Für die nächsten paar Wochen blieb das die Strategie. Soviel Tage, wie du kannst, in der Stadt mit der Suche nach einem neuen Job aushalten, und dann soviele Tage, wie du kannst, auf dem Land: bei veritabler, schwerer körperlicher Arbeit. Wenn meine Frau sich dazu entschlossen hat, das harte Leben einer Dienstmagd aus dem vorvorigen Jahrhundert nachzuspielen, dann ist das eben auch meine Gegenwart. Flora schien sich endgültig nicht mehr für Kleinkram zu interessieren, Kräuter auf Balkonen, Beete auf Wochenendgrundstücken. Als Kopp das nächste Mal kam, war sie dabei, einen Komposthaufen von hausgroßen Ausmaßen umzuschichten. Nicht allein, sondern Seite an Seite mit einem unbekannten Mann. Zwei Meter groß, mindestens, aber dürr. Sein Name war Stan. Amerikaner. Aha. Gibt es vielleicht auch für mich eine Schaufel? Bis zum Abend arbeiteten sie zu dritt. Der Amerikaner zu Pausen und Plaudereien aufgelegt, aber Flora arbeitete wie eine Maschine, also hing sich auch Kopp rein. Er schwitzte und ächzte, Insekten setzten sich auf seinen Rücken und stachen ihn durch den Hemdstoff hindurch, egal, eigentlich mag ich das, nicht die Insekten, sondern die Kraftanstrengung, ich bin, alles in allem, ein starker Bursche, obwohl ich meinen Körper zu wenig mehr als Sitzen und Liegen benutze, alles, was dafür notwendig ist, ist, dass sich meine Frau in Sichtweite befindet. Schau, Flora. Sie bemerkten es nicht einmal, als der Ami irgendwann wegging. Am Wochenende darauf reparierte Darius Kopp einen Drahtzaun, die Woche darauf schichteten sie gebrauchte Ziegelsteine auf. Floras aufgerissene Hände. — Warum benutzt du keine Handschuhe? — Sie sind mir zu groß. — (Aber ich dachte: auch das macht sie mit Absicht. Sie will diese Hände.) — Eine Woche später hackte Darius Kopp vornehmlich Holz. Solange es dauerte, war das eine seiner Lieblingsbeschäftigungen. Ein Mann hackt Holz. Der Mann bin ich. Gelegentlich kommt meine Frau, um die Scheite aufzuheben, die ich produziert habe, und sie zum Stapel zu bringen. Sie schleppt den Weidenkorb auf die Oberschenkel gestützt, sie dreht die Hüften, um vorwärtszukommen. Wenn sie jedoch später ins Haus geht, weil Essen vorbereitet werden muss — Was machen eigentlich die anderen? — verlässt Kopp innerhalb von Minuten die Kraft, er setzt sich auf den Rand des Hackklotzes und spürt nach, wie er auskühlt. Lange kannst du das nicht mehr machen. Das Beste dieses Tages ist jedenfalls schon vorbei. Jetzt kommt nur noch das Abendessen — mit ihnen. Ich kann mich an vieles gewöhnen, aber mit den Leuten hier wird und wird es nicht besser.
Kopp brauchte eine Weile, bis er dahinterkam, was es war, das in ihm das Gefühl erzeugte, nahe am Ersticken zu sein. Dass sie nicht redeten. Die Helfer, wenn welche da waren, waren im Allgemeinen gesprächig. Dieser Stan war, wie es sich herausstellte, ein ganz lustiger Kerl, mit dem Kopp unter anderen Umständen (in der Stadt, in einer Bar) etliche Stunden hätte verbringen können. Ein amerikanischer Kommunist. Wir hatten mal eine Band, die hieß»Reagans Dick «etc. Die, die immer hier lebten — der Neubauer, seine fade Blondine, das Kleinkind und die alte Frau, von der man immerhin soviel erfährt, dass sie keine Verwandte ist, nur weder allein noch mit anderen Alten zusammenleben wollte — schienen es hingegen darauf anzulegen, so wenig Worte wie möglich zu wechseln. Ich dachte, die meisten dieser Leute tun sich zusammen, um endlos zu reden. Über sich, übereinander, die Welt. Diese hier: nein. Nicht einmal das Kind sagte irgendetwas.
