Entspann dich, sagte der Alte. Wir fangen noch so 3–4, dann holt uns… (Kopp verstand: Othello, aber wahrscheinlich war's Attila; einer der Neffen) ab.
Am Ende wurden es, siehe oben, 27, und es endete wieder in einem Gelage mit allen Brüdern, Schwägerinnen, Neffen, Nachbarn und Freunden, und wieder waren Adessa und der Junge Dawit nicht dabei, dass das keinem auffällt, oder es fällt allen auf, sie reden nur nicht darüber, aber kochen kann der Alte wirklich, die Fische sind eine Sensation, Darius Kopp konnte nicht anders, er stopfte sich alleine 2 ganze und einen halben in den Rachen. Dazu trank er ungezählte Mengen an Schnaps, er hielt sich nicht mehr zurück, einmal wenigstens tue ich ihnen den Gefallen und werde so betrunken, wie sie mich schon die ganze Zeit gerne haben würden, und morgen, spätestens übermorgen bin ich weg.
Er lobte, wie es sich gehört, das Essen, den ghvino , die Schönheit des Landes und die Gastfreundschaft, und alle jubelten ihm zu. (Und ich schaute nur, ob ich nicht ein Gesicht finden kann, ein einziges, das nicht so verdammt froh wäre. Da erblickte er doch noch den jungen Dawit, der nur leise lächelte und zu ihm zurückschaute. Als verstünde er mich. Danke.)
An das Ende des Supra konnte er sich später nicht mehr erinnern. Ihm war, als wäre später auch Adessa noch gekommen, habe aber an einem unerreichbar weiten Ende des Tisches gesessen, aber ob das stimmte, ist fragwürdig, da er zeitweise auch die verführerische bayerische Zwillingsschwester zwischen den Gästen sitzen sah, und das war wohl eher unwahrscheinlich.
Als das wieder möglich war, am folgenden Nachmittag, sammelte er seine Hemden vom Dachboden ein. Durch ein kleines Dachfenster sah er auf mittlerweile lauter bekannte Dinge. Der Bäcker, der Fleischer, der Gemüsehändler, zu denen Kopp eines Vormittags den Alten zum Einkaufen begleitet hatte. Die Dachplane auf dem halb fertigen Anbau von Demetres ältestem Sohn. Und das märchenhafte kleine Häuschen, das er im Vorbeigehen schon öfter bewundert hatte, so eins mit Rosen und Weinlaube, Doiv wäre begeistert. In Auling hauste ich zuletzt auch unter dem Dach. Meine Hemden nahmen den Geruch der Holztäfelung an.
Adessa soll dir die Hemden bügeln! Nicht nötig.
Dann mache ich es persönlich!
Nein, Dawit, danke. Ich trage sie gerne zerknittert. Aber kommst du mit und dolmetschst für mich in der Werkstatt? Du willst schon gehen? Gefällt's dir nicht bei uns? Doch, aber…
Aber was man noch alles machen, schauen, tun und essen könnte, die Berge stehen morgen auch noch da und morgen ist auch Adessa wieder blablabla. Bis endlich der Alte abwinkte, als könnte er sich selbst nicht mehr reden hören: Äch! Egal. Pass auf.
Ich muss dir etwas sagen. Es ist ein Malheur passiert. Aber es wird auch schon repariert. Kostet dich nichts. Das ist Ehrensache. Sie haben beim Putzen einen Riss in die Scheibe gemacht, aber es ist alles schon erledigt, das wird schon gemacht, sie haben es umgelegt in eine größere Werkstatt, das die Scheibe machen kann, es ist alles in Ordnung. Ehrenwort.
Verstehe, sagt Darius Kopp.
Der Germaneli ist nervös, weil sein Auto einen kleinen Schaden hat, dafür hat ein jeder Verständnis, man weiß, wie so etwas ist, natürlich fahren sie ihn hin, damit er es sehen kann. Da, siehst du, da ist es.
Der Riss ist nicht sehr groß, eigentlich winzig, eigentlich könnte man damit sogar weiterfahren.
Aber nein, warum denn, es ist ja praktisch schon fertig. Morgen ganz sicher.
Natürlich. Und wann morgen?…?
Vormittag oder Nachmittag? Nachmittag.
Früher oder später Nachmittag?…?
2 Uhr oder 5 Uhr?
4 Uhr, sagte mit Freundlichkeit der Automechaniker.
Komm, sagte der Alte Dawit, vom Platz der Revolution kann man den Kasbek sehen.
In Wahrheit scheint er ratlos zu sein, was er noch mit mir machen soll. 7 Tage sind für einen Gast zu viel, für ein Familienmitglied zu wenig. Also warten wir, bis auf Weiteres, auf den Bus. Ewigkeiten, bis er endlich kommt, dann fährt man Ewigkeiten, dann ruft der Alte plötzlich: Hopp, ich seh da jemanden! Lass uns aussteigen.
