«Du hättest die Esskaas sehen müssen, wie sie an seinen Lippen hingen. All diese Leichen, Ed, es war, als würden sie vorübergleiten in der Finsternis, kostbar, wie lebendig oder heilig jedenfalls — das Arbeitszimmer Hauptmanns ein Aquarium voller Leichen und er an Hauptmanns Pult, das dunkel wie ein Riff aus dem Wasser ragte; es war das erste Mal, dass ich mir wünschte, ein Student gewesen zu sein, Student bei Dr. Rimbaud in Leipzig an der Pleiße.«
Trotz der allgemeinen Trägheit waren noch immer genug Wanderer unterwegs, um vor den Luken des Klausners eine passable Schlange zu bilden, jedenfalls zur Mittagszeit. Kruso sprang zwischen den Klappen hin und her, den Herzklappen der Freiheit, die immer wieder etwas zu weit auseinander lagen, um einen großen Organismus wie den Klausner ohne Stocken am Laufen zu halten. Auf Zuruf lieferte Ed seine Speisen. Um die Wege zu verkürzen, platzierte er sie griffbereit auf einem Abstelltisch im Rückraum der Eisluke — das war seine Idee gewesen. Zudem war er verantwortlich für die Kaffeemaschine, und manchmal gelang es ihm sogar, am Ausschank zu helfen, was seinem Gefährten (Kampfgefährten, dachte Ed) nicht immer recht zu sein schien.
Der Ferienbetrieb funktionierte, wenn sie auch wie gefangen waren hinter den Klappen, vor denen man sich bücken musste, um einen Blick nach draußen zu erhaschen, wofür selten Zeit blieb. In der Regel hatte man nur eine Stimme und die Kundschaft bis zur Brust. Ab und zu brach die Sonne durch, was die Touristen belebte.»Wenn det jelinkt, ick sach, mits Flitzen kommts zum Stehn. «Ohne Zweifel hatte der Mann über die Fluchten gesprochen und etwas, das sie verhindern, vielleicht sogar umkehren konnte, wie Kruso es vorhergesagt hatte. Das Wort» Dialog «machte die Runde, es ging um die» Bereitschaft zum Dialog«, was Ed als eine Art Aufforderung begriff. Er beugte sich zur Luke, schob das Bier hinaus und sah dem Mann ins Gesicht, der ihm zunickte, sich dann aber wegdrehte, um auf einem der Terrassen-stühle Platz zu nehmen. Niemand hat die Tische abgewischt, dachte Ed und nahm sich vor, das nachzuholen, am Abend — »Wenn det jelinkt«, flüsterte Ed.
Er bemerkte, dass Kruso an bestimmte Stimmen umsonst ausschenkte oder nur symbolische Beträge kassierte, zweifellos Leute, die er für schiffbrüchig hielt, in der Tat aber nur Schmarotzer waren, welche die Hilfsbereitschaft seines Freundes ausnutzten. Zeitweise entwickelte sich daraus eine kleine Anhängerschaft, die faul auf der Terrasse herumlungerte, bald jedoch damit begann, Forderungen zu stellen, und sich unzufrieden zeigte» mit der Bedienung«. Ein paar Tage später waren sie wieder verschwunden.
Die Ferienwoche zehrte an ihrer Kraft. Der endlose Durst und der endlose Hunger der Touristen und ihr Gerede, eine allgemeine Unzufriedenheit, ein Aufruhr, der sich übertrug und durch die Luken in den Klausner schwappte. Am letzten Ferientag, mitten in der Stoßzeit, verlor Kruso plötzlich die Nerven. Er verließ seinen Posten, brüllte und stürmte ins Freie. Durch die offene Vordertür drangen Gäste herein.
