Und du? Hast du eine Frau?
Er ist Witwer, wie ich.
Kinder?
Nein.
Alle sind sich einig, dass das für den Moment auch besser so ist, in der Zukunft allerdings solltest du dir welche anschaffen, denn ohne Kinder bist du nichts. Such dir eine neue Frau, das ist die Lösung, glaube uns. Auch wenn es keine guten Ehen gibt, keine, die von Anfang bis Ende gut wäre, es ist trotzdem das Beste für dich. Ein Mann braucht eine Arbeit und eine Familie, denn, wie schon unsere Mutter sagte, Junggesellen landen auf dem Müll. Von den 8 Cousins sind 7 noch nicht einmal verlobt. Eine Katastrophe. Sie sitzen in einem eigenen Kreis vor einem Fernseher und trinken Bier statt Wein und sind viel stiller als ihre Väter. Als würden sie über etwas schweigen. Alle über dasselbe oder jeder über etwas anderes. Während ihre Väter, alle miteinander bereits vom Verfall gezeichnet, aber unbremsbar fröhlich, einander mit Witzen, Anekdoten und schließlich nacherzählten Filmen übertrumpfen, in allen kommen Georgier und Armenier vor, einen Satz wiederholen sie ein Dutzend Mal — Das zweitbeste Wasser der Welt! Das zweitbeste Wasser der Welt! — und lachen sich schief.
Als es zu kalt wird, machen sie sich auf den Weg nach Hause. Oh, sagen alle, als sie auf die Straße treten, denn der Vollmond steht ungeheuer nah vor ihnen. Eine Gruppe betrunkener Männer, die Oh zum Mond sagen.
Den Kaukasus auf dem Mond habe ich also schon gesehen, sagt Darius Kopp heiter.
Das ist auch was? kräht der Alte Dawit. Ich kann sogar den Kosmonauten sehen, der da auf dem Berg steht! (Er sagt: Kosmonaut. Und lacht sich tot.)
Sie können nicht lange stehen bleiben, die Luft ist beißend kalt. Das haben die USA gemacht, sagt Temur, und alle sagen: ja, ja. Im Ernst, sagt Temur, sie steuern das Wetter. Wenn sie nicht wollen, dass irgendwo ein Land hochkommt, schicken sie ihnen eine Dürre oder eine Überschwemmung.
Und die Russen? Haben die Russen diese Technik auch? fragt Darius Kopp.
Das weiß ich nicht, sagt Temur ernst. Aber man kann mit Atomtests Erdbeben auslösen. Das stimmt.
Oh, sagen die Männer wieder, weil sie jetzt so stehen, dass sie das Riesenrad oben auf dem Berg sehen können. Es dreht sich bunt glitzernd. Als du starbst, war ich gerade mit Marlene und den Kindern auf dem Rummel. Die georgischen Brüder legen sich die Arme um die Schulter und singen ein Lied. Es hat vier Strophen, solange kannst du dir das Riesenrad ansehen, wie es sich dreht und dreht. Nichts. Doch. Aber im Moment ist alles erträglich, weil alles fremd ist. Die Vier singen das Lied zu Ende, dann erst darf der Junge Dawit und Darius Kopp den Alten Dawit in die Mitte nehmen, um ihn den Rest des Wegs zu stützen.
Zu Hause werden sie von Adessa erwartet. Wo warst du? schreit der Alte.
Sie sagt leise etwas und schlüpft routiniert auf Kopps Platz. Der Alte schmilzt zärtlich um ihren Hals: meine einzige Tochter, sagt er auf Georgisch und wiederholt es auf Deutsch, für mich, und ich lächle, wie es sich gehört.
So und so ähnlich, für die nächsten 7 Tage. Sie nehmen dich auf, als hätte es hier schon immer einen Platz für dich gegeben, du hast es bloß nicht gewusst. Du könntest auf ewig hierbleiben, und es gäbe keine einzige Minute, in der du nicht wüsstest, was du als Nächstes tun sollst. Der Tag in sich ist strukturiert durch Tische, morgens, mittags, abends, denn essen muss man, dazwischen wirst du herumgeführt. Adessa ist Fremdenführerin und für diese Aufgabe prädestiniert, aber bevor ihr euren Rausch ausgeschlafen habt, ist sie schon wieder verschwunden.
Wo ist sie schon wieder?
In den Bergen.
Wieso?
Arbeit.
Aber für wie lange?
Das wusste der Junge Dawit nicht genau.
Wieso hat sie ihn (Darius Kopp) nicht mitgenommen?!
Der Alte lamentiert noch lange, ärgert sich, sie hätte ihn doch mitnehmen können, er will doch in die Berge, warum hat sie ihn nicht mitgenommen, wieso hat sie nichts gesagt, etc., etc., es ist schon längst zu viel, und umsonst sagst du ihm, dass dir das nichts. dass du das verst., als hätte er dich nicht gehört. Redet so lange, bis er sich beruhigt hat und eine neue Strategie entworfen. Die Fahrzeuge werden im Wechsel von Sohn und Neffen bedient, die Moderation übernimmt der Alte König selbst.
