Ich sah hoch zu Simon und sagte:»Aber ganz sicher nicht in diese Wand.«
Simon hatte soeben den obersten Abschnitt erreicht und katapultierte sich mit dem rechten Bein voran über eine scharfe Kante. Der Stein in meinem Magen bekam ein Baby.
Am gleichen Abend saßen wir alle, ebenso Mick und seine Freundin, in dem Restaurant nahe meiner Wohnung. Erneut fragte mich Heinsberg nach meiner Schwester. Jetzt horchten auch Mick und seine Freundin auf. Bei aller Tragik des vor Jahren Geschehenen war da auch ein Reiz: der frühe Tod, der junge Tod. Früh und jung und beeindruckend. Sehr im Gegensatz zu jenen profanen Enden, die Menschen in Form verschluckter Gräten oder ungünstiger Gerinnsel ereilte. Oder im Zuge einer Besoffenheit im Autoverkehr oder jenes banalen Pechs, im falschen Moment eine Stromleitung berührt zu haben. Nein, der Tod meiner Schwester hatte … nun, er hatte Klasse. Und auf eine merkwürdige Weise gefiel es mir mit einemmal, darüber zu reden, auch über Astris Hang damals, rascher als die anderen sein zu wollen, vor allem rascher als die Jungs, und dafür auch ein gewisses Risiko einzugehen. So zumindest war es mir berichtet worden, der ich ja kein einziges Mal dabeigewesen war.
«Sag, Sixten, wie sieht der Berg eigentlich aus, wo das geschehen ist?«fragte Kerstin, die mir kurz zuvor das von mir gerne angenommene Duwort angeboten hatte.
«Wie meinst du aussehen? «
«Na, er hat ja wohl eine Form, der Berg.«
«Ich habe keine Ahnung.«
«Was?! Du warst nie dort«, staunte Kerstin.
«Nein, nie. Wieso auch? Das hätte sie nicht wieder lebendig gemacht.«
«Wer redet von Lebendigmachen? Aber … also, vielleicht klingt das übertrieben, aber der Berg hat deine Schwester umgebracht, da will man doch wissen, wie er ausschaut. Oder ist das blöd, wenn ich das sage?«
Ich überlegte, ob man eher dem Blitz oder eher dem Berg die Schuld geben sollte. In jedem Fall hatte Kerstin recht, wenn es sie erstaunte, daß ich nie versucht hatte — auch nicht in Büchern oder im Netz — , mir den Berg anzusehen, auf dem meine Schwester ums Leben gekommen war.
Als Kerstin und ich später am Abend auf dem Sofa meiner Wohnung saßen, Mick und seine Freundin gegangen waren und Simon wie eine betäubte Taube ins Bett gefallen war, da meinte Kerstin:»Du solltest mit dem Jungen dort hinfahren.«
«Zu dem Berg?«
«Ja.«
«Wieso? Um Simon zu zeigen, wie gefährlich sein neues Hobby ist?«
«Natürlich nicht. Einfach hinfahren und anschauen.«
«Ich kann den Sinn nicht erkennen«, sagte ich, aber das war eine Lüge. Ich hatte den Berg verdrängt und meine Schwester verdrängt. Und wenn ich behauptet hätte, Astri hätte mir wenig bedeutet, wäre das ebenso eine Lüge gewesen. Fremd, das schon, aber lieb fremd, wenn man sich darunter etwas vorstellen kann.
«Weißt du was?«sagte Kerstin, und dabei legte sie ihre Hand auf meine Knie und kam so nahe, daß mir ihr Anblick etwas verschwamm. Ich senkte die Augen, aber eigentlich nur, um mir ihren Busen anzusehen, der unter der bestickten Stretchbluse deutlich hervortrat und den Ausschnitt beim Einatmen spannte.
Ich war lange einer solchen Situation ausgewichen, im Grunde froh ums Alleinsein und erst recht froh ums Alleinsein mit dem Kind. Doch Kerstins Gegenwart, ihre Berührung, ihr Blick auf mir, braun und blaßblau, der Stern in der Mulde ihres Nasenflügels, ihr Geruch, das Leuchten heller Haut im Ausschnitt …
Ich fragte:»Ja, was denn?«
«Ich hab ’ne Idee. Wir fahren übernächstes Wochenende dorthin, wo deine Schwester gestorben ist«, sagte sie.»Wir legen Blumen an den Berg. Zehn Jahre ist lang, aber zu spät ist es trotzdem nicht. Es wird dir guttun, an deine Schwester zu denken, es wird Simon guttun, einen echten Berg zu sehen, und mir auch, wenn ich mit euch zusammen bin. Oder findest du das schlecht, wenn wir zusammen sind?«
Ich beugte mich vor und gab ihr eine Antwort auf die Lippen.

Eine Zeitschrift hatte einmal geschrieben: Er ist der Mann, der die Schönheit pflegt .
Der, über den man solches sagte, saß am Strand und blickte hinaus aufs Meer. Eine ruhige See an diesem Tag. Die Brandung ein kleines Seufzen. Wellen, die sanft aufs Land trafen gleich todmüden Kindern, die über einem Polster einnicken. Freilich konnte dieses große Wasser auch ganz anders. Das hatte er oft genug erlebt.
Er entschied sich. Und zwar zur Vorsicht.
