Eine weitere Stunde durch Schneefall und Dunkelheit. Der Fluss war jetzt links, er dröhnte, der Asphalt war mittlerweile weiß geworden. Es ging nur mehr im Schneckentempo vorwärts, aber wenn du anhältst, schneist du ein, und das war's dann. Stell dir lieber nicht vor, wie es bei Tageslicht wäre, auch nicht viel anders, höchstens, dass man mal einen Ausblick auf den Fluss hätte, wie viel Wasser, welche Farbe, was schwimmt alles mit. Einmal ging eine Brücke links ab, eine schmale Brücke, unvorstellbar wohin, ins Nichts. Immerhin war soviel zu sehen, dass das Wasser nicht bis zur Brücke hochreichte. Und dann, hinter einer Kurve, tauchte das große, helle Haus auf.
So groß und hell wie aus einem Märchen, einem Traum. Ein neues, weißes Gebäue, weißer als der Schnee, gelb erleuchtete Fenster und eine rote Leuchtschrift: Sauna. Kaum hatte er sie erblickt, wurde auch schlagartig die Straße besser, auch das wie in einem Märchen, das letzte Stück wird dir leicht gemacht, etwas lockt dich und du lässt dich, du bist nicht in der Position, dich nicht locken zu lassen. Kopp fuhr direkt vor die zweiflügelige Eingangstür. Sie ging sofort auf und ein Page kam heraus, als hätte man nur auf ihn gewartet.
Nicht direkt auf ihn, sondern offenbar auf jemanden mit dem Namen Nazar.
Auf Armenisch:…? Auf Russisch: Sind Sie Nazar Soundso? I am sorry, sagte Darius Kopp.
Er ist es nicht, wird vom Rezeptionisten durch eine offene Tür nach hinten gegeben, an jemanden, der nicht zu sehen ist. Und zu Kopp: Was können wir für Sie tun? Sie wollen ein Zimmer?
Ja, wenn Sie eins haben.
Für eine Nacht?
I think so.
Eine Person?
Ja.
Sind Sie mit dem Auto da?
Ja. (Sie können es von hier aus sehen.)
Wir parken Ihren Wagen. Haben Sie Gepäck?
Er holte es selbst.
Wollen Sie in die Sauna gehen?
Ja, sagte Darius Kopp, dessen Augen vor Dunkelheit, Helligkeit, Kälte, Wärme und Trockenheit schmerzten. Oh ja. Aber gibt es vielleicht auch etwas zu essen? (Das kalte Sandwich auf dem Beifahrersitz. Dort bleibt es auch, bis er es, am nächsten Tag, wegwerfen wird.)
In der Saunabar gibt es ein Buffet. Essen und Trinken sind im Eintrittspreis inklusive, Massagen kosten extra.
Excellent, sagte Darius Kopp.
Die Saunabar war schön wie Weihnachten, die Flüssigkeiten in den Flaschen glänzten in allen Farben der Christbaumkugeln, das Buffet lagerte gleich daneben. Üppig dahingegossen auf einem purpurnen Tisch öffneten Obstsorten unbekannten Namens ihre Mitten. Über das Fleisch hingegen war schon hergefallen worden, die Teller waren größtenteils angegessen, aber es war immer noch genug da, um sich durch den Breiberg fressen zu können. Die nächste halbe Stunde war Darius Kopp in einem Tunnel. Spieße und Köfte, gefüllte Paprikaschoten und Börek, Gulaschartiges und Kebab, Tomaten, Koriander, Kreuzkümmel, Pfeffer, Senf und Sesam. Okraschoten, Bohnen, Kartoffeln, Auberginen, Bulgur, scharfer Käse und milder Käse und Käsebällchen, die sie vergessen hatten, rechtzeitig aufzutauen, so dass sie immer noch so kalt waren, als wären sie aus Schnee gemacht. Egal. Nach 8 Stunden im Schneesturm nur mit einem Hüfttuch bekleidet bin ich bereit, jeden um seinen Reichtum zu fressen. Kreisrundes Brot, salzige Oliven, scharfe Würstchen, gefüllte Weinblätter, Kichererbsenpaste und Mandeln, geschmorter Kürbis, Rosinen, Aprikosen, Äpfel und Zimt. Jemand hier kocht noch besser als Dawit aus Tbilisi. Ein Moment des Glücks. Do you like the food?
Mann an der Bartheke, ungefähr von Kopps Statur, nur dunkel. Bisher nur als Schemen wahrgenommen, ebenso wie die anderen, denn es gab da noch andere, verteilt im Raum, in unvermeidlichen ledernen Sitzecken, immer zwei Sofas und zwei Sessel, beleuchtet von unvermeidlichem Stimmungslicht und einem (hier: elektrischen) Kamin: wohl genährte Männer in Hüfttüchern und schlanke Frauen in Bikinis, die bei diskreter Saxophonmusik an langen Gläsern nippten.
