Hans bringt sie dazu, ihm aus ihrer Kindheit zu erzählen, und dann kann sie nicht mehr aufhören damit.
Einmal hat sie ein Glas voll mit Kreuzspinnen gesammelt. Und weißt du, was ich mit den Spinnen gemacht habe? Sie hält einen Moment inne, schüttelt sich.
Ich hab sie über meinem Bruder Alex ausgeschüttet. Er hat furchtbar gebrüllt. Seitdem habe ich eine Riesenangst vor Spinnen. Ist doch gerecht, oder? Atemlos erzählt sie weiter: Wir waren tagelang allein, eingeschlossen in der Wohnung, und ich habe Alex überredet, da muss er vier gewesen sein, sich draußen auf das Fensterbrett zu setzen, ich saß neben ihm, im dritten Stock, das war ein Durcheinander, die Leute unten auf der Straße haben geschrien, bis die Feuerwehr kam. Sie sieht Hans wachsam an. Und dann die Sache mit dem Schuh. Alex hat mich bei meiner Mutter angeschwärzt, und ich habe ihn mit einem Stöckelschuh verprügelt, und dann blieb der Absatz in seinem Kopf stecken. Er hat geblutet und gebrüllt wie abgestochen. Und ich hatte solche Angst, dass er stirbt, doch es war nur ein kleines Loch.
Das sind harte Geschichten, sagt Hans.
Ach, sie winkt ab, wenn man es nicht anders kennt.
Gab es auch was Schönes, fragt er, oder etwas weniger Aufregendes.
Ich war immerzu wütend als Kind, sagt sie. Ich habe vor Wut keine Luft gekriegt.
Hans möchte, dass sie ihre Schüchternheit ablegt und sich an den Gesprächen beteiligt, wenn andere dabei sind. Doch das will ihr nicht gelingen. Sie kommt sich vor wie ein Hühnchen, das seinen dünnen Hals hierhin und dorthin reckt. Wenn sie mal etwas sagt, würde sie es am liebsten mit einer Grimasse zurücknehmen. Bei Hans und den anderen sieht es so einfach aus, aber bei ihr entsteht das reinste Tohuwabohu im Kopf, sobald jemand das Wort an sie richtet. Schon die Frage: Wie geht es dir, macht sie verlegen. Einfach ist es nur, wenn sie mit Kindern spricht, dem Bäcker, der Gemüseverkäuferin, dann weiß sie genau, was sie will, kann sogar fordern, dass das Pfund Sauerkraut in zwei Papiertüten gefüllt wird, weil eine zu schnell durchweicht und sie das Kraut unterwegs essen will.
Hans ermuntert sie, an ihren Gedichten zu arbeiten, und erklärt ihr, was er anders machen würde. Sie kauft sich eine Verslehre, kopiert Rimbaud, Else Lasker-Schüler.
Während am Straßenrand Unkraut und Grasbüschel unter der Sonne verdorren, Staub und Abgase die Luft verpesten, bereitet sich Hans für einen Choreographenwettbewerb von» Schwanensee «an der Oper vor. Früher war er Tänzer. Sie will gar nicht daran denken, dass es in seinem Leben ein Früher gab, ein Früher ohne sie. Hans ist für April der Beweis, dass sie etwas taugt, denn niemals würde sich ein so gebildeter, in jeder Hinsicht großartiger junger Mann mit einem Taugenichts abgeben. Seine Nähe überwältigt April. Sie ist ganz und gar einverstanden mit allem, was er sagt.
Wenn sie morgens das Museum betritt, muss sie an der Mongolei vorbei in den Südsee-Saal, in dem vier japanische Himmelsgötter in den Ecken stehen. Die Himmelsgötter sollen die bösen Mächte abwehren, doch der Einzige, dem sie das zutraut, ist der Gilbert-Krieger mit seinem Helm aus Rochenhaut. Sie stellt sich den Rochen vor, wie er im Schlamm lauert, erst auf den zweiten Blick ein gewandter Schwimmer, dann aber schwebt er nahezu vogelgleich mit riesigen Brustflossen über dem Wasser. Oft steht April im Magazin vor einer der langen Vitrinen, eingehüllt von den Gerüchen nach Hölzern und Harzen, und starrt auf die Tongefäße und Scherben, presst die Stirn gegen das Glas, sieht die alten Kleidungsstücke zu Staub zerfallen oder eine Holzstatue zum Leben erwachen und ihr zuzwinkern. Das Fenster, vor dem sie sitzt und arbeitet, geht auf einen kleinen Friedhof, und wenn sich ihr Blick in der flirrenden Hitze zwischen den Grabsteinen verliert, tippt ihr die alte Frau auf die Schulter, deutet auf die noch zu bemalenden Masken. April verbringt den Arbeitstag träumend, beendet ihn aber auf die Minute genau, und verlässt frohgemut, manchmal sogar laut pfeifend das Museum.
