Ich fuhr nach Finnland. Aber der Bruder von dem aus Kamerun hob das Telefon nicht mehr ab.
Zwei Wochen schlief ich in Finnland auf der Straße.
Es war sehr, sehr kalt.
Dann fuhr ich zurück nach Italien.
Ich ging mit meiner Tasche auf dem Rücken umher. Ein Paar Schuhe und eine Hose warf ich irgendwann weg, weil die Tasche so schwer war.
Ein Jahr und acht Monate war ich insgesamt in Italien.
Dann fuhr ich nach Deutschland.
Dann war mein ganzes Geld weg, die 500 Euro.
Ich schaute nach vorn und nach hinten und sah nichts.
Der Dünne ist mit dem Besen nun oben und scheint in Richtung Gästezimmer zu gehen, aber als Richard ihm nachgeht, einen Band von Edgar Lee Masters in der Hand, und sich in der oberen Etage umschaut, ist niemand mehr da.
Um elf Uhr am Mittwoch würde er ihn zum Klavierspielen abholen kommen, hat Richard letzten Freitag mit Osarobo vereinbart. Aber als er bei Zimmer 2019 anklopft, dauert es lange, bis die Tür endlich aufgeht. Osarobo steht da, ungekämmt und verschlafen und sagt: How are you? Als Richard ihn fragt, was denn mit dem Klavierspielen sei, sagt er: Oh sorry, I have forgot.
Richard sagt: Ich warte unten.
Er ärgert sich, aber worüber eigentlich? Dass der Afrikaner nicht so glücklich und dankbar ist, wie er es von ihm erwartet? Dass der Afrikaner ihn, den einzigen Deutschen von draußen, der, wie es scheint, jemals dieses Heim hier freiwillig betritt, einfach vergisst? Vielleicht auch darüber, dass der Afrikaner nicht verzweifelt genug ist, um seine Chance zu erkennen? Oder eher darüber, dass er ihm, Richard, durch seine Achtlosigkeit beiläufig klarmacht, dass das Angebot mit dem Klavierspielen keine Chance darstellt, sondern allenfalls einen geringfügig besseren Zeitvertreib als das Schlafen? Damals, in den Diskussionen, die der Trennung seiner Geliebten von ihm vorausgegangen waren, hatte sie mehrmals gesagt, nicht das Ausbleiben dessen, was er erwarte, sei das Problem, sondern seine Erwartung.
Eine Etage tiefer fegt heute niemand.
Von seiner Geliebten hatte er sich zum Beispiel gewünscht, dass sie ihn an dem und dem Tag um 17 Uhr anrufen, oder ihn beim nächsten Treffen im blauen Minirock erwarten sollte, der ihm so gefiel, oder ihm, wenn sie von irgendwoher zurückkam, sagen sollte, aus welchem Abteil des Zuges sie aussteigen würde. Die Vorfreude fing mit dem Tag der Vereinbarung an — und dauerte dadurch viel länger als das, worum es eigentlich ging. Beinahe ersetzte sie so die Sache, um die es ging, aber dennoch stand sie natürlich in einem unauflöslichen Verhältnis zu dem Stück Wirklichkeit, auf das sie sich bezog, und löschte, wenn sie enttäuscht wurde, noch die ganze vergangene Zeit, die ihr gehört hatte, nachträglich aus. Fluchtpunkte , hatte seine Freundin das, worauf er sich freute, anfangs im Scherz genannt, später dann: Terror des Happy Ends , und ihn in der letzten Zeit ihrer Beziehung ihrerseits damit terrorisiert, sich Abweichungen von dem, was ausgemacht war, zu erlauben.
Richard nickt den Billardspielern zu, an denen er eben schon, auf dem Weg nach oben, vorbeigekommen ist. Einer macht mit zwei Fingern das Victory-Zeichen.
Hatte ihn achteinhalb Minuten später angerufen oder auch überhaupt nicht, hatte den blauen Rock ihrer Schwester geschenkt und war, wenn er sie in ihrem Stammcafé erwartete, nicht mehr quer über den Platz von der U-Bahn gekommen, so dass er sie schon von ferne an ihrem aufrechten Gang hätte erkennen können, sondern bog unverhofft von der anderen Seite her mit dem Fahrrad um die Ecke, stieg ab, schloss es an einem Laternenmast fest und setzte sich dann, verschwitzt und mit schmutzigen Händen, zu ihm an den Tisch.
Der Mann in der Phantasieuniform sagt: Na, wieder keiner zu sprechen?
Doch, doch, sagt Richard, aber ich warte draußen.
