Santiago umarmte Ed, Wange an Wange. In einer Ecke der Inselbar war ein alter Schwarzweiß-Fernseher aufgebaut.»Sie wollen saufen, aber sie wollen jetzt auch die Demonstrationen sehen. «Ebenfalls neu war eine Waschmaschine im Keller, die warmes Wasser machte für den Abwasch, weshalb Santiago den Kessel nicht mehr befeuern musste; er zeigte sich ausgesprochen glücklich darüber. Eds Frage nach Kruso überraschte den Esskaa. Als wäre etwas sehr Schlimmes geschehen, legte er augenblicklich beide Hände an seine Wangen. Es war die Geste goldzöpfiger Mädchen in sowjetischen Märchenfilmen, wenn sie erfuhren, dass der Drache ihren Liebsten getötet oder in ein Tier verwandelt hatte.
Ed fuhr die schwarzen Quartiere ab. Der Pfad zur Sommerhütte war unauffindbar, verwachsen, von Sanddorn überwuchert. Einige der Verstecke wie verwüstet. Am Eingang zur Steinhöhle zwischen Vitte und Kloster lagen Speisereste, leere Konserven und Zeitungspapier. Kotgestank wehte bis auf den Weg. Die kleine Steinhütte hinter dem Hauptmannhaus (Schlafplatz für zwei Personen) war aufgebrochen. Vor dem sogenannten Hauptquartier im Waldstück über dem Hafen lehnten zwei Fahrräder. Ed schöpfte Hoffnung, aber die Baracke stand leer. Alles, was er durch das verschmierte Fenster erkennen konnte, waren ein paar verschlissene Sessel und eine grobe, mit schwarzer Farbe oder Teer gezeichnete Karte des Eilands an der Wand, ihr Umriss übersät mit Kreuzen, als handele es sich um eine Toteninsel. Ed erkannte, dass die Kreuze die Lage der schwarzen Quartiere markierten. Ihre Zahl übertraf bei weitem, was Ed vermutet oder Kruso ihm anvertraut hatte. Im Wald herrschte eine ungute, kalte Feuchte. Wie das Skelett eines Sauriers hockte das Wrack der großen undefinierbaren Maschine zwischen den Bäumen, weithin sichtbar. Der Müll war unter dem Laub verschwunden; es roch nach Winter.
Am Ende lief Ed noch einmal den Strand ab, Richtung Süden. Irgendwann starrte er bloß noch hinaus, das kalte Rauschen der Brandung am Ohr. Das Meer — die Verheißung. Jede andere Gegend schien Ed überzeichnet, versehrt, von Herrschaft angegraut. Er hatte immer das Gefühl gehabt, dass das Meer ihm etwas mitteilen wollte, dass es etwas Entscheidendes bereithielt für ihn, eine Lösung für sein Leben. Es gab die Fülle des Rauschens, das war die Atmung, wogend, endlos und alles umfassend. Es gab keinen Körper, kein Gefäß, das groß genug gewesen wäre für dieses Wesen aus Atem, diesen pneumatischen Riesen, im Gegenteil, es selbst schloss alles ein, es beatmete sein Denken oder brachte es zum Stillstand, es wiegte ihn in den Schlaf und umspülte seine Träume und formte sie zu etwas, das unfassbar war.
Hier wartest du so lange und rührst dich nicht weg.
So lange.
Es war die Stelle, an der Sonja ihren Bruder verlassen hatte. Ed begriff es und konnte sich nicht mehr rühren, keinen Zentimeter. Der Ort des Abschieds nahm von ihm Besitz.
Liebe Sonja.
Liebste G.
Er verlor sie in diesem Moment. Der Schmerz, die Verzweiflung, das Selbstmitleid. Unermessliche, unbezähmbare Trauer. Edgar, Ede, Ed, dem das alles passiert war, jetzt konnte er es sein. Die Nachricht hatte ihn erreicht.
Lieber Losch.
Der Beobachtungsturm hinter Vitte schwebte im Nebel; wahrscheinlich hatten die Grenzer ihn schon im Visier. Tatsächlich war es einfach unvorstellbar, von hier aus loszuschwimmen, ins Wasser zu gehen. Der Ort konnte sich kaum verändert haben seitdem. Ein Allerweltsstrand, von überall einsehbar, ein paar Bunen, Dünen, der Blick auf den Hügel des Dornbuschs im Norden.»Sie war eine sehr gute Schwimmerin, Ed«, hatte Kruso gesagt.
Ed dachte an den Tag der Insel. Die Stelle, an der er jetzt stand, wie festgefroren, lag nur hundert Meter entfernt vom Ort der Parade. Es war der Platz des kleinen Bruders, der seiner großen Schwester nachsah — für ein paar Sekunden — und dann weiterspielte.
Hier wartest du so lange und rührst dich nicht weg.
Worauf sollte er warten, so lange? Zuerst auf seine Schwester, die hinausschwamm, während er den warmen Sand mit seiner Plastemuschel hin und her schob, so lange. Dann schaute er aufs Wasser. Er sah nur noch ihren Kopf, falls sie das war, ganz klein, wie eine Netzboje, ein Schwimmer zwischen den Wellen. Er stand jetzt auf und tappte ans Ufer. Er stand regungslos da und presste die Plastemuschel an die Brust. Musste man rufen, schreien, so laut, wie nur möglich? Oder durfte man es jetzt gerade nicht, so lange?