Einen anderen alten Mann, der scheinbar (ebenfalls) ratlos auf dem Gehsteig steht. Aber er ist nicht ratlos, er wartet auf jemanden, der es offenbar vergessen hat, dass sie sich treffen wollten. Es ist doch immer dasselbe. Er ist noch unentschlossen, wie sehr er verärgert sein soll. Zum Trost wird ihm Darius Kopp vorgestellt. Der andere Alte heißt auch Dawit, aber er, weil er Jude ist. Er spricht auch deutsch. Rate mal, wo gelernt. Nicht, was du denkst. In der Schule. Ich bin in dieselbe Schule gegangen, aber ich habe es nicht dort gelernt. Wir haben uns 100 Jahre nicht gesehen, und dann haben wir uns wiedergesehen. Kein Witz. Zusammen haben wir 100 Jahre gelebt, bevor wir uns wiedergesehen haben.
Guten Tag, sagt der andere Dawit. Hast du die Synagoge schon gesehen? Sie haben sie jetzt renoviert, wo wir nur noch 3000 sind. Mit dem Ende der Sowjetunion sind alle weg. Wir waren 100 000, jetzt sind wir 3000. Kannst du dir das vorstellen?
Ich bin ein Heide der Liebe, trällerte der Alte Dawit, und trank schon seinen zweiten Wein. Ich werde betrunken werden, sagte er, das lässt sich leider nicht mehr verhindern. Geh du doch mit ihm, sagte er zum Anderen Dawit, zeig ihm die Synagoge. Er hat sie noch nicht gesehen.
Aber der Andere Dawit verzog sich mit einer Ausrede — Muss noch einkaufen… — und plötzlich stand Kopp alleine da, irgendwo an der Linie des Busses Nummer 33. Der Alte Dawit war mittlerweile in ein Gespräch mit anderen Männern vertieft, denen werde ich nicht mehr vorgestellt. Mein Vater ist mit mir losgegangen in die Stadt, aber er kam an der ersten Kneipe nicht vorbei, und nun habe ich die Wahl, auf der Schwelle auf ihn zu warten oder alleine zurechtzukommen. Ohne jegliche Orientierung, denn sein Handy hatte Kopp zum Aufladen im Kalten Palast gelassen. Die Bushaltestelle ist in Sichtweite, immerhin. Man könnte versuchen zurückzufinden. Oder weiterfahren (mutmaßlich) in die Stadtmitte. Die Autowerkstatt suchen und solange sitzen bleiben, bis sie endlich fertig sind. Hier erfasste ihn ein starkes Verlangen nach einem Glas Rotwein — keine Woche, und dein Körper hat gelernt, was der hier geeignete Weg der Anpassung wäre. Die richtige Droge, das ist alles, was du brauchst… Da stand plötzlich Adessa vor ihm und sagte: Wollen Sie vielleicht einen Chatschapuri mit mir essen?
Was ist ein Chatschaputi?
Wie eine Vier-Käse-Pizza, nur besser.
Sie war fröhlich und gesprächig, wie Kopp sie noch nicht gesehen hatte, ging fast hüpfend vor ihm her, wies ihm den Weg ins Restaurant.
Auf dem Land isst man das schon zum Frühstück. Mit Knoblauch. Die Busse riechen danach. Mein Onkel Temur, der Bäcker, kann auch einen guten Chatschapuri machen. Leider ist er meistens zu faul dazu, und wenn es dann meine Tante macht, bemerkt er jedes Mal, wie er es gemacht hätte, und stopft sich voll dabei.
Sie lachte. Sie aß mit gutem Appetit, schaffte aber auch so nicht mehr als einen Teil von sechs. Wischte sich die Finger mit der Serviette. Einzeln, gründlich, dennoch blieben sie fettglänzend. Kleine, wie Kopp nun sah, sehr gepflegte Nägel. Eine heimlich Schöne. Alles an ihr ist anmutig, die Handbewegungen, die Schultern, der Hals, der aus dem Hemdkragen ragte. Im Hemd sah sie vollkommen flachbrüstig aus, dennoch strahlte sie Weiblichkeit aus. Was hat dich so fröhlich gemacht?
Sie bemerkte, dass er sie ansah, sie lächelte. Ihre Lippen sind voll und auch ohne Lippenstift von der Farbe der Brombeere. Hattest du eine gute Zeit mit meinem Vater? Ja, sagte Darius Kopp höflich. Er ist ein netter Mann. Redet ein bisschen viel, oder?
Ein bisschen, sagte Darius Kopp, damit sie beide lachen konnten.
Für uns ist das nicht immer angenehm. Als wären wir auf dem Markt. Er hat die fixe Idee, dass, wenn man heiratet, alles gut wird. Dabei ist doch schon alles gut. Komm, sagte sie. Wir schauen, ob der Kasbek da ist.
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