Er entschied sich, das Meer zu verlassen und in die Berge zu gehen. Und damit auch hinüber nach Europa, das auf der anderen Seite dieser Kugel lag, die man die Erde nannte und von der gesagt wurde, sie sei vom Weltraum aus so schön anzusehen. — Schöner als Jupiter? Schöner als Saturn? Nur weil sie blau war, aber ohne Ring auskam und einen grauen Mond besaß?
Sein Name war Auden Chen, geboren im Norden Taiwans, in Keelung, als Sohn eines Lehrerehepaars, die beide Englisch unterrichteten und kurz nach der Geburt des Sohnes nach Amerika gezogen waren. Er besaß auch einen chinesischen Vornamen, den er aber so gut wie nie verwendete, sondern allein den englischen: Auden. Stimmt, das war kein Vor-, sondern ein Nachname. Doch die Begeisterung seiner Eltern für die Gedichte des zuerst englischen und dann amerikanischen und schließlich in Österreich begrabenen Dichters W.H. Auden glich einer Besessenheit. Die beiden kannten so gut wie jeden Satz, den Auden geschrieben hatte, und nicht wenige von denen, die aus den Federn von Audens Freunden stammten. Mitunter warfen sich Herr und Frau Chen kleine Gedichtbrocken gleich Handküssen zu. Darum war es ihnen ungemein wichtig, ihre Liebe zur Audenschen Poesie im eigenen Kind zu manifestieren. Das mochte zwar ähnlich egoistisch sein wie Leute, die ihren Nachwuchs nach Schauspielern, Zeichentrickfiguren, berühmten Indianern oder nach Waschmitteln benannten, aber immerhin ergab sich daraus ein ausgesprochener Wohlklang: Auden Chen.
Ein Name, als würde ein Engel mit den Fingern schnippen.
Naturgemäß hatte Auden später nur zwei Möglichkeiten: die Literatur Audens zu hassen oder sie zu lieben. Selbige einfach zu ignorieren erschien unmöglich. Er entschied sich für die Liebe. Wie er sich in vielen Fragen für sie entschied. Er tendierte mit auffälliger Hingabe dazu, eine bestimmte Sache gut zu finden, sich in etwas zu vernarren oder an einem häßlichen Ding einen Vorzug zu entdecken. Wobei er keineswegs der idiotische Das-Glas-ist-halb-voll-Interpret war. Er erkannte durchaus den leeren Teil eines Glases und wie sehr diese Leere auf die Vergänglichkeit des halbvollen Restes verwies, doch zählte er zu denen, die bei alldem auch das Glas wahrnahmen, die Feinheit und Beständigkeit eines transparenten Gefäßes, innerhalb dessen sich die Dramen des Halbleeren und Halbvollen abspielten. Er war somit weder ein Halbvoll- noch ein Halbleermensch, sondern ein Glasmensch. Religiös auf eine ästhetische Weise. Er bekannte sich zum Christentum, zu einem Schöpfergott, der keine perfekte, aber eine interessante Welt geschaffen hatte. Daß in ihr der Mensch wütete, übersah Auden nicht, ließ sich aber davon den Blick aufs Leben nicht verderben.
Bei solcher Einstellung und einem solchen Vornamen war es freilich unmöglich, Waffenhändler oder etwas ähnliches zu werden. Er wurde Chemiker, womit man natürlich auch einigen Schaden anrichten kann. Was er aber nicht tat. Noch während seines Studiums begann er, in einem kleinen Privatlabor mit natürlichen Essenzen zu arbeiten und eine Palette neuartiger Hautcremes zu entwickeln. Er ließ sein Studium unbeendet, zog zwanzigjährig in das Land seiner Geburt und gründete in Taipeh ein Unternehmen, dem er den Namen KAI gab, was ausgeschrieben Kallman, Auden & Isherwood bedeutete und nach dem Schriftsteller und seinen beiden Kollegen und Liebhabern benannt war. Übrigens war Auden, unser Auden, kein bißchen schwul. Mit seinen Cremes freilich erfreute er Männer wie Frauen. Unter dem Namen KAI und einem Logo, das sich aus zwei gekreuzten Streifen von grünem Lauch zusammensetzte, produzierte er eine überschaubare Menge hochwertiger Kosmetik, die alsbald in den Ruf gelangte, nicht nur die Haut zu verschönern und dem Alterungsprozeß ein wenig Einhalt zu gebieten, sondern die betreffenden Anwender auch glücklicher zu machen. Wofür die Konkurrenz verbotene psychoaktive Stoffe verantwortlich machte, die allerdings bei diversen Untersuchungen nicht gefunden werden konnten. KAI-Produkte schienen frei von nachweisbaren Drogen, weshalb die Konkurrenz nun anfing, den Placeboeffekt dieser Ware zu behaupten. Aber was auch immer es war, die Cremes verkauften sich bestens, und selbst nach Jahren fand sich niemand, dem die Gesichtshaut abgefallen, dem ein Rüssel gewachsen oder dessen psychische Zufriedenheit in eine Depression umgekippt wäre. Blieb allein der Verdacht, die Kundschaft sei auf diese Cremes süchtig geworden, richtiggehend davon abhängig. Aber das galt für so viele Produkte auf den Märkten der Welt und schien im Falle KAIscher Fabrikate sogar ohne irgendeine Bewußtseinstrübung der Benutzer abzulaufen.
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