Ed stellte es sich vor: Sonja, die hinausschwamm, dann die Mauer aus Patrouillenbooten, dann eine Schiffsschraube, vielleicht, oder ein Schuss. Oder Sonja, die hinausschwamm, gezogen von einem Aqua-Scooter — am helllichten Tag, das war absurd. Eher Sonja, die den Strand hinauf bis zum Dornbusch wanderte und sich dort versteckt hielt bis zum Einbruch der Nacht, neben dem Schlauchboot, zwischen den Sanddornbüschen. Jeder wusste, dass die Ablandestelle zu Füßen der Küste im toten Winkel der Radare lag, mit denen Vosskamps Leute das Meer überwachten — ein MR-10, hatte ihm Kruso erklärt und den Radius der Messanlage in den Sand gezeichnet.
Irgendwann schaffte es Ed, sich wieder zu bewegen. Trat man näher ans Wasser, konnte man hören, dass innerhalb der Atmung eine große Unruhe herrschte. Es gab die tiefen, schweren Atemzüge, donnernd, aggressiv, darunter aber lag ein viel hellerer Ton, einem Japsen, Hecheln ähnlich, als ringe das Meer selbst nach Luft, als müsse es selbst fast ersticken … Es waren die kindischen Seufzer der Toten. Ed konnte nichts dafür, dass er so dachte. Er sah René auf dem Billardtisch, den Apparat René, die stinkende Maschine, der Teile fehlten, Füße, Beine, die gerade hier, am Grund des Meeres, hin und her gewälzt, gerollt, gewendet, zubereitet wurden. Und er sah Sonja, wie sie spazieren ging über die Wellen, gänzlich unversehrt und mit einem grünen Smaragd auf der Stirn, die amphibische Prinzessin. Und er sah Kruso, seinen Bruder, wie er die Netze der Fischer von Vitte entwirrte unter Wasser und den Fischen im Netz die Freiheit erklärte; Blasen traten aus seinem Mund, und sein langes schwarzes Haar schwebte wie in Gelee, und es konnte auch niemand etwas dafür, dass Ed jetzt in Tränen ausbrach.
Hier wartest du.
So lange.
Das Metallgitter zur Einfahrt stand offen. Vor den Sandsteinbaracken unterhalb der Strahlenstation befand sich ein Schraubstock; er war auf eine Stahlschiene geschweißt und trug eine Kassette im Maul. Die metallicgrüne Farbe am Stahlblech war abgeplatzt, der Deckel ragte in die Luft. Auf den ersten Blick sah es so aus, als warte der Schraubstock auf sein Herrchen, das ihn loben und von seiner Beute erlösen würde. Auf dem Schlackeboden glänzten Münzen, verstreutes Papier bedeckte den Weg — Tabellen, Aufzeichnungen, Versuchsprotokolle vielleicht. Ed griff nach einem der regenschweren Bündel, alles war in russischer Sprache abgefasst. Er entdeckte einen Ausweis mit dem Emblem der beiden zur Fackel mutierten Buchstaben J und P — Jungpioniere . Er öffnete den Ausweis und sah Kruso, das Kind. Ein dunkler Anorak mit Kapuze, hell gepunktet, ein Halstuch, Ansätze von Augenringen auf den großen Wangen und ein verstohlener, nahezu ängstlicher Blick. Daneben der Stempel der Inselschule und die zehn Gebote der Jungpioniere. Es war das Porträt eines Kindes, das wusste, dass es für diese Gebote niemals gut genug sein würde. Ed hatte nie daran gedacht, dass Kruso nach dem Umzug vom Russenstädtchen Nr. 7 Schulkind auf Hiddensee gewesen sein musste, ein Russenkind in einer deutschen Schule. Keine Mutter mehr und plötzlich auch keine Schwester. Alles verloren, und selber wie übriggeblieben an einem Ort, der kein Zuhause war. Ein feiner Trommelwirbel setzte ein; er kam vom Blechdach einer Laterne, erneut begann es zu regnen. Ed hatte Angst um Kruso. Er presste den Ausweis gegen die Brust (Speiches Pullover), um ihn provisorisch zu trocknen. Die Tür des alten Trafos stand offen, aber der Turm war leer. Das Wolldeckenlabyrinth war verschwunden und die untere Etage vollständig einsehbar. Ringsum standen rostige Tonnen, mit stählernen Bändern an die Mauern gekettet, wie Sträflinge des Mittelalters. Ed rief nach Kruso. Nichts rührte sich. Für einen unsinnigen Moment der Gedanke, sein Gefährte könnte eingeschlossen sein in einem der Fässer — Jona auf dem Weg ins Meer. Er untersuchte die Fässer. Ihre Kennzeichnung war größtenteils abgerostet, nur Tannenbäume oder Totenköpfe, dazu schwarze und rote Reste von Schrift.»Nehmt mich und werft mich ins Meer.«
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