Vom Einkauf zurück, ging Ed in die Küche und packte den Rucksack aus. Aus dem Abwasch tönte eine Stimme, die ihm vertraut vorkam (seine eigene). Er räumte den Kühlschrank ein, und schon wenig später wusste er nicht mehr, ob er das Ganze wirklich gehört oder nur geträumt hatte. Er ging in die Gaststube, um ein paar alte Schnapsgläser einzusammeln. Eigentlich war alles getan und auch sonst nirgendwo ernsthafte Arbeit, aber Ed blieb am Tresen und begann, lange nicht benutzte Gläser aus dem obersten Regalfach zu räumen und durchzuspülen.
Wir zwei beide, summte Ed — er wollte nachdenken, über die nächsten Schritte, seine Verantwortung für Kruso und die Gaststätte, aber sein Kopf war leer. Erst die Abschiede, dann die Notbesatzung, dann» zwei Mann, zwei Klappen«. Er schaute hinaus auf die leere Terrasse und rahmte sich selbst ein, mit einem umgekehrten Blick durch das Fenster auf den Tresen. Hier wartest du so lange und rührst dich nicht weg. Sonjas Worte, bevor sie hinausgeschwommen war und sich in ein grünes Licht verwandelt hatte.
Nach einer Weile hörte er das Scheppern von Töpfen aus der Küche und etwas wie das Schnaufen Koch-Mikes, und wie zur Antwort ließ Ed ein wenig seine Gläser klirren: Koch-Mike-Kruso und Ed-Ed. Gemeinsam ahmten sie den Klausner nach, letzte Hoffnung aller Freiheitssucher dieses Landes, ja, inzwischen vertraten sie das ganze alte Leben, hier oben auf der Küste, wo niemand mehr hinkam in diesem Herbst. Ein Glas nach dem anderen zog Ed durchs Wasser, während Kruso bereits hinter ihm stand und seinen Kopf zu ihm hin beugte, als könne er seine Gedanken riechen.
«Bist du vorbereitet, Ed?«Ed erschrak. Fast hätte er das Glas fallen lassen.
«Vorbereitet?«
«Auf die Vergabe, heute Abend?«
Letzte Vergabe
Schon am Nachmittag wurde es dunkel. Ed blickte nach draußen, konnte aber nichts erkennen und schaltete die Terrassenbeleuchtung ein. Wie geblendet hob Kruso die Hand, vielleicht hatte er ihm auch gewunken. Auf den ersten Blick sah es so aus, als wäre sein Schädel verkabelt. Im Regen hatte sich das lange Haar zu seltsamen Verstrebungen verdickt, die den hoch erhobenen Kopf zu stützen schienen. Die obere Schädelhälfte glänzte wie golden unter dem Licht der Stahllaternen, die den Biergarten bewachten.
«Sieht so aus, als käme heute niemand mehr.«
Ed fühlte seine Pflicht, aber auch, dass es galt, Rücksicht zu üben. Sein Freund schien unberührbar. Nah und unberührbar. Für einen winzigen Moment (zu kurz, um die Dinge wirklich zu begreifen) erkannte Ed, dass es immer so gewesen sein musste. Kruso war wie er selbst, und nur so konnten sie zusammen sein, auf diese Weise, nah, aber jeder für sich, gefangen in den Kapseln ihres einsamen, chaotischen Daseins, für die eine seltene Konstellation des Schicksals oder ein alles beherrschendes Kosmodrom parallele Bahnen ausgegeben hatte.
Drei Gläser standen auf dem Tisch, schon halb mit Regenwasser gefüllt. Kruso saß sehr gerade, ein Heiliger, dachte Ed, der seinem Stammplatz in der Ewigkeit entgegensah. Mit der Rechten hielt er die Weinflasche umschlossen, die Linke ruhte in seinem Schoß, und über allem der Regen, so fein, dass man sein Fallen nicht spürte, aber die Luft war voll davon, ein kalter Regen, der im Licht der Laternen zu dichtem Nebel gerann.
«Vielleicht besser, jetzt reinzugehen, oder?«
«Ja, bitte, warte doch drinnen auf mich, Ed.«
«Wir können die Terrasse auch vom Schachtisch aus im Auge behalten.«
«Wenn niemand da ist, kommt auch niemand.«
«Es ist Anfang November, Losch.«
«Du kennst den Herbst nicht. Du warst nie hier im Herbst. Die Vergaben sind anders im Herbst. Der Herbst ist anders.«
«Wir könnten das Licht eingeschaltet lassen. Wir stellen Koch-Mikes Sternrecorder in der Eisluke auf. Das hörst du auf der ganzen Insel.«
Langsam redete sich Ed in seine neue Rolle hinein. Jetzt war er es, der Verantwortung übernehmen musste. Für einen Moment hatte er das Bedürfnis, Krusos großen nassen Schädel an sich zu pressen und zu wiegen wie ein Kind, das sich wehgetan hat, so lange zu wiegen, bis es getröstet war, bis ihm die Augen zufallen würden, alles wieder gut .
