Als April am nächsten Morgen aufwacht, weiß sie nicht, wo sie ist. Ihr Schädel schmerzt, sie liegt auf einem Sofa, kommt langsam hoch und blinzelt in ein pulsierendes Licht aus Sonnensplittern. Nach und nach erkennt sie Möbel, Bücherregale, schwarz gerahmte Fotografien und Graphiken. Bis auf die Schuhe ist sie vollständig bekleidet. Fröstelnd legt sie sich wieder hin, versucht sich an die gestrige Nacht zu erinnern, doch sie kann sich nicht konzentrieren. Sie ist kurz davor, wieder einzuschlafen, als die Tür aufgeht. Die Hummelfrau kommt herein. Schätzchen, du siehst zum Fürchten aus, sagt sie, in ihrer Stimme schwingt aufrichtige Besorgnis mit.
Das Kompliment könnte April zurückgeben. Die kleine, dicke Frau setzt sich zu ihr aufs Sofa, und aus der Nähe betrachtet ziehen sich Krähenfüße über ihr ganzes Gesicht. Wie die Steinhummel trägt sie tiefes, samtartiges Schwarz, doch ihr Morgenmantel hat Löcher und Flecken. Es geht mir gut, sagt April, und das ist eine Lüge, ihre Stirn ist mit Schweiß überzogen, sie kann fühlen, wie das Fieber steigt, ihre Mandeln anschwellen. Wie bin ich hierhergekommen, fragt sie, ich kann mich nicht mehr erinnern.
Das ist auch besser so, sagt die Hummelfrau und tätschelt ihr den Arm.
Die Hummelfrau heißt Irma, und als sie bemerkt, dass ihr Gast krank ist, versorgt sie ihn mit Medikamenten und Tee. Stundenlang kämpft April in ihren Fieberträumen gegen einen stürzenden Himmel an, und ständig knallen Hummeln gegen Fenster. Als sie wieder zu sich kommt, sitzt Irma neben ihr. Wie geht es dir, fragt sie, du hast im Schlaf gesprochen.
Es geht mir besser, sagt sie mit krächzender Stimme. Sie schließt die Augen, gibt vor, wieder wegzudämmern. Dass eine Fremde sich ihrer annimmt, treibt ihr Tränen in die Augen. Aber sie bemüht sich, nicht zu weinen, sie möchte noch eine Weile hierbleiben. Als sie aufstehen kann, macht sie sich nützlich; noch wacklig auf den Beinen geht sie einkaufen, spült das Geschirr, bohnert die Treppen. April fühlt sich wohl und ist dennoch stets auf dem Sprung. Sie versucht an Irmas Gesicht abzulesen, ob sie sich richtig verhält oder ihr einen Anlass bietet, sie wegzuschicken.
Am Sonnabend sehen sie gemeinsam einen russischen Märchenfilm im Fernsehen, abends liegen weiße Servietten auf dem Tisch, es gibt sogar eine Vorsuppe. April erzählt Geschichten aus ihrem Leben, sie erzählt von Sven und dem Meister, sogar von dem Rattengift, das sie ihnen in den Zucker getan hat.
Du hast was, fragt Irma und stößt einen leisen Pfiff aus.
Hm, sagt sie und holt tief Luft.
Du weißt, dass Rattengift tödlich ist? War es wirklich Rattengift?
April zuckt nur mit den Schultern.
Es muss ein furchtbarer Tod sein, sagt Irma, ich glaube, die Magenschleimhaut löst sich auf, man erstickt am eigenen Blut. Doch dann lacht sie laut, schiebt den leeren Teller zur Seite, du bist mir eine, sagt sie, komische Geschichten kannst du erzählen.
April ist erleichtert, dass Irma ihr nicht glaubt, sie kann es ja selbst kaum glauben, es erscheint ihr weit weg, als wäre es einer anderen passiert. Trotzdem verspürt sie ein Unbehagen, als hätte sie ein winziger Stachel gestreift.
Und deine Eltern, fragt Irma, was machen die?
Meine Mutter ist Kellnerin und mein Vater eine Art Lebenskünstler.
Immerhin ein Künstler, sagt Irma.
Er malt nackte Frauen und Segelschiffe, schreibt Kriminalromane und erfindet Geschichten, die niemand glaubt.
Nun wird mir alles klar, sagt Irma, und warum glaubt die Geschichten keiner?
Weil sie so unwahrscheinlich sind. Einmal hat er erzählt, er sei mit Robert Mitchum auf Sauftour gewesen und habe in einem seiner Filme eine Nebenrolle gespielt.
Vielleicht war es so, sagt Irma. Und deine Mutter?