Erst als ein fremder Mann neben ihm in der Küche auftauchte und nach einer seiner Bouletten griff, hatte Ed es bemerkt. Im Reflex hatte er sich blitzschnell um die eigene Achse gedreht und den Mann fast erstochen mit seinem Messer, der hysterisch aufschrie,»keine Gewalt!«. In Folge kostete es Ed große Mühe, die Menschen, die ungläubig auf den mit Speiseresten und sonstigem Unrat übersäten Fußboden starrten, aus der Schankstube zu treiben. Die Gäste schienen viel selbstbewusster als noch im Sommer, widerspenstig geradezu und kaum einzuschüchtern. Obwohl die Tische im Rückraum der Luken voller Gläser und Stapel verschmutzter Teller standen, hatten einige von ihnen sofort Platz genommen und die Hand gehoben, um irgendeine Bestellung aufzugeben oder das Wort zu ergreifen. Tatsächlich glich das Ganze einer spontanen Versammlung, auf der Forderungen vorgetragen werden sollten und Kritik, die schon zu lange hatte unausgesprochen bleiben müssen, aber hier war der Ort, und jetzt war die Zeit. Ein wirres Gerede über Botschaften und Flüchtlingszüge füllte den Raum; einige hatten damit begonnen, sich am Tresen zu bedienen. Eds Stimme, die sich bald überschlug: Er kommandierte, drohte und gestikulierte mit ausgebreiteten Armen, in der Hand noch immer das Messer, das er gelegentlich kreuz und quer durch die Luft zog, wie eine Machete im Unterholz. Er spürte, wie er über sich hinauswuchs dabei. Noch auf der Schwelle nach draußen, er hatte die Tür schon in der Hand, drehte sich ein älterer Mann nach Ed um und stellte sich ihm entgegen. Dabei kam er Ed so nah, dass es unmöglich war, seinem Protest aus Sprache und Spucke auszuweichen:»Du kannst auch gleich zurücktreten, Kleiner, überhaupt sollten hier endlich alle zurücktreten, in deinem beschissenen Gefängnis …«
Ed war restlos erschöpft, aber schwerer wog das Gefühl der Kränkung. Am Tresen wusch er sein Gesicht. Irgendwann am Abend tauchte Kruso wieder auf, ohne Erklärung und ohne ein Wort der Anerkennung. Er hatte ein großes Bierglas (Typ Butzenglas) in der Hand, das er ansatzlos nach Viola schleuderte, die augenblicklich verstummte. Das Glas fiel nicht zu Boden, weil die braune, fettverkrustete Bespannung des Radios zerriss und Viola es ganz in sich aufnahm. Eine ungute Stille trat ein.
Auch wenn die Terrasse seit Tagen nur spärlich besucht war und etwas Ruhe hätte einziehen können in ihre Wirtschaft, eilte Kruso zwischen den Luken hin und her. Er ging mit jenen steifen, auf die Dielen gehämmerten Schritten, wie sie Cavallo bisweilen zur Einschüchterung seiner Gäste benutzt hatte. Tatsächlich war es eine Art Marschieren. Als handele es sich um die wichtigste Planke ihres Schiffes, schrubbte Kruso das Abstellbrett vor der Getränkeklappe. Dann polierte er ein paar Gläser am Tresen, spülte sie nochmals und polierte sie erneut. Danach war er wieder an der Eisklappe zu sehen, bekleidet mit dem weißen, fleckigen Kittel, den René zuletzt getragen hatte. Mit dem Eislöffel schepperte er gegen die Wandung des alten Aluminiumkübels unterhalb der Luke, ein schmaler stumpfer Eimer, der längst kein Eis mehr enthielt und aus dem ein schimmliger Geruch aufstieg, den das Klopfen verstärkte.
Ed hatte in der Küche zu tun. Eine Arbeit für Tage, in denen er das Chaos aus Töpfen, Geschirr, Besteck und Essensresten bereinigen würde, alles, was notgedrungen liegengeblieben war. Die Arbeit tat ihm gut. Und auch die Geräusche, auf irgendeine Weise. Jedenfalls war das vage Tätigsein draußen an den Klappen besser als das Schweigen Violas. Neuerdings dachte er öfter so: Ich bin der falschen Fährte gefolgt. Mein Leben ist auf die falsche Bahn geraten, als ich den Bau und meine Brigade verlassen und mich um ein Studium beworben habe. Erst der Klausner, erst die Arbeit hier hat mich wieder zurückgebracht … Mit Kraft stemmte er einen Stahlkessel in die Luft und hieb kräftig gegen seinen Boden, so lange, bis sich ein halbrundes Stück Kohle löste und in das leere Becken fiel. Ein schwarzer, silbrig glänzender Mond, der am Grund des Kessels verglüht war. Mit seinem Zeigefinger zerdrückte Ed das Gestirn zu kleinen Kohlestücken, die er neu zusammenschob, so lange, bis sie die Buchstaben J und A ergaben: JA.