Darius Kopp lächelte und bejahte aufrichtig. I really do.
Good armenian food.
Yes, sagte Darius Kopp und wischte sich mit einer sonnengelben Serviette den Schweiß von der Stirn. Das gute Essen und die Hitze. Die gute Hitze einer Saunabar nach einem langen Tag mit Autoheizung.
Where areyou from?… Ah, Germany. Und wo kommst du jetzt gerade her? Aus dem Sturm, ja das glaube ich. Aus dem Sturm. Das ist wirklich funny, wenn auch nur a little bit. Meine Kollegen… das sind meine Mitarbeiter und Geschäftspartner, ich habe sie heute hierher eingeladen, aber das Wetter! Nur 12 sind hier, ich habe 20 eingeladen, nur 12 haben es geschafft und 6 Models. Sie haben mir die Garantie auf mindestens 10 Models gegeben, normalerweise sind 20 oder mehr da, aber heute nur 6. Sie haben es nicht geschafft.
6 Mädchen und 12 Männer, das geht zwar auch irgendwie, aber ich sorge mich um Nazar. Mein engster Mitarbeiter. Er ist irgendwo unterwegs verloren gegangen. Er ist losgefahren, das ist sicher, mit noch zwei anderen im Auto, sie waren hinter uns, aber dann waren sie irgendwann nicht mehr hinter uns, und er geht nicht ans Telefon. Ich mache mir Sorgen. Was meinst du, ob sie in die Schlucht gestürzt sind? In den Fluss, das ist nicht ausgeschlossen. Bei dem Schnee. Kannst du dir das vorstellen? Ich habe meine besten Mitarbeiter und Geschäftspartner eingeladen und jetzt sind vielleicht drei von denen tot. Ich fühle mich verantwortlich, auch wenn es ein Unfall war.
Aber, sagte Darius Kopp, während er sich nun endlich richtig umsah. Noch einmal: Männer in Hüfttüchern, Frauen in Bikinis, im Verhältnis 2 zu 1, in Sofaecken, an einem Billardtisch, vermutlich auch im Whirlpool, das kann man von hier aus nicht gut sehen, er ist hinter der Treppe untergebracht, und auf der Treppe gehen zwei zu einer oberen Ebene hinauf, ein Mann und eine Frau, die Frau trägt goldene Highheels zu ihrem türkisfarbenen Bikini, ihre Haut weißer als weiß.
Aber, sagte Darius Kopp, es ist doch gar nicht sicher. Sicher ist es nicht, sagte der andere trübsinnig. Übrigens: ich bin Arslan.
Beide mussten sich strecken, damit sie sich über die Theke hinweg die Hand geben konnten. Auch unsere Hände sind gleich, außer, dass meine blond behaart sind. Der Mann namens Arslan trug ein schweres Schmuckstück um den bulligen Hals, eine goldene Schlange um einen grünen Stein, das Lederband, an dem sie hängen, war schon etwas speckig. Dieses plötzliche Wahrnehmen der Speckigkeit führt dazu, dass du nun auch alles andere in großer Deutlichkeit siehst. Woraus alles gemacht ist. Die weißgelben Kunstmarmorplatten, mit denen der Boden ausgelegt ist. Die graphitfarbenen Fugen dazwischen. Die gelborange Ölfarbe der Wände. Der mal Holz, mal Glas mimende Kunststoff der Wandleuchten. Die Bläschen im Glas der Teelichthalter, die Nahtstellen zwischen den Spiegelpaneelen an der Rückwand der Bar, die schwarzsilberne Unebenheit in der Linie, dort, wo winzige Teile der Beschichtung abgeplatzt sind. Das Chrom der Fußstütze und der Stuhlbeine, das Kunstleder der Sitzflächen. Die Färbung des Kunstleders, die Narbung des Kunstleders, die Festigkeit des Kunstleders (ich persönlich ziehe es samtähnlichem Plüsch, ob rot oder nicht rot, dennoch jeder Zeit vor). Schließlich erkannte Kopp auch, was das von seiner Position aus etwas verdeckte Ölgemälde an der Wand des Billardraums darstellte: eine blonde Frau, die auf dem Rücken eines Stiers reitet, oder nein, sie liegt auf ihm, wie auf einer Chaiselongue, die Füße am höchsten, der Kopf am tiefsten Punkt, ihre Brüste stehen wie zwei Gugelhupfe.
Do you like it?
Pardon?
Meinen Schmuck. Gefällt er dir?
Ja, sagte Darius Kopp. Er ist beeindruckend.
Ich stelle ihn her. So was. Und so was, zum Beispiel.
Der Alpha (Arslan. Alpha. In Wahrheit nenne ich ihn bei mir so) zeigte auf das Mädchen, das auf dem Barhocker neben ihm saß. Als Einzige trug sie keinen Bikini, sondern ein schwarzes Trikotkleid und ein steinbesetztes Diadem im dunklen Haar. Der Alpha zeigte auf das Diadem.
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