Flora, fiel Darius Kopp nun erst auf, war auch nie besonders gesprächig gewesen. Ich war derjenige, der nach Hause kam und redete und redete, über meinen Kram, über den der Freunde, über den der Welt (Artikel, die er an jenem Tag gelesen hatte), und dann sagte sie einen Satz dazu oder zwei. Ich war der Sprecher in der Familie, was interessant ist, eingedenk der Tatsache, dass ich, wenn es hoch kommt, 2000 Wörter beherrsche (Untertreibung. — Wenn das so wäre, Schatz, könntest du die Artikel gar nicht lesen und verstehen) und sie in mehr als einer Sprache das Vielfache davon. (Aber eigentlich weißt du auch das nicht mit Sicherheit.) Und hier nun war auch Darius Kopp ins Schweigen gedrängt. Weil das, was ich zu erzählen gehabt hätte, zu persönlich gewesen wäre, ich wollte das nicht mit ihnen teilen. Also versuchte er es zunächst während der gemeinsamen Schuftereien mit Flora, nach Luft schnappend: was er unternommen, wen er von den alten Bekannten angerufen, welche Firmen er ausfindig gemacht habe und, ganz bewusst, über die Tagespolitik und das Weltgeschehen, denn es gibt noch eine Welt außer dieser hier — sie hören wirklich nicht einmal Radio —, und was tat Flora? Reagierte irgendwie, unbestimmt. Also im Grunde überhaupt nicht. Sie tat nur so, als erwiderte sie etwas, aber das war nicht einmal mehr ein Wort. Es stimmt nicht, dass es dir besser ging. Es sah so aus. Aber in Wahrheit war sie wie ihr eigenes Spiegelbild. Etwas, an das man nicht herankommen kann. Selbst Kopps gelegentliche Versuche, dann eben einen Streit zu provozieren, liefen ins Leere. (Sie nehmen und schütteln. Nein, das nicht. Und beim Sex war sie so anschmiegsam…) Lüge. Das ist doch alles eine… Ich gebe zu, ich habe kein Recht zu behaupten, ihr würdet lügen, wenn ihr Felder umgrabt oder Holz hackt. Aber ich tue es definitiv. Und dass sie tagsüber auf dem Hof arbeiteten, aber abends zurück in ihr eigenes (geliehenes) Zuhause gingen — was war das? So unfassbar kalt wie die Holzhütte war, konnte sie nicht jeden Tag geheizt worden sein. Ausschließlich dann, wenn Kopp da war, und zwar, weil an den anderen Tagen Flora gar nicht mehr dort wohnte.
Ich muss zurück, sagte Darius Kopp noch während des Abendessens zu seiner Frau. Ich muss noch heute Abend zurück.
Sie sagte: OK.
Soll ich dich noch schnell rüberfahren? Ich bin noch nicht fertig. Ich kann auch noch warten.
Musst du nicht, sagte die alte Frau, diese Eva. Zu Flora: Du kannst heute Nacht bei mir schlafen, wenn du willst. Und lächelten einander an.
Kopp trat auf die Tube, ausgerechnet dort, wo jemand an der Einfahrt in ein Dorf Erde auf der Straße verloren hatte. Das Auto fing zu schlingern an, sie rutschten auf den Graben zu, aber Kopp ist ein guter Fahrer und hat meist Glück, so auch diesmal. Sie rollten weiter zwischen dunklen Häusern. Anfangs gab es nur rechts Straßenbeleuchtung, später nur links. Wie spät ist es? fragte Doiv.
Kopp hätte es auf dem Armaturenbrett sehen können, aber er sah nicht hin. Am Ortsausgang plötzlich Helligkeit. Zwei starke Lampen beleuchteten ein Haus, an dem noch gearbeitet wurde. Sie deckten das Dach. Das Haus war aus einem Dutzend Teilen zusammengestückelt, Räume an- und angebaut, kein einziger gleicht einem anderen, das Dach ist genauso zerklüftet, es ist nicht einfach, so ein amorphes Dach dicht zu bekommen. Die Hausnummer ist die 13.
Wait, sagte Doiv. Ich würde das gerne fotografieren.
Man kann über Darius Kopp sagen, was man will, an Respekt für die Kunst lässt er es nicht mangeln. Er hielt an. Doiv ging zum Haus hinüber, Kopp blieb am Wagen stehen.
Besser, als ich dachte. Wärmer. Sanfter Nachtwind lässt Bäume rauschen. Es tut gut zu atmen, zu hören. Im Dunkeln schnauben Pferde, ein Radio dudelt, ein Hund bellt irgendwo. In der Nähe Männerstimmen, die Unverständliches reden und jetzt sogar lachen. Warum bin ich nicht mit dir hier?
Doiv kommt wieder mit einer Flasche Wasser. Möchtest du? Kopp hat tatsächlich großen Durst, er trinkt aus Doivs Flasche.
Ich habe mit ihnen gesprochen, sagt Doiv. Wir könnten bei ihnen übernachten.
Kopp schaut zum Haus hinüber. Drei Kinder sind mittlerweile auf den Hof herausgekommen. Zwei Jungen, ein Mädchen. Sie besteigen einen Hügel mit Bauschutt, um besser sehen zu können. In einer Tür erscheint eine schwangere junge Frau. Sie ist nicht schön. Kein schönes Mädchen am Ende der Welt. Sie geht wieder hinein. Hinter ihr steht eine ältere Frau, sie schaut ein wenig länger heraus zu uns.
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