Der zweite hält ihm die Tür auf.
Nur an der Oberfläche war es damals die Frage gewesen, ob die Versäumnisse seiner Geliebten ihre Ursache vielleicht einfach in einer anderen Ordnung hatten, einem anderen System als dem, auf das er sich bezog — also etwa in einer neuen, ihm verheimlichten Liebesbeziehung oder auch nur in einer anderen Kleidergröße oder dem erst kürzlich im Stadtzentrum installierten Radweg. Im Grunde aber, wenn auch unausgesprochen, hatte seine Geliebte ihm die Frage danach gestellt, was von ihrer Beziehung übrig blieb oder überhaupt da war, wenn die Rituale, an denen er sie festmachen wollte, außer Kraft gesetzt waren. Wahr war sicher, dass ein Mensch nicht zu hundert Prozent einem anderen Menschen bekannt sein konnte, wahr war leider auch, dass er, Richard, das nicht annehmbar fand, zumindest nicht, was seine Geliebte betraf.
Sonstwohin kannst du dir deine Fluchtpunkte stecken! hatte sie in der letzten Diskussion, die er mit ihr hatte, geschrien, und was denn sei, wenn sie ihn zufällig einmal um 23.27 Uhr ganz dringend brauche, wenn er gerade in seinem verdammten Ehebett liege, und sie das Telefonat nicht vorher beantragt habe? Er hatte sie in ihrer Wut besonders reizend gefunden und über die hektischen Flecken, die sich an ihrem Hals in der Aufregung zeigten, gelächelt. Das Lächeln war ein Fehler gewesen. Sein letzter, denn danach hatte sie ihm keine Gelegenheit mehr dazu gegeben, Fehler zu machen.
Aber ein gemeinsames Maß festzulegen, ging es darum nicht in jeder Beziehung?
Außerdem ärgert er sich darüber, dass er jetzt, wenn er schon warten muss, kein Buch dabei hat.
Nicht einmal eine Zeitung.
Gestern hat er einen Artikel über die deutsche Entwicklungshilfe gelesen, in dem stand, dass diese Organisation ihre Tätigkeit grundsätzlich damit beginne, in jedem von ihr betreuten Land einen laut DIN und TÜV benennbaren Standard an Maßen und Normen zu installieren. Für den Handel, so hieß es in dem Artikel, sei eine solche verbindliche Skala unerlässlich, aber natürlich wusste Richard, dass so eine Skala auch und vor allem ein Herrschaftsinstrument war. Nun gut, Herrschaft war schließlich auch eine Art von Beziehung. Der Aufstand des jüdischen Todeskommandos in Treblinka allerdings, dem Vernichtungslager der Nazis, hatte erst geplant werden können, nachdem von der SS eine neue Lagerleitung installiert worden war, die sich streng an ihre eigene Ordnung hielt und damit berechenbar war. Was berechenbar ist und starr, kann man untergraben und brechen. Nur das Chaos entgleitet und bleibt. Und dann fällt ihm ein, dass er jetzt eigentlich so wie seine Geliebte gedacht hat.
Egal.
Weiß und voll wie ein Mond war jedenfalls ihr Hintern in den glücklichen Zeiten unter dem blauen Rock, den er so an ihr so mochte, zum Vorschein gekommen.
Endlich geht die Tür auf und Osarobo erscheint, wieder in seiner zu dünnen Jacke, und sagt zu ihm:
I’m sorry.
Ist schon in Ordnung.
Und dann gehen sie los.
Weißt du eigentlich, dass man hier auf dem Platz, Richard zeigt nach links auf den geschotterten Sportplatz, Fußball spielen kann?
Everybody you mean?
Aber ja — jeder.
Without paying?
Sicher, ohne zu bezahlen. Hast du einen Ball?
No.
Ob ihn jetzt jemand mit dem schwarzhäutigen Jungen die Straße entlanggehen sieht? Und was der dann wohl denkt? Jedesmal, wenn sie abbiegen, hält Richard kurz an und macht den Jungen auf das Straßenschild aufmerksam, damit der beim nächsten Mal den Weg selbst finden kann.
Weißt du, dass hier früher Osten war?
Osarobo schüttelt den Kopf: East?
Wahrscheinlich ist die Frage für jemanden, der aus Niger kommt, falsch gestellt, denkt Richard und versucht es noch einmal:
Weißt du, dass es in Berlin einmal eine Mauer gab, die den einen Teil der Stadt vom andern getrennt hat?
I don’t know.
Einige Jahre nach dem Krieg wurde sie hier gebaut. Weißt du, dass es hier einmal Krieg gab?
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