Wenn du nur die Wahl zwischen verschiedenen Übeln hast.
Wenn du nicht einmal mehr die Wahl zwischen verschiedenen Übeln hast.
Der Regen setzte in dem Moment ein, als er einen kleinen See auf einem Hochplateau erreichte. Kopp duckte sich in den Schatten eines Felsens, wurde nass und sah zu, wie es in den See regnete. Kalt. Darius Kopp, zitternd im Schatten eines Felsens in den thrakischen Bergen. Auf der anderen Seite des Sees, hinter dem Regen: eine Holzhütte. Die Fensterläden sind geschlossen, aber das aufgestapelte Brennholz daneben verrät, dass sie nicht verlassen ist. Alleine leben in Hütten. Das Beschaffen von Wasser, Feuer, Lebensmitteln. Es gibt niemanden, der dabei fröhlich wird. Im Gegenteil. Sie bekommen dieses verhärmte Gesicht. Es ist ein Irrtum. Das habe ich dir immer schon gesagt. Ein Irrtum. Aber mich verpflichtet das Gesetz dazu, meine Frau, die nicht aus dem Wald kommen will, zu unterstützen. Der Mann, der 10 Jahre lang Lebensmittel zu seiner Frau in den Wald fuhr. Oder 33 Jahre lang. 40. In spätestens 40 Jahren werde ich sehr wahrscheinlich tot sein. Unvorstellbar. Für Außenstehende = Unwissende scheint alles im normalen Bereich zu sein, du aber spürst, dass ein Wettlauf begonnen hat. Etwas zieht herauf. Ab jetzt musst du schneller sein. Etwas anderes als bisher ausprobieren. Seltener kommen. Eine Woche vergehen lassen, ohne eine genaue Ansage zu machen, wann man wiederkommen würde.
Ich weiß nicht genau, wann ich das nächste Mal kommen kann, sagte Darius Kopp. Es gibt viel zu tun.
OK, sagte sie und lächelte, küsste ihn zum Abschied und winkte ihm sogar hinterher, als er mit dem Auto wegfuhr. Meine Frau in einer seltsamen türkisfarbenen Jogginghose unter ihrem Kleid im Gartentor stehend, mir hinterherwinkend. Etwas zieht herauf.
Sagen wir, das war an einem Montag. Am Freitag gab es den ersten Sturm in jenem Herbst. Kopp beobachtete ihn von der Terrasse aus und im Internet. Wie sich die Wolkenfelder im Regenradar und wie die Bäume im Park sich bewegten. Kleinere Äste fielen. Kopp sah lange zu. Im Grunde verbrachte er den ganzen Freitag damit, den Sturm abzuschätzen. Ob man bleiben konnte oder fahren musste. In den Nachrichten war von zu erwartenden Schäden an Wäldern die Rede, bzw. eigentlich, wie groß die Schäden in der letzten Sturmsaison waren, die Häufigkeit atlantischen Wetters, die Klimaänderung und so weiter. Am Ende fuhr Kopp los, als es schon dunkel wurde. Äste, Stroh, leere Sachen trieben auf den Alleestraßen, Böen rüttelten am Auto. Als er ausstieg, flog ihm ein Kiefernzapfen an die Stirn, aus einem so seltsamen Winkel, dass er sich umsah, ob ihn nicht jemand geworfen hatte. Nein. Der Wald hinter den Häusern dröhnte dunkel. Das erste Mal, dass ich das höre: heisere Tubas.
Flora saß im Haus, die Ruhe selbst.
Ich habe mir Sorgen gemacht.
Warum?
Dass ein Baum aufs Haus fällt. Warum sollte er das tun?
(Es ist offenbar schon notwendig, wie mit einer Kranken mit ihr zu reden. Langsam, geduldig, erklärend.) Weißt du, der Sturm usw. Sie fallen nicht um. Woher willst du das wissen? Ich kenne sie mittlerweile. Es geht ihnen gut. (Den Bäumen geht es gut?!?!) Den Bäumen geht es gut? Und dir? Mir auch, sagte sie und lächelte.
Wind und Regen in der Nacht, Flora schlief ruhig, Darius Kopp wachte. Er fror. Sie trug auch zum Schlafen die unbekannte türkisblaue Jogginghose, dazu einen bis jetzt noch nie gesehenen kunterbunten Fleecepullover. Wie er später erfuhr, gehörte die Hose Gaby und der Pullover der alten Frau, die mit ihrem Mann einige Häuser weiter wohnte. Dass Flora doch nicht ganz alleine hier draußen war, war zum einen beruhigend, zum anderen nahm es Darius Kopp natürlich ein Druckmittel aus der Hand. Niemand sonst etc.
Die Pflanzen in der Wohnung, sagte er, gehen ein. Obwohl ich sie gieße. Auf der Terrasse auch. Die Bewässerungsanlage ist an. Trotzdem.
