Würde Simon je so schwer werden? So untergewichtig, wie er war? Allerdings» normal untergewichtig«, wie der Kinderarzt gemeint und dabei auf die unklaren Verhältnisse in Simons vergangenen Lebensjahren angespielt hatte. Wie auch auf den Umstand, daß der Junge wohl kaum verhungern würde. In der Tat war ich bemüht, ihn aufzupäppeln. Doch seine Veranlagung schien die jener Menschen zu sein, die auch große Mengen verdrücken können, ohne ihre hühnchenhafte Gestalt zu verlieren. Klar, das mochte sich später noch als Glück herausstellen. Vielleicht würde Simon niemals gezwungen sein, der geliebten Schokolade zu entsagen.
Er befand sich jetzt am höchsten Punkt der Höhlendecke, während Mick unter ihm stand, die Hände nach oben gestreckt, und die Aufgabe des» Spotters «innehatte. Was nicht bedeutete, sich über Simons Haltung lustig zu machen, sondern entsprechend dem englischen Wortes spot — also erspähen — einen möglichen Absturz Simons zu mildern. Nicht ihn vollständig aufzufangen, sondern seinen Sturz gewissermaßen zu begleiten, ihm zu helfen, auf den Beinen aufzukommen. Sich vom Faultier in eine Katze zu verwandeln.
Und genau das geschah nun auch. Indem nämlich Simon versuchte, in dieser höchst schwierigen Situation sein linkes Bein von einem rosafarbenen Element zu einem anderen zu schwingen, verlor er den Halt, rutschte von den Griffen und fiel.
Während Mick die schmalen Hüften umfaßt hielt, kam Simon federnd auf der Matte auf, jedoch einen Fluch ausstoßend, der seinem Scheitern galt.
«Okay, schau mir jetzt zu«, sagte Mick, wobei er mit Zeige- und Mittelfinger ein V bildete, dieses an Simons Augenpaar heranführte, so daß dieser ein wenig schielte, und in der Folge das V in Richtung Kletterwand führte. Solcherart den Blick des Jungen dirigierend.
Nun stieg Mick in dieselbe Wand ein, sich knapp über dem Boden an vier Haltepunkten fixierend. Als hänge er gemütlich in Seil und Gurt. Welche freilich fehlten.
Soeben hatte ich gelernt, daß man das Klettern an derartigen Installationen» Bouldern «nannte, ein Klettern an Wänden und Blöcken, die man ohne Sicherung beging, wobei man immer nur so tief fallen konnte, daß man heil blieb. Beziehungsweise von einem Spotter in eine sanfte Landung eingewiesen wurde.
«Wollen Sie spotten?«fragte Mick und bog sich weit nach hinten, um mir mit auf dem Kopf stehendem Gesicht einen fragenden Blick zuzuwerfen.
Mir war klar, daß Mick angesichts der Matte, der geringen Höhe und seiner famosen Technik eine solche Absicherung nicht nötig hatte. Offensichtlich war es ein Versuch, mich aus meiner Passivität zu locken. Schließlich stand ich inmitten dieser Halle wie eingefroren.
Ich kam also näher, hob meine Arme etwas an und sagte:»Erschlagen Sie mich bloß nicht.«
Mick lachte, dann begann er, in einer insgesamt schwingenden Weise — gleich einem Turner, der von Gerät zu Gerät wirbelt — an den» bunten Beulen «hochzusteigen, und überwand schließlich auch die Stelle, an der Simon gescheitert war. Er tat dies mit der Leichtigkeit einer Fortpflanzung: eine Bewegung aus der vorherigen schöpfend.
Ich dachte:»Wie bei Astri. «Und dachte auch:»Der Mensch als muskulöser Windhauch. Nicht schlecht.«
Pathetisch geprochen, aber es stimmte.
Sodann ließ sich Mick mit den Händen an zweien der Griffe senkrecht nach unten hängen und offenbarte auf diese Weise die Tätowierungen an den Innenseiten seiner Arme. Die Zeichen waren so dicht gedrängt, als hätte er versucht, auf den beiden schmalen Flächen die gesamte Maorikultur unterzubringen (während er die Außenseiten seiner Arme vollkommen frei gelassen hatte). Ganz langsam löste er sich aus seiner Verankerung und kam butterweich auf der Matte auf.
In meinen Spotterhänden verfing sich ein kühler Luftzug.
Wir blieben noch eine Weile im Boulderbereich und wechselten dann zu den hohen Wänden, die es hier in großer Vielzahl und unterschiedlicher Schwierigkeit gab. Allerdings ebenso eine Menge aktiver Menschen. Es dröhnte von den Stimmen wie auch von den Regentropfen, die unaufhörlich aufs Dach schlugen.
