«, rief da einer aus der Tafelrunde, »der Mensch ist ja seekrank!«
»Seekrank im Spithead!« bemerkte ein anderer. Aus der Art, wie er das sagte, ließ sich unschwer entnehmen, daß er diesen Sachverhalt ebenso erstaunlich wie verächtlich fand.
Aber Hornblower war jetzt schon alles gleich, er faßte überhaupt nicht mehr richtig auf, was rings um ihn vorging. An seinem gegenwärtigen Zustand trugen die Aufregungen der letzten Tage mindestens ebensoviel Schuld wie die stürmische Bootsfahrt und die unberechenbaren Bewegungen der Justinian.
Aber das spielte hier natürlich keine Rolle, für die anderen war er fortan der Fähnrich, der im Spithead seekrank wurde. Der Fluch der Lächerlichkeit, der ihn damit traf, hatte notwendig zur Folge, daß er sich erst recht von aller Welt verlassen fühlte und doppelt unter Heimweh litt. Der seelische Druck, der sich da auf ihn legte, wollte nicht mehr von ihm weichen, solange der Teil der Kanalflotte, dem es noch nicht gelungen war, die Besatzungen aufzufüllen, in Lee der Isle of Wight vor Anker lag. Fürs erste half ihm der Messesteward in seine Hängematte, und dort erholte er sich innerhalb einer Stunde wenigstens so weit, daß er sich beim Ersten Offizier melden konnte.
Nach einigen weiteren Tagen an Bord fand er sich schon überall im Schiff zurecht und wußte auch in den unteren Decks, wo vorn und achtern war. Auch die Gesichter seiner Kameraden verloren allmählich ihre verschwommene Ähnlichkeit und zeigten ihm jetzt deutlich unterschiedene, individuelle Züge. In mühsamer Übung lernte er mit der Zeit die Stationen kennen, die ihm die Rolle zuwies, wenn Klarschiff angeschlagen wurde, wenn er die Wache hatte oder wenn die Besatzung zum Segelsetzen oder bergen an Deck gepfiffen wurde. Bald hatte er sogar schon so viel Verständnis für sein neues Dasein gewonnen, daß er sich darüber Rechenschaft gab, wieviel schlimmer diese erste Zeit womöglich für ihn ausgefallen wäre, wenn ihn das Schicksal gleich zu Anfang an Bord eines Schiffes verschlagen hätte, das nicht vor Anker liegenblieb, sondern sofort in See zu gehen hatte.
Aber das war eben doch nur ein schwacher Trost, er war und blieb ein todunglücklicher, einsamer Junge. Seine Schüchternheit allein hätte es ihm schon schwer genug gemacht, sich an andere anzuschließen, hier auf der Justinian hatte es überdies ein böser Zufall gefügt, daß die übrigen Fähnriche alle um ein gut Teil älter waren als er. Sie hatten im ersten Augenblick ihren Schabernack mit ihm getrieben, dann aber ließen sie ihn bald links liegen, und er hatte nichts dagegen einzuwenden. Am liebsten verkroch er sich wie eine Schnecke ins Gehäuse und war vor allem ängstlich darauf bedacht, nicht aufzufallen.
Auf der Justinian herrschte in jenen düsteren Januartagen auch wirklich kein guter Geist. Kapitän Keene war ein kranker Mann und litt unter melancholischen Depressionen. Seine Offiziere bekamen ihn wenig zu Gesicht und waren alles andere als begeistert, wenn er wirklich einmal in Erscheinung trat. Als Hornblower zu seiner ersten Meldung in die Kajüte gerufen wurde, empfing auch er keinen besonderen Eindruck. Hinter einem mit Papieren bedeckten Tisch saß ein Mann mittleren Alters, dessen gelbe, eingefallene Wangen von jahrelangem Leiden zeugten.
»Mr. Hornblower«, begann er in förmlichem Ton, »ich freue mich, Sie an Bord meines Schiffes begrüßen zu können.«
»Jawohl, Sir«, gab Hornblower zur Antwort - das schien ihm für diese Gelegenheit passender als »Aye, aye, Sir«, und eine andere Wahl war nicht zu treffen, da man von einem jungen Fähnrich offenbar bei jedem denkbaren Anlaß eine von diesen beiden Antworten erwartete. »Sie sind - lassen Sie mich nachsehen -, Sie sind also siebzehn Jahre alt, nicht wahr?«
Kapitän Keene nahm ein Blatt Papier zur Hand, das offenbar über seine kurze dienstliche Laufbahn Auskunft gab.
»Jawohl, Sir.«
»4. Juli 1776«, murmelte Keene lesend vor sich hin. Das war Hornblowers Geburtstag. »Ihr Vater ist Arzt, ja? Sie hätten sich besser einen Lord als Vater ausgesucht, wenn Sie bei uns vorwärtskommen wollen.«
»Jawohl, Sir.«
»Wie steht es mit Ihrer Schulbildung?«
»Ich habe das humanistische Gymnasium besucht.«
»Da können Sie also neben Cicero auch Xenophon übersetzen.«
»Jawohl, Sir. Aber nicht besonders gut, Sir.«
»Es wäre besser, Sie verstünden sich auf Sinus und Cosinus, noch besser, Sie könnten eine Bö früh genug erkennen, um rechtzeitig die Bramsegel zu bergen. Für den Ablativus absolutus haben wir in der Marine wenig Verwendung.«
»Jawohl, Sir«, sagte Hornblower.
»Aber das hat nichts zu sagen. Wenn Sie alle Befehle gewissenhaft befolgen und gründlich lernen, was der Dienst von Ihnen verlangt, dann kann Ihnen hier nichts Schlimmes widerfahren. Ich danke Ihnen.«
»Danke, Sir«, sagte Hornblower und zog sich zurück.
Es schien, als wollte das Schicksal die letzten Worte des Kommandanten sofort und gründlich Lügen strafen.
Ausgerechnet von diesem Tage an widerfuhr Hornblower nämlich eine Fülle von Unbill, obwohl er jedem Befehl gehorchte und seine dienstlichen Obliegenheiten immer besser erfüllen lernte. Alle diese Widrigkeiten hingen mit der Rückkehr John Simpsons zusammen, der als Dienstältester sofort den Vorsitz in der Fähnrichsmesse übernahm. Hornblower saß gerade mit seinen Kameraden bei Tisch, als er zur Tür hereinkam, ein kräftiger, gutaussehender Mann, der schon an die dreißig Jahre zählen mochte. Zunächst blieb er stehen und blickte über die Tafelrunde, genau wie Hornblower vor wenigen Tagen dagestanden hatte.
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