Sie zeigten ihm:
die Altstadt (Schau sie dir gut an, es wird sie nicht mehr lange geben. Die Russen haben den Fluss reguliert, das ganze Wasser ist unter die Altstadt gedrückt worden, sie wird bald zusammenfallen)
eine Burg (Dawit der Erbauer hat den Mitgliedern der anderen Religionsgemeinschaften verboten, in den Vierteln der Juden Schweine zu schlachten) eine renovierte Kirche (die Sowjets haben ja alle Wandmalereien übertüncht)
ein unrenoviertes Kloster (sie konnten zum Glück nicht alles streichen)
eine Karawanserai (bis in die 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts hinein war man hier mit Kamelen unterwegs)
die Aussicht vom Fernsehturm (jedes Jahr zu Weihnachten machen sie die Festbeleuchtung an und dann vergessen sie sie wieder auszumachen, und dann ist wieder Weihnachten und dann ist es eh schon egal) den Vergnügungspark (hier war ein Restaurant, in das meine Eltern immer gingen, als ich ein Kind war).
Zuletzt nahm er ihn sogar mit zum Angeln. Kopp vermutete erst einen Scherz, als der Alte in Allerherrgottsfrühe mit einem Tennisstirnband über den Augenbrauen und zwei verschiedenen Schweißbändern an den Handgelenken plötzlich in seinem Zimmer stand und verkündete: Auf, auf, die Fische warten schon! Aber dann saßen sie tatsächlich einen ganzen Tag an einem See und angelten solange, bis sie 27 Kräppies (?) zusammenhatten. Ganz im Gegensatz zu seiner sonstigen Gewohnheit sprach der Alte diesmal den ganzen lieben Tag kaum ein Wort. Gerade so viel, wie es brauchte, um Darius Kopp, der noch nie in seinem Leben geangelt hat, das Nötigste beizubringen. Und dann saßen sie da.
Bis sie die ersten 7 Fische gefangen hatten, dachte Darius Kopp hauptsächlich an sein Auto. Sie haben es doch tatsächlich geschafft, dass ich seit 3 Tagen nicht mehr danach geschaut habe. Aus irgendeinem Grund scheinen sie den besonderen Ehrgeiz zu haben, mich so lange wie möglich zu beherbergen. Eine Gastfreundschaftsgeschichte vermutlich, und ich bin zu nordisch, um es verstehen zu können.
Bis 10 dachte er nun an seine Hemden und den Rest seiner Wäsche, die seit Tagen auf dem zugigen Trockenboden des Palastes hing. Er war schon so lange hier, dass er keine saubere Wäsche mehr hatte. Adessa soll sie dir waschen etc! Aber natürlich war sie nicht da, ihr Name funktionierte scheinbar wie ein umgekehrter Zauberspruch: sobald man ihn aussprach, verschwand sie, anstatt zu erscheinen.
Bis 14 dachte Darius Kopp an Adessa. Bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit erwähnt er sie. Lobt, bejubelt. Das Juwel, die einzige Tochter, man weiß manchmal nicht, ob er sie mir aufschwatzen will oder sie am liebsten selbst heiraten würde.
Bis 24 stellte er sich nun die wildesten Sachen vor. Ob das wohl das Geheimnis ist. Dass er sie zu sehr liebt. Oder vielleicht sind es die Geschwister, die einander zu sehr lieben. Der Junge verschwindet mindestens genauso häufig. Das Gewusel ist gewaltig, ständig sitzen mindestens ein halbes Dutzend Personen am jeweiligen Tisch, aber die Kinder des Gastgebers sind meistens nicht dabei. Die Welt ist voller geheimer Wege. Lissys Zwillingsschwester Andrea hatte dafür scheinbar nichts zu verbergen, der gelbe Schein der Küchenlampe fiel ihr ins Dekollete, ihr fehlte noch ein Salsapartner, und sie war gekommen, um sich Kopp anzusehen. — Aber ich tanze nicht. — Ach, papperlapapp! — Doch. Wirklich. Und außerdem bin ich verheiratet. — Und? — Lacht und kokettiert offen, und die anderen lachen mit, dass ihre Busen und Doppelkinne wackeln. Sehr nett und sehr unerträglich. Sie sind so verdammt lebensfroh, weil ihnen einfach alles scheißegal ist. Weil sie sich einfach nicht vorstellen können, wie, zum Beispiel, jemand wie du ist. (Sich Flora vorstellen. Neben ihnen. Unmöglich. Dennoch, wenn du zu ihr fährst, musst du es in den schönsten Farben malen. Die Landschaft, Flora, die unheimliche Schönheit der Landschaft. Und es gibt Häuser, Flora, Häuser mit Gärten und Apfelbäumen, die wir uns leisten können. Und Herr Tragheimer. Herr Tragheimer setzt große Hoffnungen in uns, das heißt: mich. Er hat extra gesagt, er setze große Hoffnungen —) Wie viel Fische sind das jetzt? Und wie viele sollen es, um Gottes willen, noch werden? Es wird doch schon wieder dunkel.
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