Ich setzte mich auf eine zweistufige Tribüne und sah Mick und Simon zu, wie sie eine Route besprachen. Genauer gesagt: Mick zeigte auf die Farbe, die den Weg vorgab, und wies dann mit dem Finger eine imaginäre, leicht geschlängelte Linie hoch, die er kommentierte. Auch Simon redete. Es war allerdings viel zu laut in der Halle und ich selbst zu weit weg, als daß ich ihn hätte hören können. Bezweifelte aber nicht, daß er auch jetzt in seiner Sprache verblieb. Das» Verstehen «zwischen Simon und Mick ergab sich quasi daraus, daß der Berg — und hier eben die Wand, die den Berg imitierte — ihnen als Übersetzer diente.
Sie verstanden sich. Und wenn da zwei Tage zuvor eine Eifersucht gewesen war, war sie nun verschwunden. Statt dessen empfand ich eine große Zufriedenheit, mein Kind so zu sehen. In dieser normalen Situation kontrollierten Abenteuers.
Eine Zufriedenheit, die eine halbe Stunde später allerdings dadurch unterbrochen wurde, indem Mick an mich herantrat, mich angrinste und verkündete:»Jetzt sind Sie aber wirklich mal dran, alter Mann.«
Es war freundlich gemeint. Und fünfunddreißig war ja auch kein Alter. Aber was war denn ein Alter? Bis man auseinanderfiel? Oder nur noch aus einem einzigen Rückenschmerz bestand? Einem Rückenschmerz selbst noch in den Zehen?
«Nein danke, ich will wirklich nicht«, antwortete ich ihm.
Simon stand neben Mick und sah mich erwartungsvoll an. Mann, dieser Kinderblick in Form von Hundeaugen. Hunde und Kinder hat der liebe Gott geschaffen, uns schwach zu machen.
Dennoch betonte ich erneut, das Klettern sei nichts für mich.
«Hätten Sie einen Bierbauch und nur Speck an den Armen«, sagte Mick,»würde ich Sie nicht fragen. Aber Sie sind absolut fit, das sieht man.«
«Ich bin Läufer. Meine Domäne ist die Horizontale.«
«Man kann die Wand auch hochlaufen«, meinte Mick.
«Ja danke, ein andermal.«
Doch Mick gab nicht auf, erklärte, Simon würde es gefallen, wenn sein Vater sich ebenfalls im Klettern versuche.
«Hat er Ihnen das gesagt?«fragte ich schnippisch.
«Jeden Achtjährigen freut es, wenn die Eltern mitmachen.«
«Das ist den Kindern eher peinlich«, argumentierte ich mich an den Rand.
«Peinlich wird es erst später«, äußerte Mick.»Und auch nur darum, weil die Eltern zu faul sind, sich zu überwinden, und die Kinder aus der Not eine Tugend machen und sich damit rausreden, es sei eh alles total peinlich und sie würden das sowieso alles lieber ohne ihre Alten machen.«
Sodann erzählte Mick, daß sein Vater ihn stets zum Klettern mitgenommen habe. Und später dann er den Vater.
«Und heute?«Sogleich bereute ich die Frage. Was kam jetzt? Tod oder Rollstuhl?
Gott sei Dank nichts davon. Mick sagte:»Wir gehen noch immer zusammen in die Berge. Nur in die Halle nicht, die mag der Papa nicht so gern.«
Ich hätte jetzt erklären können:»Na, ich auch nicht. «Aber natürlich war es so, daß, wenn ich schon klettern mußte, dann lieber hier drinnen statt draußen, wo zu aller Unbill noch das Wetter kam.
Wetter gab’s zwar auch beim Hürdenlauf, aber zwischen Hürde und zivilisierter Welt war ein viel kürzerer Weg als vom Gebirge zum nächsten Taxistand.
Ich gab mich geschlagen. Stand auf und seufzte.
«Super!«jubelte Mick und holte einen Gurt, den er mir um Bauch und Beine legte und mittels Seil sich und mich in der üblichen Weise verschnürte.
Ich schaute zu Simon. Er hob anerkennend den Daumen. Sein Lächeln war eine kleine, feine Schlagzeile, etwas wie: Sparzinsen steigen wieder .
«Viel Glück«, gab Mick den Startschuß.
Aber das hier war keine Frage des Glücks. Ebensowenig der Beine oder Arme, die in gutem Zustand waren. Sondern der Nerven.
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