Manchmal hat Arnold Kraushaar das Gefühl, dass ihn alle anglotzen in den Seminaren, oder wenn er kommt und geht. Dann möchte er am liebsten sagen:»Was glotzt’n so, Arschloch. «Die Mädels können ruhig glotzen, das ist schon o.k. Die meisten seiner Kommilitonen wissen, wer er ist. Er ist mit der Älteste in den Kursen und Seminaren, BWL, was die anderen wohl später mal anfangen werden, mit dem Abschluss in der Tasche? Karriere machen? Das wollten sie doch alle irgendwie und irgendwann. Ihm geht es nicht so sehr um den Abschluss, obwohl der sich gut machen wird im Lebenslauf und bei den Immobilienfritzen, den Banken, den Bullen, der Justiz, all den Leuten, die ihm das Leben schwermachen können. Er spürt, wie sein Arm hochfährt. Na, da hat er sich doch schon wieder gemeldet und will antworten und will erzählen, was er weiß und denkt über die Mechanismen des Marktes und die Chancen auf die Marktführerschaft. Aber seine Stimme ist plötzlich ganz hoch und brüchig, als wäre er im Stimmbruch, und er hört sich selbst sagen, schnell und atemlos und ohne Pause fast:»Wenn es außerirdisches Leben gibt, haben die dann auch den Sozialismus auf ihren Planeten? Vielleicht gibt es noch andere Systeme, von denen wir gar nichts wissen, Wesen ohne Geschlecht. Weil das ja keine Menschen sind. Und wenn sie irgendwann auf die Erde kommen, vielleicht in fünfzig Jahren oder hundert Jahren, und uns zeigen wollen, dass sie besser leben als wir, wenn sie den Sozialismus gar nicht brauchen, wenn sie uns dann verschmelzen wollen, Mann und Frau zu einem Wesen, das ewig leben kann?«
Er spürt, wie er nicht die Lehrerin anguckt bei seiner Frage, die keine Frage ist, Biologieunterricht, sondern Katrin, die zwei Reihen vor ihm sitzt. Direkt an der Wand. Er kann ihre linke Gesichtshälfte sehen, manchmal lehnt sie den Kopf an die Tapete über dem Stein. Er weiß, dass links bei ihr links ist, weil sie dort ein kleines Muttermal hat. Auf dem Jochbein, direkt unterm Auge. Das Wort Jochbein kennt er aus der Box AG. Der Kopfschutz schützt das Jochbein. Das kleine Muttermal ist ganz flach, sonst wäre es ein Leberfleck. Kommen Leberflecken von der Leber? Er weiß, was ein Leberhaken ist. Er ist zwölf Jahre alt. Einmal hat er ihr Muttermal berührt. Vorsichtig, mit den Fingerspitzen. Hinter den Häusern, am Kanal. Er blickt sie an, hört die anderen lachen, hört auch die Lehrerin lachen,»Über Zwitter reden wir ein andermal«, spürt, wie er rot wird, und stellt sich vor, wie er die Alte mit einem Leberhaken erwischt. Später erzählt er Katrin von seinen Träumen, und sie fragt ihn, ob er Bumsen meint. Aber er redet vom Jahr 2525 und dass dann die Erde von einem riesigen Ozean bedeckt sein wird, der aus einer Art organischem Plasma besteht und in dem alle Lebensformen zu einer einzigen verschmelzen. Sie schmeißt einen Stein in den Kanal, dessen Wasser schmutzig ist und stinkt, aber sie haben sich dran gewöhnt, sitzen fast jeden Nachmittag hier.
Und ich glaube, dass wir uns nur einbilden, dass wir da sind, sagt Arnold. Wie alt muss man sein, damit man bumsen kann, sagt Katrin, aber er blickt an ihr vorbei in die Nacht. Sieht die Lichter der Autos hinterm Zaun. Drückt seine Zigarette aus. Er raucht kaum noch, ist dabei, es sich abzugewöhnen. Er sagt manchmal den Mädels, dass sie nicht zu viel rauchen sollen. Manche rauchen Kette, und die Gardinen und Betten und Klamotten stinken. Regelmäßig lässt er alles waschen und auswechseln. Bergeweise Wäsche. Er hat einen guten Deal mit einer Wäscherei. Wenn er sich nicht kümmern würde …, manche von den Mädels sind extrem reinlich, die meisten; aber um das Bettzeug, die Handtücher und den ganzen Textilkram muss er sich kümmern, also einer seiner Leute, sonst würden die Buden verrotten. Der Wäschemann kommt, der Wäschemann kommt, macht alles weg, bei neunzig Grad! Steuern, Wäsche, Werbung, das Studium, sein Sohn, Claudia, die Baufirma, die Spielotheken, das Gym, die Weiber, die Investitionen, die Verträge, Papierkram, Absprachen … Er zündet sich wieder eine an, steht auf und geht zum Fenster. Er lehnt die Stirn an die Scheibe, die Zigarette im Mundwinkel. Er bläst den Rauch an die Scheibe, dann zieht er die Jalousie runter. Über den Spiegel. Er dreht sich um, lässt die Zigarette fallen. Was, verdammt nochmal, wollen Sie hier?