April kribbelt es in den Kniekehlen. Sie hört die Stimme ihrer Mutter: Ich werde dir die Haut in Fetzen vom Leib prügeln. Du verdienst nichts anderes. Sie zündet sich eine Zigarette an und sagt: Einmal hat mein Vater mich mit einem echten Goldring in den Konsum geschickt, den sollte ich gegen eine Flasche Goldbrand eintauschen. Und stell dir vor, die Verkäuferin hat den Ring genommen und mir den Schnaps gegeben.
Na, auch so eine Geschichte, sagt Irma und lacht schallend.
Genauso hab ich es erlebt, sagt April und sieht ihre neue Freundin entschlossen an.
Und hast du Geschwister, fragt Irma.
Zwei Brüder, sagt sie, Alex und Elvis.
Elvis, was für ein Name.
Einer meiner Stiefväter war Elvisfan.
April hält sich nur noch zum Wäschewechseln in ihrem eigenen Zimmer auf, das Fräulein bekommt sie kaum zu Gesicht. Abends begleitet sie Irma ins Kabarett, sitzt in der ersten Reihe und verfolgt aufmerksam, wie sie für ein neues Programm probt. Wenn die Kollegen Irma kritisieren, weil sie den Ton nicht trifft oder Silben verschluckt, möchte April am liebsten lautstark protestieren, sie lässt nichts auf ihre Freundin kommen. Nach der Probe klappern sie die Kneipen ab, in denen sich Künstler und Schauspieler treffen, alles Freunde von Irma. Diese Leute schüchtern April ein, sie sagt kein Wort, lacht nur dann, wenn die anderen lachen; mit Witzen hat sie ihre Schwierigkeiten. Anders als Irmas selbstbewusste Freunde würde April nie auf die Idee kommen, sich als Künstlerin zu bezeichnen, obwohl sie wieder Gedichte schreibt und oft stundenlang an einem Wort sitzt.
Ihre Levi’s ist inzwischen so zerschlissen, dass sie die Hose nur noch zu besonderen Anlässen trägt. Sie gibt eine Annonce in der Zeitung auf: Alte Kleider und Blusen aus der Jahrhundertwende gesucht. Sie bekommt viele Zuschriften und verhandelt hart. Ihr Lieblingsstück ist ein schwarzes Kleid, mit dunkel glänzenden Perlen bestickt, dazu trägt sie einen Männerhut, nur passende Schuhe findet sie nicht. In den ersten Frühlingstagen geht sie ins» Café Corso«, ohne Irma, und wartet vor der Absperrung, bis ihr ein Platz zugewiesen wird. In diesem Café treffen sich die Intellektuellen der Stadt, bärtige, Pfeife rauchende Männer, die ihr ähnlich verkleidet vorkommen wie sie sich selbst. Die Männer tragen Holzfällerhemden oder altmodische Hemden mit Stehkragen, Hosenträger, Nickelbrillen — durch diese Brillen schauen sie bedeutungsschwer in ihre Bücher. Manchmal blicken sie ermattet und schreckhaft auf, als wüssten sie nicht mehr, wo sie sich befinden und was die Wirklichkeit ist. Mit der Wirklichkeit hat auch April ihre Schwierigkeiten. Das Terrain in diesem Café ist ihr fremd, sie weiß nicht, wie sie sich verhalten, wie sie mit eigener Stimme sprechen soll. Es kostet sie Überwindung, einen Kaffee zu bestellen oder die Rechnung; wie oft hat sie den Satz geprobt: Zahlen bitte, und wie oft ist ihre Stimme ungehört verhallt, weil die schielende Kellnerin sie nicht nur überhört, sondern einfach übersehen hat, sie und ihren in die Höhe gereckten Arm. Die Frauen wirken auf April wie schmückendes Beiwerk. Die eine oder andere hält es durchaus wie die Männer, liest, schreibt, neben sich eine Schachtel Karo, oder seltener Roth-Händle, und bestellt ihren Kaffee mit fester Stimme, schwarz und ohne Zucker. So möchte April sein.
Es gibt Tage, da streunt sie wieder allein durch die Gegend und schläft in ihrem alten Zimmer. Als sie einmal spätabends in einer Bar von einem attraktiven Mann angesprochen wird, gelingt ihr eine spielerisch-spöttische Antwort. Im leicht angetrunkenen Zustand lockert sich ihre Zunge, sie ist sogar zu kleinen Scherzen aufgelegt. Der Mann lacht und flirtet mit ihr, und April staunt über die eigene Anziehungskraft. Sie verabreden sich für den nächsten Tag.
Bei aller Freude fühlt sie sich wie ein Korken auf dem Wasser. Sie will einen Strohhut mit getrockneten Blumen tragen. Vor dem Spiegel setzt sie den Hut auf und wieder ab, sie ist kurz davor, nicht hinzugehen. Sie fragt sich, warum selbst Freude so anstrengend sein muss.
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