Am nächsten Vormittag ruft er Anne an, von der er seit Jahresbeginn nichts mehr gehört hat.
Sylvia hat mir erzählt, was passiert ist, sagt sie. Schau mal, sagt sie, Ali hätte doch, als er bei uns gewohnt hat, im Prinzip alles mögliche stehlen können. Er hätte mich auch erschlagen können. Oder meine Mutter. Aber stattdessen wollte er nicht einmal, dass ich ihm am Ende mehr Geld gebe, als ausgemacht war.
Hattest du etwas mit ihm?
Anne lacht auf: Er ist dreiundzwanzig!
Richard hat tatsächlich einen Moment lang vergessen, dass Anne so alt ist wie er, hat einen Moment lang auch sein eigenes Alter vergessen. Ist es wirklich schon fünfzig Jahre her, dass er mit einer splitternackten Anne auf dem Fußboden irgendeines Landhauses lag und ihre Frisur so durcheinander geraten war, dass sie sagte: Jetzt hab ich ein Vogelnest auf dem Kopf?
Du musst einfach herauszufinden versuchen, ob es dein Klavierspieler war.
Er hat immer nach Arbeit gefragt, sagt Richard. Er weiß wahrscheinlich nicht, wovon er sonst leben soll.
Du denkst also, dass er es war. Du verurteilst ihn, ohne dass er eine Chance hatte, sich zu äußern. Das ist nicht schön.
Was wäre denn schön?
Frag ihn, ob er es war.
Und wenn ja?
Du sagst doch, der Dieb hat den Ring deiner Mutter genommen.
Ja.
Das ist doch schlimm.
Naja. Aber letztendlich hätte ich ohnehin nicht gewusst, was mit dem Schmuck später wird.
Richard, deine Entschuldigungen kannst du dir sonstwohin stecken.
Richard hört, dass Anne, wie immer, beim Telefonieren abwäscht. Das Telefon hat sie bestimmt zwischen Ohr und Schulter geklemmt und ab und zu pustet sie, weil sie nasse Hände hat, eine Haarsträhne, die ihr ins Gesicht fällt, beiseite, damit sie ihr beim Sprechen nicht in den Mund rutscht. Das Pusten kann er hören und auch das Geräusch, das der Wasserstrahl macht.
Wenn wirklich er es gewesen sein sollte, der dir den Ring geklaut hat, dann schrei ihn an! Sag ihm, dass du, verdammt nochmal, den Ring zurückhaben willst! Mach ihm eine Szene!
Aber warum?
Weil du ihn ernst nehmen musst. Wenn du seinen Verrat entschuldigst, bist und bleibst du der großkotzige Europäer.
Warum eigentlich hatte sich vor fünfzig Jahren weder für Anne noch für ihn die Frage gestellt, ob sie ein Paar sein sollten?
Dann müsste ich also, wenn er es gewesen wäre, doch Anzeige erstatten?
Aber nein, sagt Anne, geduldig wie zu einem sehr dummen Kind, das hat doch mit der Polizei nicht das Geringste zu tun. Es geht darum, dass dir nicht egal ist, was er tut.
Verstehe.
Dann tritt für einen Moment Stille ein.
Richard, bist du noch dran?
Sag mal, sagt Richard, warum sind wir eigentlich nie zusammen gekommen?
Bist du betrunken?
Nachdem er aufgelegt hat, schickt Richard Osarobo eine Nachricht, so wie er es sonst auch manchmal gemacht hat:
Tomorrow?
Okay, schreibt Osarobo zurück.
At 2 p.m.?
Okay.
Richard wischt nun all die Dinge, die die Polizei schwarz gepinselt hat, mit Gummihandschuhen ab, stellt alles wieder an seinen Platz, schiebt die Schubladen in die Fächer zurück und lässt im Musikzimmer das Rollo herunter, so dass man die Stellen am Fensterrahmen, die herausgebrochen sind, nicht sieht.
Den Rest des Tages verbringt er vor seinem Computer. In die Zeile, in die man einen Suchbegriff eingeben kann, tippt er ein, was ihm gerade so in den Sinn kommt:
Wahrscheinlichkeit
Die Wahrscheinlichkeit (Probabilität) ist eine Einstufung von Aussagen und Urteilen nach dem Grad der Gewissheit (Sicherheit). Besondere Bedeutung hat dabei die Gewissheit von Vorhersagen.
