Aufdecken: Gänsedaunen werden in ein Oberbett gestopft, Sidonia sitzt neben dem Ofen und ißt ein Schmalzbrot, Johannes, noch auf allen vieren, versteckt sich kichernd, bedeckt sich mit Federn.
Zudecken: Sosenpichlers, die Nachbarn linker Hand, die an einem kalten Abend aufbrechen zu Wanderungsbewegungen durch Europa, ein Oberbett im Gepäck.
Aufdecken: Der Kölner Pfarrer hat sein Wohnzimmer frisch tapeziert. Als Haushälterin serviert sie ihm und seinen Gästen ihren vielgelobten Schonkaffee.
Im Zimmer brannten nur die Kerzen am Baum. Sie ließen die Kugeln und das Lametta funkeln, und sie überzogen auch uns mit diesem Funkeln und Flackern. Eine unstete Bewegung glitt über die Gesichter und verschönerte sie, ließ die Augen glänzen, hob die Rundung eines Kinns hervor, vertiefte die Schatten zu etwas Samtigem, das mit der Tiefe des Zimmers verschmolz. Ich sah uns vor der geschmückten Tanne, umhüllt von den glitzernden Partikeln, als seien wir selbst diejenigen, die sie versprühten, hell hervortretende Köpfe, umgeben von schimmerndem Haar, hinter uns lange lamettahelle Schweife, Erinnerungen, die wir durch Raum und Zeit nachzogen. Von draußen, von der Straße aus konnte man uns leuchten sehen, Kometen, die sich einmal im Jahr auf ihrer Bahn trafen.
Ich erwachte bei Tagesanbruch vom Schaben des Schneeschiebers vor dem Haus. Mein Vater hatte in diesem Jahr einen besonderen Ehrgeiz entwickelt, den Schnee auf der Zufahrt so früh und so gründlich wie möglich zu räumen. Er hatte den Eindruck gewonnen, daß die Nachbarn, die viel später, wenn es schon richtig hell war, aus der Tür traten, etwas pikiert auf ihr eigenes dick zugeschneites Wegstück und seine strahlend rein daliegende Fläche blickten, und er hatte sich vorgenommen, hier den Winter über der Nachbarschaft ein leuchtendes Vorbild zu sein. Er schaufelte den Schnee, der ja irgendwohin mußte, an den Zaun, und dieser Zaun war jetzt bereits nicht mehr sichtbar, nur noch die Spitzen ragten heraus. Er schaufelte sehr systematisch, er kratzte über die Stellen, an denen der Schnee schon festgetreten war, damit man dort später nicht ausrutschte, und wenn es nichts mehr zu schaufeln gab, holte er den Straßenbesen und fegte die letzten Flocken an den Rand.
Am Abend wanderten wir durch die Neubausiedlung, und mein Vater kommentierte die Räumleistungen der Anwohner. Erst schaufeln, dann streuen, hatte er uns seit Kindheitstagen eingeschärft, und kritisch, aber mit triumphalem Unterton wiederholte er diese goldene Regel, als wir über einen Pfad voller halbflüssigem, knöcheltiefem Schneematsch stapften, in dem sich rosa Salzkristalle auflösten und der Masse eine graurosa Färbung verliehen. Mit einigen Partien des Bürgersteigs schien mein Vater halbwegs zufrieden. An manchen Stellen mußten wir storchig die Beine heben, ohne verhindern zu können, daß es uns kalt in die Schuhe rieselte, aber zumindest teilweise war der Schnee weggeschafft. Es gab, stellte mein Vater fest, einige Anwohner, die ihren Pflichten halbwegs korrekt nachgekommen waren, wenn auch natürlich niemand imstande gewesen war, so scharfkantig und so ebenmäßig zu schaufeln wie er.
Wir brachten Tante Sidonia zur Bushaltestelle. Normalerweise chauffierte mein Vater sie am Nachmittag des zweiten Feiertages zurück nach Köln. In diesem Jahr traute er sich nicht den Hang hinauf. Die Nebenstraßen waren nicht vom Schnee befreit, erst zwei Tage vor Silvester würde man es wieder wagen können, sie zu befahren.
Es ging steil bergan, wir schwitzten, obgleich wir froren. Um uns eine verheißungsvolle Schneedecke, unter der, wie bei einem Adventskalender, Lebkuchenherzen verborgen sein mochten, Rauschgoldengel, Spielzeug und Strohsterne. Kinderwünsche, Illusionen, Erwachsenenglück.
Wir stiegen keuchend unter den fallenden Flocken weiter empor, erdrückt von Verheißung. Die Welt lag unter Milliarden von Sternen begraben, Schneesternen, Aberwitz. Die Tiefe hinter den Flocken eine bestürzende Fülle, aus der die Kristalle wie ausgeleert fielen; eisige Oberflächen, filigran und kurzlebig, unberührbar, trudelten aus einem riesigen schwarzen Raum.
