Richards Blick fällt auf den Adventskranz, der seit fünf Jahren auf seinem Wohnzimmertisch steht.
Die Regenzeit hatte gerade begonnen, so lief ich in der Stadt herum, ich hatte inzwischen 11 Paar Schuhe, zeigte immer den einen Schuh her, den zweiten hatte ich in meinem Rucksack. Nachts wurde ich manchmal nass, wenn meine neue Plane nicht dichthielt. Tagsüber war ich dann oft so müde, dass ich im Sitzen einschlief. Schließlich ließ ich mir eine Tischplatte machen. Ich fand jemanden, der den Sack mit den Schuhen über Nacht für mich einschloss. Aber noch immer schlief ich auf der Straße, mit dem Geld in der Hosentasche, immer hatte ich Angst, überfallen zu werden. 5 Paar Schuhe gab ich einem, der mir beim Schuhverkauf helfen wollte, in Kommission. Aber er stahl mir die Schuhe und blieb verschwunden.
Jetzt dreht der Mann in der gelben, zerlöcherten Hose den Besen um und zupft die Fusseln aus den Borsten heraus, lässt sie aber gleich wieder an Ort und Stelle zu Boden zu fallen. Was soll das, denkt Richard im ersten Moment, dann denkt er: Na, wenn es ihm Spaß macht.
Ich fuhr zu meiner Mutter und meinen Geschwistern. Länger als eine Nacht konnte ich nicht bei ihnen bleiben, dazu war das Zimmer zu klein.
Ich fragte mich: Was ist an mir falsch?
Ich fragte mich, und ich fragte auch Gott.
Es darf einem auch einmal schlecht gehen. Aber wenn man nie weiß, wo man schlafen soll und was man zu essen hat? Gibt es auf der ganzen Erde wirklich keinen Platz, an dem ich mich zum Schlafen hinlegen kann?
Ich schaute nach vorn und nach hinten und sah nichts.
Meiner Mutter sagte ich, dass es mir gut geht.
Und meine Mutter sagte mir, dass es ihr gut geht.
Aber ich wusste ja: Sie besaß kein Land. Wenn ich ihr kein Geld gab und auch sonst niemand ihr etwas schenkte, konnte sie für sich und meine Geschwister nichts kochen.
Mein Schweigen und ihr Schweigen trafen sich, wenn wir uns sahen.
Dann arbeitete ich als Erntehelfer auf einer Plantage.
Die erste Woche.
Die zweite Woche.
Die dritte Woche.
Er dreht den Besen wieder herum, aber bleibt ruhig stehen.
Ich dachte: Wenn ich nicht mehr da wäre, könnte auch niemand mehr etwas von mir wollen.
Ich setzte mich an den Rand des Feldes und weinte.
Es ist so, viele Menschen in Ghana sind sehr verzweifelt.
Manche hängen sich auf.
Andere nehmen DDT, sie trinken Wasser nach, dann gehen sie ins Haus, machen die Tür hinter sich zu — und sterben.
Ich schickte ein Kind zu dem Laden, wo es das DDT gibt. Aber der Verkäufer fragte das Kind, wer es geschickt hat. Er suchte mich, dann sprach er lange mit mir und sagte, ich soll es mir gut überlegen.
Drei Tage saß ich nach diesem Gespräch in der Moschee und dachte nach.
Ich hatte dann keine Kraft mehr, es zu tun.
Danach wurde ich krank.
Richard steht auf und geht in die Bibliothek hinüber. Dort sitzt er manchmal im Ohrensessel, wenn er telefoniert. Vielleicht braucht er noch irgendein Buch, um vor dem Einschlafen auf andere Gedanken zu kommen.
Hätte der Verkäufer von dem DDT damals nicht mit mir gesprochen, wäre ich schon lange tot.
Sicher, auch in der Bibliothek ist es staubig. Richard schaut dem dünnen Mann eine Weile dabei zu, wie er die Stühle, die um den runden Tisch herum stehen, umdreht und auf die Tischplatte hebt. Den Besen hat er solange ans Regal angelehnt, auf Höhe der deutschen Klassik.
Dann ging ich nach Accra zurück. Ich stellte einen Helfer ein. Irgendwann hatte ich insgesamt zweieinhalb Säcke mit Schuhen, beinahe 300 Paar. Für ein Zimmer hätte mein Geld jetzt bald gereicht.
Aber da wurde der Straßenhandel verboten.
Ich schaute nach vorn und nach hinten und sah nichts.
Jeweils 5 Paar Schuhe trug ich mit mir herum und verkaufte sie heimlich. Ganze Tage lief ich quer durch die Stadt. Die letzten 20 oder 30 Paare gab ich billig an meinen Helfer ab.