Gewissheit
Der Ausdruck Gewissheit bezeichnet alltagssprachlich meist die subjektive Sicherheit bezüglich bestimmter, für gut gerechtfertigt gehaltener Überzeugungen, die sich z. B. auf natürliche oder moralische Sachverhalte beziehen können. Außerdem wird diskutiert, welche Elemente welche Rolle für das Zustandekommen subjektiver Gewissheit spielen, darunter etwa» Beweise«, Verlässlichkeit von» Expertenmeinungen«, äußere Umstände wie Häufigkeit der gebrachten Argumente oder innere Modalitäten wie emotionale Stabilität.
Schrödingers Katze
Eine Katze wird in eine Stahlkammer gesperrt, zusammen mit folgender Maschine: In einem Geigerschen Zählrohr befindet sich eine winzige Menge radioaktiver Substanz, so wenig, dass im Laufe einer Stunde vielleicht eines von den Atomen zerfällt, ebenso wahrscheinlich aber auch keines; geschieht es, so spricht das Zählrohr an und betätigt über ein Relais ein Hämmerchen, das ein Kölbchen mit Blausäure zertrümmert. Hat man dieses System eine ganze Stunde sich selbst überlassen, so wird man sich sagen, dass die Katze noch lebt, wenn inzwischen kein Atom zerfallen ist. Der erste Atomzerfall würde sie vergiftet haben.
Katzenzustand
In einem allgemeineren Sinn wird in der Quantenmechanik eine Überlagerung zweier kohärenter Zustände, die hinreichend unterschiedlich und klassischen Zuständen ähnlich sind, als Katzenzustand bezeichnet. Um einen solchen Zustand zu präparieren, ist es nötig, das System von der Umgebung abzuschirmen.
Quantenselbstmord
Ein Wissenschaftler sitzt vor einem Geschütz, das abgefeuert wird, wenn ein spezielles radioaktives Atom zerfallen ist. In diesem Fall stirbt der Wissenschaftler.
Quantenunsterblichkeit
Nach der Viele-Welten-Interpretation wird in unterschiedlichen Paralleluniversen das Abfeuern in einer unterschiedlichen Zeit erfolgen, so dass die Möglichkeit, dass der Wissenschaftler überlebt, häufiger erfüllt wird als die seines Sterbens. In der Gesamtheit der Systeme betrachtet, stirbt der Wissenschaftler daher durch das Experiment nicht, da die Wahrscheinlichkeit für das Überleben nie gleich Null ist, und er somit in irgendeinem Universum immer überlebt. So betrachtet, ist der Wissenschaftler unsterblich.
Am nächsten Vormittag kommt ein Handwerker von einer Fensterfirma, um für ein neues Fenster Maß zu nehmen.
Um 2 p.m. wartet Richard, dass es klingelt, aber es klingelt nicht.
Um 2.30 p.m. schaut er auf sein Telefon und sieht, dass er eine Nachricht hat:
I can’t make it today.
Außerdem sieht er noch etwas anderes. Osarobo hat sein Profilbild geändert. Statt eines Fotos von ihm ist da nun ein Aquarell in Hellblau, Rosa und Lindgrün, auf dem sieht man einen segnenden Jesus, neben sich einen knienden Sünder, der den Kopf geneigt hält, um sich absolutieren zu lassen. Oder ist der Kniende einfach nur jemand, der betet?
I can’t make it today.
Abends um 7 Uhr kommt Andreas, der Hölderlinleser, der endlich von seiner Kur zurück ist, zu Richard zu Besuch. Eigentlich wollten sie zusammen einen Film sehen. Jetzt sitzen sie in der Küche und trinken Bier.
Das Problem ist, man kann nicht wissen, ob er es war, sagt Richard.
So wachsen ja des Waldes Eichen auch /Und keines kennt, so alt sie sind, das andre , gibt Andreas ihm zur Antwort.
Kennst du Schrödingers Katze?
Die, die ins Fegefeuer gesperrt ist?
Ja, genau die. Für ihren Tod gilt eine Wahrscheinlichkeit von 50 zu 50. Meinst du, dass es mein Klavierspieler war?
Ich kann’s dir nicht sagen.
Vor zwei Tagen habe ich noch hier mit ihm gesessen, so wie jetzt mit dir. Wir haben zum ersten Mal Tee zusammen getrunken.
Andreas nickt. Richard nimmt einen Schluck aus seiner Flasche, und auch Andreas nimmt einen Schluck.
Wir haben Tee getrunken, und ich habe gedacht, dass es das erste Mal ist, und er hat vielleicht gedacht, dass es das letzte Mal ist.
Andreas nickt.
Vielleicht, sagt Richard. Aber vielleicht eben auch nicht.
Ich bin gestern zum ersten Mal wieder mit dem Fahrrad gefahren, sagt Andreas. Hab auch nicht gedacht, dass ich das nochmal kann.
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