Das schwarze Band
René war zurückgekehrt. Ed erwachte und hörte die Stimme, überdeutlich, sein näselndes, hochmütiges Sprechen,»was darfs denn sein junge Frau«, und noch bevor Ed begriffen hatte, sah er den Eisverkäufer, wie er Witze riss (politische Witze) und selbst darüber kichern musste, und er sah, wie beim Lachen die Billardkugeln aus den dunklen fauligen Löchern stürzten, eine nach der anderen, in den Kübel oder gleich auf die Kelle,»fünfzehn Pfennig bitte«.
Leise schlich Ed die Treppe hinunter, überall brannte Licht. Er nahm den Weg durch den Abwasch und die Küche, vor der Schwingtür zum Gastraum hielt er inne und spähte durch den Spalt zwischen ihren Flügeln: Er sah Kruso, wie er hektisch den Eiskittel abwarf, er kicherte dabei. Dann änderte sich sein Ausdruck, er wurde ernst. Rasch trat er an die Registrierkasse heran und hob seinen Kopf.»Ruhm, wann kommst du?«Dann legte er den Zeigefinger auf die Oberlippe, als müsse er nachdenken, und rief etwas zum Schachtisch hin:»d5 auf d6!«Das Spiel war aufgebaut. Noch einmal kicherte Kruso (das weibische Kichern Renés hatte es ihm angetan, obwohl er zweifellos Rimbaud verkörperte in diesem Moment) und hämmerte mit ausgestreckten Zeigefingern irgendeinen phantastischen Betrag in die Kasse, fünfzehn- oder zwanzigstellig, als würde er Maschine schreiben, eines seiner eigenen magischen Gedichte vielleicht, und tatsächlich, für einen Augenblick erstarrte er zu einer Wachsfigur seiner selbst — offensichtlich war es nicht leicht, Kruso zu sein. Rasch trat er einen Halbschritt von der Kasse zurück und ließ ein kleines Wiehern vernehmen. Er galoppierte zum Tresen, mixte ein Glas Kirsch-Kali und nahm am Schachtisch Platz, auf Cavallos Seite.»Perché questo silenzio?«, murmelte der Darsteller Cavallos leise, machte seinen Zug und trank. Eine Sekunde später erhob sich Kruso feierlich und vollführte mit der Hand eine behütende Geste über dem Schachtisch, die einer Segnung glich oder so viel heißen konnte wie» Viel Glück «oder» Bleibt Freunde für immer!«Etwas Vergleichbares hatte in Wirklichkeit niemals jemand getan von ihnen, und so war es wohl eine Geste des Erzählers in Krusos Stück vom alten Klausner. Der Erzähler bewegte sich auch viel langsamer als die Figuren, er benötigte viel mehr Zeit. Wie in Zeitlupe ging er rückwärts zum Tresen, drehte sich um und streichelte den Zapfhahn — irgendeine Überbrückung, ein ungeschickter Einschub vielleicht.»Das Fass schon wieder alle, tss-tss-tss. «Kruso hatte versucht, den allseits verhassten Satz mit der weichen, ruhigen Stimme Ricks auszusprechen, aber er war jetzt nicht mehr ruhig, eher unzufrieden, irgendetwas stimmte nicht. Aus dem Streicheln wurde etwas Heftigeres, eine Art Melken, aber der Hahn blieb trocken. Mit der flachen Hand schlug Rick-Kruso auf den Tresen, die Gläser klirrten. Unwillig bückte er sich, riss die Klappe zum Keller auf und verschwand, die schwere Treppe (»Führerbeton!«) nach unten. Bald tönte ein Wortwechsel herauf und ein sanftes Fluchen: Der saumäßige Keller, die Nässe, der Schlamm, auf dem man jederzeit ausrutschen und sich den Schädel aufschlagen könne und dann:»Eeelenndiiger, eeelenndiiiger Dreck!«Wahrscheinlich ging es um das Anstechen des Fasses und die üblichen Schwierigkeiten. Nur Rick war dazu in der Lage, aber er brauchte seinen Assistenten, jemand, der die Schraube mit der Dichtung am Spundloch festzog, während er den Salonstocher anschlug, und also rief Rick-Kruso jetzt nach Ed. Ed-Kruso antwortete ihm:»Ich komme. Komme sofort!«Ed-Ed stand nur da und atmete kaum. Für einige Sekunden wartete er noch auf das Erscheinen seiner selbst, dann schlich er lautlos zurück in sein Zimmer.
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