April kocht ihre erste Suppe, die nicht aus der Tüte kommt, doch bald schon wird sie nervös. Das Gemüse ist verkocht, die Brühe ähnelt einem Teich mit Entengrütze. Sie hat alle Gewürze, die sie finden konnte, in den Topf gegeben. Babs summt erwartungsfroh, Reinhard wünscht guten Appetit. Die Suppe ist heiß, April schwitzt, das Löffelgeklapper hallt in ihren Ohren.
Sie schmeckt komisch, deine Suppe, sagt Hans und beginnt zu husten, hochrot im Gesicht, wedelt mit den Armen, und sein Bruder springt auf, bearbeitet seinen Rücken, als wollte er ihn brechen. Unheimlich, sagt Hans, noch immer hustend, die Suppe schmeckt unheimlich.
Wie kann eine Suppe unheimlich schmecken, fragt sie sich, doch auch ihr kommt der Geschmack nicht geheuer vor.
Ja, unheimlich bitter, sagt Reinhard und legt den Löffel hin, bitter wie Zyankali, fügt er hinzu.
Zyankali? Hans sieht April an.
Sie weiß, was Zyankali ist. Denkt er etwa, sie wolle sie alle vergiften?
Babs rennt auf die Toilette, und nun meint sie selbst, es zu spüren — das Gift beginnt zu wirken. Ich hab keine Ahnung, was los ist, sagt sie zu Hans, ihre Stimme klingt blechern.
Egal, sagt Hans, da stimmt was nicht. Ich ruf den Notdienst an. Er steht auf und geht zum Telefon.
Das Gift muss bei den Gewürzen gewesen sein, denkt sie und kommt sich albern vor, am liebsten würde sie laut loslachen.
Hans zählt am Telefon Symptome auf, Schweißausbruch, Übelkeit, vier Personen sind betroffen. Er hält kurz inne. Wie meinen Sie das? sagt er mit einem Augenrollen in ihre Richtung. Dann legt er den Hörer auf. Wir sollen uns in einer Stunde noch mal melden, sagt er, falls die Symptome nicht verschwunden sind.
Falls wir dann noch leben, schreit April und rutscht an der Wand hinunter, was sollen wir tun? Sie hat nur noch einen Gedanken, sie will in Würde sterben, und dazu gehört, dass sie niemand in ihren Trainingshosen unter den Jeans sehen soll. Wie eine Schlafwandlerin öffnet sie die Tür, taumelt mit Watteknien die Treppe hinunter, sucht im benachbarten Park ein Plätzchen, um sich die Trainingshose auszuziehen. Unter einem Baum sitzend, fragt sie sich, ob sie das Unglück anzieht. Ihr Blick verliert sich im Astwerk, eine ganze Weile sitzt sie so da und nichts passiert. Sie atmet tief durch und ist immer noch nicht tot. In der Ferne das Geräusch eines Rasenmähers, sie meint das frisch geschnittene Gras zu riechen. April steht auf und tritt den Heimweg an, fühlt sich schon nach wenigen Schritten besser, ist überrascht, dass der Himmel so blau sein kann, hat Lust auf eine Zigarette.
In der Wohnung sitzen die Brüder am Tisch. Wo warst du? sagt Hans. Wir haben uns Sorgen gemacht.
Das war ein kollektiver Schock, verkündet Reinhard und hält triumphierend ein kleines Tütchen hoch. Bittermandel, sagt er, ein Kuchengewürz.
Babs kommt aus der Toilette und streicht sich über den Bauch. Nimm das nächste Mal ein richtiges Abführmittel, sagt sie verärgert.
April kann nichts dafür, am liebsten möchte sie Hans durchschütteln und rufen: Was traust du mir zu, hast du wirklich geglaubt, ich wollte uns umbringen? Doch sie sagt nichts. Sie hatte ihm von Sven erzählt, von dem Rattengift im Zucker.
Hans nennt sie eine kleine Kanaille, als hätte sie das Essen absichtlich verdorben. Die Suppe wird im Klo entsorgt, nicht mal der Kater bekommt davon ein Schüsselchen ab.
Einen Monat später wird Hans zur Reserve einberufen. Er sieht gar nicht aus wie ein Soldat, eher wie ein Halbwüchsiger, der sich verkleidet hat. In seiner Abwesenheit darf sie sein Zimmer bewohnen. Sie hat sich Trost davon versprochen. Aber wenn sie abends auf dem Bettrand sitzt, Kater Mao zu ihren Füßen, kann sie sich auf nichts konzentrieren. Sie schläft ein, ohne das Licht auszumachen. Sie vermisst Hans. Sie schreibt ihm täglich. In seinen Briefen malt er lustige Bilder, zeichnet sich als Vagabunden mit greisen Gesichtszügen, und sie ähnelt einer Ballett tanzenden Heuschrecke.
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