Die einjährigen natürlich, sagte Flora. Aber sie züchten auch die mehrjährigen so, dass du jedes Jahr neue kaufen musst. Kann man nichts machen.
(Überhaupt, die ganze Wohnung. Als entfernte sie sich. Kopp beobachtete sie aus dem Augenwinkel während des Fernsehens oder Surfens. Als dürfte sie es nicht merken. Natürlich gab es da den Staub. Aber das war es nicht allein. Trotzdem sprach Kopp es nicht aus. Zuviel Raum für Missverständnisse.)
Es wird bald Winter werden, sagte er.
Keine Antwort. Sie fegte die Hütte aus und ging dann in den Garten, um den Abfall wegzuharken, den der Sturm herbeigetragen hatte, damit alles wieder so schön herbstfein aussah wie vorher, kleingärtnerisch hübsch geordnet.
Flora, sagte Kopp. Was soll das?
Eine Weile sah es so aus, als würde sie auch darauf nichts sagen, aber dann hielt sie doch inne und sah ihn an:
Mir geht's gut hier, weißt du. Ich habe, in Wahrheit, immer so leben wollen.
Du hast, in Wahrheit! immer so leben wollen?! In einer Hütte im Wald?
In Stille und maßvoll.
In Stille und maßvoll?! In Stille und maßvoll?! Das ist nicht maßvoll, das ist: nichts! Das ist doch. nichts! Und es ist auch zuviel! Du läufst den ganzen Tag! Den ganzen Tag! Du isst von den Feldern! Hast du überhaupt schon gesehen, wie du aussiehst? Diese. Klamotten, und dieser… Garten, dieses… Harken, was soll dieser Mist? Das ist doch… Scheiße, das ist doch… Er konnte nur mehr stottern und fluchen, Scheiße. und Scheiße und… Mist und… bis sie schließlich wütend wurde.
Hör auf mit diesem ewigen ScheißundMistundDreck! Hör auf damit!
Ließ die Harke fallen und schubste ihn mit beiden Händen gegen die Schulter. Sehr kalte Hände.
Hör auf, hörst du! Halt einfach die Klappe! Wenn du nicht anständig reden kannst, halt einfach die Klappe!
Sie schubste ihn in Richtung Gartentor, aber natürlich ist er zu schwer für sie, er schwankte nur ein wenig.
Warum musst du alles zerstören, hä? Warum musst du immer alles zerstören?!
Sie schubste ihn noch ein letztes Mal, er wankte, sie rannte um ihn herum, aus der Tür und auf den Wald zu.
Bist du bescheuert?! Das ist doch bescheuert! krakeelte ihr Darius Kopp hinterher. Wie die letzten Proleten. Dass es auf einem Waldweg passiert und nicht vor Augen aller auf einer belebten Straße in der Stadt, macht es nicht besser. Ich zerstöre alles? Ich zerstöre alles? Schwarz vor Augen.
Der Regen ließ nach, es tröpfelte nur noch. Kopp kam unter dem Felsen hervor. Er hatte keine Lust mehr weiterzugehen, war nicht mehr neugierig, was es noch zu sehen geben könnte hinter dem nächsten Felsen, der nächsten Wegbiegung. Und wenn das so ist, sei zufrieden, umkehren zu können.
Er fuhr in die Stadt zurück, aber auch wenn er geblieben wäre, ihr hinterhergelaufen und so lange nachgetrottet, bis es wieder gut gewesen wäre: du kannst dich hinstellen, wo du willst, wenn der andere nicht mehr von dieser Welt ist. Korrektur: von deiner Welt. Mit jedem Zurückkehren in den Wald, mit jedem weiteren Gang wuchs in Darius Kopp das Gefühl, in Wahrheit allein hier zu gehen. Und sie ebenfalls. Sie, weil sie es offenbar wollte, und er, weil er es musste. Er musste es, weil sie es wollte. Im Alter von 46 Jahren erwischte Darius Kopp doch noch die Einsamkeit. Nie hatte ich mich einsam gefühlt, bevor ich dich kannte. Meine erste Liebe. Kam, sah, infizierte mit Sehnsucht und ließ zurück. Ja, gehört sich denn so etwas?
Die Alkoholiker, öffentlich, überall. Drogensüchtige.
Die Kettenraucherin, die nicht stillsitzen kann. Die Frau, die vor Hindernissen in der Pflasterung komplizierte Schrittfolgen ausführen muss, bevor sie weitergehen kann. Die Leute, die still vor sich hin schimpfen, was immer sie auch tun. M, der am Montag einer ist, am Dienstag ein anderer, am Mittwoch ein dritter, am Donnerstag alles verleugnet, was er zuvor behauptet hat, und am Freitag behauptet, dass es den Donnerstag niemals gegeben hat, und DU bist diejenige, die eine Macke hat. Die Schneidemale am Unterarm einer unbekannten jungen Frau. Der Obdachlose, der statt Hosen einen Wandteppich um den Unterleib trägt und amerikanische Lieder singt.
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