Von dem Erlös kaufte ich einen Sack Athfiadai, daraus machen sie hier in Europa Medizin, hat mir jemand gesagt. Paracetamol.
Richard nimmt gegen Kopfschmerzen ASS, das ist die Aspirin-Variante für die aus dem Osten, aber er weiß nicht, ob darin derselbe Wirkstoff enthalten ist wie in Paracetamol.
Dann fuhr ich nach Hause zu meiner Mutter und meinen Geschwistern. Ich blieb nur eine Nacht, weil das Zimmer zu klein war, und erklärte ihnen, was sie machen sollten, um mir zu helfen.
Sie gingen alle vier in den Busch, um die Frucht zu sammeln. Sie sieht aus wie ein kleiner Apfel, man trocknet sie, dann platzt sie auf, man sammelt die Kerne heraus, auch die Kerne werden dann zwei, drei Tage an der Sonne getrocknet und im Mörser zermahlen. Am Ende ist es ein schwarzes Pulver. Die Frucht ist selten, und es macht viel Arbeit, bis man das Pulver hat, aber schließlich war ein zweiter Sack voll, den schickte mir meine Mutter nach Accra.
Richard würde gern das Licht löschen und zu Bett gehen. Aber dann wartet er doch noch so lange, wie der Dünne unter dem Sofa fegt und unter dem Sekretär, so lange, bis er die Stühle wieder vom Tisch nimmt und alles ordentlich hinstellt.
Ich ging auf den Markt mit den zwei Säcken.
Am ersten Tag kam niemand, um das Pulver zu kaufen.
Auch nicht am zweiten.
Und auch nicht am dritten.
Erst dann hörte ich, dass im Vorjahr einige Händler ähnlich aussehendes Pulver in die Säcke gefüllt hatten, um die Aufkäufer zu betrügen.
Jetzt macht Richard das Licht aus. Die Stimme erwartet ihn schon im Flur.
Ich ließ die Säcke bei einem Freund und fuhr zu meiner Mutter und meinen Geschwistern, um Abschied zu nehmen. Eine Nacht konnte ich bleiben, nicht länger, weil das Zimmer zu klein war.
Von dem letzten Geld, das ich hatte, gab ich meiner Mutter die Hälfte, von der anderen bezahlte ich den Schlepper für meine Fahrt nach Libyen.
Das war im Jahr 2010.
Eigentlich schön, dass es keinen Lärm macht, das Fegen, denkt Richard und fragt sich, warum er selbst, wenn überhaupt, immer gleich zum Staubsauger greift.
Mein Geld reichte nur bis Dakoro in Niger. Den Rest lieh mir der Schlepper. Ich und die andern lagen im doppelten Boden eines Pickups so eng aneinander und so flach, dass wir uns nicht einmal umdrehen konnten. Mit Stücken von Wassermelonen hielt uns der Schlepper am Leben, die schob er uns ins Versteck.
In Tripoli arbeitete ich die ersten acht Monate auf einer Baustelle nur für den Schlepper. Als meine Schuld endlich abbezahlt war, brach der Krieg aus. Wir konnten die Baustelle nicht mehr verlassen. Ringsum hörte man Schüsse. Irgendwann kam der Mann nicht mehr, der uns bis dahin mit Essen und Trinken versorgt hatte. Drei Tage hielten wir aus, dann mussten wir rausgehen. Die Straßen waren vollkommen leer. Man sah keinen Ausländer mehr, aber auch keinen Libyer. Überhaupt keine Menschen. Schließlich schafften wir es nachts auf ein Boot. Ein Freund lieh mir die 200 Euro für die Überfahrt nach Europa.
Als ich vom Lager in Sizilien aus in Accra anrief, sagte mir der Mann, bei dem ich die zwei Säcke mit dem Pulver stehengelassen hatte, das Zeug sei nun doch schon alt.
Ja, sagte ich, schütt es weg.
Und jetzt beginnt der Dünne, die Treppe aufwärts zu fegen, anders, als Richard es bei seiner Mutter gesehen hat, fegt er Stufe für Stufe von unten nach oben, so dass der Staub von der nächsthöheren Stufe auf die gerade gesäuberte fällt.
So lange, wie ich in Italien im Camp war, bekam ich 75 Euro im Monat, 20 oder 30 davon schickte ich meiner Mutter.
Aber nach einem Jahr wurde das Camp geschlossen. Sie gaben uns 500 Euro. Damit stand ich nun auf der Straße. Ich ging auf den Bahnhof, um dort zu schlafen. Ein Polizist weckte mich und schickte mich raus, weil ich keine Fahrkarte hatte.
Draußen war einer aus Kamerun. Der sagte, er hat einen Bruder in Finnland. Wir riefen den Bruder an. Ja, ich kann nach Finnland kommen und bei ihm wohnen.
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