Als würde die Nacht in der Salzmühle zu glitzernden Körnern zermahlen werden, eine Nacht, ausgestreut in sich selbst, ein feines Geriesel, das auf die Straßen fiel und alles lahmlegte, das ganze Getriebe zum Stillstand brachte.
Wir standen versuchsweise an der Haltestelle, es war spät, uns war kalt, in die Gegenrichtung sei seit Stunden nichts gefahren, so hatte uns ein Anwohner gewarnt, der mit der Zigarette vor seinem Haus auf und ab ging und seinen Pinscher unter der Laterne scharren ließ. Wir warten zehn Minuten, hatten wir uns gesagt, aber dann näherte sich nach fünf Minuten ein Licht, es tauchte am Ende der Straße aus der Dunkelheit auf und füllte für einen Moment alles aus. Der Bus kam, meine Tante stieg ein.
Soso, sagte Odilo, und es war nicht zu erkennen, ob mein Bericht ihn zufriedengestellt hatte.
Und — deine Schwester, wißt ihr denn jetzt, wo sie war?
Nein, sagte ich. Das ganze Thema langweilte mich.
Kurz vor Mitternacht zogen wir unsere Mäntel an und traten vor das Haus. In der gesamten Straße war niemand zu sehen, hier lebten vorwiegend ältere Menschen, die um diese Zeit in ihren Sesseln blieben und sich zuprosteten.
Wir zündeten die Raketen. Odilo war mit kindlichem Eifer dabei, mit einer verzerrten Freude, als gelänge es ihm zum ersten Mal in seinem Leben zu rebellieren. Ich hielt das Feuerzeug mit technischem Gleichmut an die Zündschnüre, hörte die Kracher detonieren, sah die Raketen explodieren und Funkengarben über den wattigen Himmel sprühen, ich ging systematisch vor, mit ruhigen, routinierten Bewegungen, ich fühlte mich ausgesprochen souverän.
Odilo war vom Feuerwerk regelrecht ergriffen. Er tänzelte aufgeregt hinter mir, las mir die Anleitungen auf den Verpackungen vor und beaufsichtigte, ob die Zündung erfolgte, ob ich es richtig machte, ob ich das Feuerzeug mit der gebotenen Sorgfalt aufflammen ließ. Er wiegte die langstieligen Raketen im Arm und hielt sie mir eine nach der anderen hin, er achtete darauf, daß nichts versehentlich in den Schnee geriet, er stampfte eine Stelle zurecht, auf die wir die Boxen mit den Kugelblitzen aufsetzen konnten, ohne daß für das Pulver hinter der dünnen Kartonwand Gefahr bestand, feucht zu werden.
Die Raketen gab er mir jeweils mit einer Verzögerung, als falle es ihm schwer, sich von ihnen zu lösen, als wolle er, an sie geklammert, am liebsten mit ihnen auffahren und mit ihnen am Himmel stehen.
Wir hatten Barocksonnen, Venezianische Fontänen, Riesenfontänen, Römische Lichter, Brillantfächer, Glorien, Wasserfälle in Silber und Gold. Hatten Jupiter- und Marsraketen, Bengalische Streichhölzer, Silbertaler, Vesuve, Leuchtkugeln, Phönixe.
Die leuchtenden Körper schossen als Mutmaßung in den dunkelgrauen Raum, entfalteten sich in narzißtischem Glanz, sprenkelten die Nacht mit Magnesiumtropfen, drehten Feuerräder, ließen kunstvolle Sekundenwälder wachsen, verschwendeten schnellebig-gleißende, nutzlose Pracht.
Um uns verschlossen sich die Einfamilienhäuser tiefer in ihren strengen Vorgärten voll blaustichiger Fichten, duckten sich unter dem Qualm aus ihren eigenen normierten Schornsteinen, der weiter oben im Nachthimmel zerblasen wurde, lauerten auf uns in ihrer herrischen Selbstgewißheit.
Odilo erwies sich als dienstbares Geschöpf, kontrollierte meine Arbeit, leistete kleine Handreichungen, Odilo hockte neben mir im Schnee, Schatzsucher, Goldgräber, Revolutionär, und verscheuchte die bösen Geister des kommenden Jahres. Odilo, der sich ein Leben lang über proletarische Gebräuche wie den lautstarken Jahreswechsel lustig gemacht hatte, nahm meine Rede von den Dämonen, nahm unser Knall- und Rauchwerk überraschend ernst.
Als ich mich umdrehte, sah ich seine Mutter, ich sah sie unruhig durchs Treppenhaus steigen, sah sie von draußen, von der Straße aus durch die Wand aus Glasbausteinen, nur ein Schatten, in Fragmente zerteilt. Ich sah sie, ein zerrissener Hauch, der seine Teile noch mit großer Mühe im Rahmen der Fugen zusammenhielt, und mir kam es vor, als sei es diese Mühe, die bereits ihr Leben ausmachte und sie erschöpfte.
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