Nun hat das Prostitutionsgesetz von 2002 die Dinge etwas verändert, wie Sie alle mit Sicherheit wissen! Grundsätzlich. Und nehmen wir die bereits angesprochene Umsatz- und Einkommensteuer dieser bereits genannten ca. 100 selbständigen Dienstleisterinnen, von denen jede im Durschnitt monatlich ca. 6000 bis 9000 Euro umsetzt. Tatsächlich wird natürlich eine viel geringere Summe an Umsätzen angegeben, über das tatsächliche einkommensteuerpflichtige Einkommen brauchen wir da gar nicht zu reden, das wird Sie jetzt nicht überraschen, meine Damen und Herren, werte …, ein Glas Wasser, bitte! Wir versuchen dem mit der Pauschaltagessteuer von 25 Euro … Danke. Ah. … mit der Pauschalsteuer von 25 Euro pro Tag entgegenzuwirken. Wenn wir von den Schätzungen ausgehen, arbeiten deutschlandweit ca. 400000 Frauen, wobei Insider von weit über einer halben Million sprechen, einige Quellen sogar von nahezu einer Million. Umsatz 9,125 Milliarden Euro. Wie Sie sehen, geht es hier um Summen und Zahlen, die wir unter unsere Kontrolle bringen müssen, nichts anderes kann das Ziel sein. Wenn der Staat aus wirtschaftlichen, juristischen, organisatorischen und moralischen Gründen nicht das Monopol übernehmen kann, dann, meine sehr geehrten Damen und Herren, kann unsere Direktive nur lauten: Die Syndikate müssen weiterexistieren, aber wir müssen abkassieren!
(Finanzamt I, Sektion B2, Raum 001)
Sex.
Business. Manchmal denke ich, das ist ein und dasselbe. Sternbilder, Großer Wagen, Großer Bär. Komische Sache. Venus, Mars, die Ringe des Saturn, dem Weltall ist das scheißegal, da wird nicht gebumst, nirgendwo, kalt und leer, das schwarze Loch von Cygnus X-1, so weit weg und doch hier bei uns, hier bei uns … Man denkt doch sein halbes Leben an nichts anderes, fünfundsiebzig Prozent, wenn das reicht. Und das hängt, denke ich mir, auch mit der Kälte und Leere da draußen zusammen. Cygnus X-1, sechs Millionen Jahre alt, sieben Milliarden Wege zu sterben, Mann, Frau, das spielt überhaupt keine Rolle. 6070 Lichtjahre entfernt. … ist die ganze Sache doch mit einem gewissen Druck verbunden, männlich, rein physisch jetzt, die Materie sammelt sich in einer flachen Akkretionsscheibe , und damit auch psychisch, versteht sich. Da ist man arm dran. Wenn das anders wäre, also bei den Frauen genauso mit einem physisch-psychischen Druck verbunden wäre, hätte ich nochmal zwanzig, dreißig Wohnungen (also das sind jetzt nur Zahlen, theoretische Expansionen) mit Kerlen drin, Mietrammlern. Hetero versteht sich. Nichts gegen Schwule, aber die Homos suchen sich ihre Ficker schon so. Und die Frauen eben auch. Stammtisch? Evolution. Darwin. Biologieunterricht. BWL. Das wird 2121 so sein und war auch schon zu Christi Geburt … Nein, ich bin nicht religiös. Bin im Sozialismus sozialisiert. Was denken Sie, wie da gefickt wurde. Gefickt und gebumst. Was aufs selbe rausläuft, nicht wahr? Aber keine Huren. Kein Business. Nur am Rande.
Nur bisschen Messe-Sex, paar Kneipen-Luden in Berlin, und oben in Rostock gab’s diese Bar. Wozu auch? Man heiratete früh, man bumste früh, und dann heiratete man jemand anderes, und dann wurde hier mal schnell und da mal schnell … Gab ja auch keine Pornos, offiziell, ich glaube schon, dass das damit zusammenhängt. Dass jetzt das Business so floriert, meine ich, wegen der Pornos, Sex, überall Sex. Also neunzehnhundertneunundneunzig. Ist natürlich gut für mich. Wo das noch nicht im Netz frei verfügbar und wo auch noch nicht im Netz die Bumstreffen so frei und ohne finanzielle Interessen … Pädophilenscheiße auch in vielen Foren versteckt, also ich bin ja schon für die Todesstrafe, obwohl ich meinen Kant sehr wohl gelesen habe. Im Jahr 2322 wird das Netz sich selbst auflösen. Neulich, verdammt, das war doch neulich, wollte mir jemand eine Achtzehnjährige unterjubeln. Ich hatte zwei neue Objekte günstig angemietet und konnte noch gut und gerne ein oder zwei Mädels gebrauchen. Und er hätte da eine, die braucht dringend einen Raum, einen Job, bisschen Kohle, die ist gut, die ist hübsch, hat schonmal undsoweiter. Ja, natürlich, sag ich, wie alt ist sie denn? Zweiundzwanzig? Gut, gut. Schon mit einer Neunzehn- oder Zwanzigjährigen kann ich verdammt viel …, also Ärger, weil dieses bescheuerte Gesetz bis zweitausendzwei den Zwang nicht richtig definiert.
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