«Ja, Ed, ja. Nur den Moment. Du gehst vor, und ich komme nach, sicherheitshalber.«
Ed verstand, dass mehr nicht zu erreichen war. Ein von den Gästen vergessener Schirm fiel ihm ein, aber das schien undenkbar. Ein Schirm war absurd. Nach einer Weile trat er abermals hinaus in den Regen und legte Kruso seine Kutte um die Schultern, vorsichtig und ohne ein Wort. Es war, als komplettiere er ein kostbares Bild, ja, vielleicht bestand darin seine eigentliche Aufgabe an Krusos Seite.
Der Umhang machte den durchnässten Mann auf der Terrasse augenblicklich zu einer Art verlassenem Heerführer, einem General ohne Truppe. Ein Held, der zu frieren begann. Obwohl Ed voller Sorge war (eine stetig wachsende Sorge seit dem Tag, da Mona und Cavallo sie verlassen und der Exodos begonnen hatte), spürte er eine Art Zufriedenheit oder Genugtuung in diesem Moment. Alles, was er tat, geschah im Sinne dieser Geschichte, als sei er allein verantwortlich dafür, dass sie irgendwann einmal erzählt werden konnte.
Wenn Rebhuhn den Kopf hob, begann das Licht der Wüstensonne im Metallgestell seiner Brille zu fließen, ein Schillern in allen Farben des Regenbogens. Die Beduinen schleiften ihr Kamel auf ein rohes rostiges Metallgestell; Rebhuhn war ihr Spielführer. Die Aufgabe des Spielführers bestand vor allem darin, den durch zwei bis drei Mitspieler möglichst tief und straff zwischen die Stützen des Gestells gezerrten Hals des Kamels anzuschneiden. Das Anschneiden war eine Kunst und galt als Privileg. Rebhuhn, der alles erklärte: das Messer soundso, die Haut soundso, dann der Schnitt, wie ein Blitz. Im Kern gehe es darum, im Körper des Kamels eine krampfartige Anspannung auszulösen, eine Kontraktion, erläuterte Rebhuhn, hart und andauernd genug für eine feste, ebene Spielfläche. Rebhuhn beugte sich unter das Gestell, die Beduinen gingen in die Knie. Alle trugen Billardstöcke.
Märchen des Lebens
Am Morgen war Kruso verschwunden. Getrieben von Schuldgefühlen, durchstreifte Ed den Dornbusch, kehrte aber immer wieder zum Klausner zurück, in der Hoffnung, seinen Gefährten dort vorzufinden. Weil er zu hastig ging, federte ihm ein Ast ins Gesicht; eine namenlose Wut stieg in ihm auf, die sofort in Hilflosigkeit umschlug.
Der geweihte Schlafplatz war mit Blättern bedeckt, und die Umrisse der Mulde waren kaum noch zu erkennen. Darunter lagen die Mumien in ihren Schlafsäcken, Schiffbrüchige, vergessene Freiheitssucher, Schwarzschläfer, die sich schwarz geschlafen hatten, begraben im Laub — Ed wurde übel bei diesem Gedanken, und er stapfte rasch weiter.
Die Honigbibliothek war nahezu vollständig vertilgt. Der gesamte Lesestoff hatte sich verwandelt in ein braun schimmerndes Gewimmel aus Ameisen, Asseln und Kakerlaken. Nur ein paar Leineneinbände, die sich aufrecht hielten, wie verwest und verbogen. Eine Wand verkohlter Waben. Ein riesiges ausgebranntes Puppenhaus. Eine Weile beobachtete Ed das rasche, scheinbar planlose Hin und Her der neuen Rezipienten, die sich in einen Rausch von Zucker und Zellulose hineingefressen hatten. Er trat näher und erkannte die Reste einiger Titel von Anton Kuh und Peter Altenberg, Fechsung, Nachfechsung und Märchen des Lebens . Eine einzige einzelne Seite hing heraus, als wollte sie ihm die Hand reichen. Artaud war sauber ausgenagt.
Ed musste sich beruhigen; er war ja nicht vollkommen allein auf der Welt. Er nahm das Fahrrad und fuhr hinunter in den Ort. Den Klausner ließ er unverschlossen, was nicht störte, alles fühlte sich jetzt anders an. Über dem Eingang zum Pfarrhaus hing ein Plakat mit den Worten» Die Reformation geht weiter«. Ed hielt an und las den Aushang im Schaukasten der Gemeinde. In einem» Offenen Brief «forderten die Insulaner einen» Prozess der Erneuerung«. Die Unterzeichner des Briefs protestierten gegen Verwahrlosung, Vermüllung und Zersiedlung der Insel.
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