Er wusste es sofort. Warum tut sie das, fragte er sich.
Keine Ahnung, sagte er. Bei welcher?
Nach dem Abschied am Freitagmittag sei sie am British Council vorbeigeradelt und prompt angesprochen worden, erzählte Maria. Vermutlich von derselben Frau wie er am Morgen. Lange Haare und um die Augen eine komische Rötung, richtig? Während Hartmut seiner Frau zuhörte, erinnerte er sich an ihre Worte damals im Auto: In deiner Wahrnehmung tue ich alles, was ich tue, dir an. Stimmte das, und wenn ja, könnte seine Wahrnehmung trotzdem richtig sein? Im Lauf des Wochenendes hatte er den peinlichen Vorfall aus seinen Gedanken verdrängt, nun brachte Maria ihn zurück. Auf dem Klappentext der DVD las er von» den verrückten Abenteuern von Carrie, Miranda, Samantha und Charlotte auf der Suche nach der großen Liebe — oder dem nächsten aufregenden Sex«. Da war sie wieder, die zermürbende Vieldeutigkeit, die seit Florians Hochzeit ihre Gespräche kennzeichnet. Das stumme Tasten nach dem doppelten Boden, die Unterscheidung zwischen tatsächlich Gesagtem und womöglich Gemeintem. Er suchte nach der richtigen Erwiderung, und sein Zögern erzielte dieselbe Wirkung wie eine direkte Verdächtigung.
Gar nichts habe sie sich dabei gedacht, falls er sich das frage. Es habe sich einfach spontan richtig angefühlt. Ob er jetzt etwa verstimmt sei?
Was sie meinte, war: Ich habe es für dich getan, und dir würde kein Zacken aus der Krone brechen, das anzuerkennen. Indem er es anerkannte und sich wünschte, sie hätte es nicht für ihn getan, machte er die Unbefangenheit des Gesprächs endgültig zunichte. Marias anschließender Frage nach seinem Wochenende war anzuhören, dass sie lediglich nicht sofort auflegen wollte. Ob er Ruth und Heiner ihre Grüße ausgerichtet habe? Ja, log er, schließlich hatte sie ihm keine aufgetragen. Am Freitagmittag waren sie liebevoll auseinandergegangen, am Sonntagabend legte er in dem Wissen auf, dass die Halbwertszeit ihrer ehelichen Harmonie zweieinhalb Tage beträgt. Aber nur, wenn sie in der Zwischenzeit nicht kommunizieren. Obwohl sie immer häufiger miteinander reden wie in einem Lehrfilm für Paartherapie. Wenn er sich abreagieren muss, brüllt er ins erschrockene Gesicht einer Kämpferin für mehr Gerechtigkeit in der Welt, und als wäre das nicht beschämend genug, eilt Maria umgehend zum Tatort und erkauft an seiner Stelle Ablass. Oxfam muss nur noch dafür sorgen, dass wenigstens ein paar äthiopische Grundschüler vom Niedergang seiner Ehe profitieren.
Ratlos blickt er auf das Display seines Mobiltelefons. Grüße und Küsse. Reicht nicht, denkt er, als hätte seine Frau gerade die letzte Chance verspielt. Ihre aufrichtige Zuneigung und das beharrliche Festhalten an der Überzeugung, dass die räumliche Trennung ihnen guttun würde, wenn er es zuließe. Als wäre seine Liebe zu ihr eine Form von Verstocktheit. Was, wenn sie sich stattdessen wie eine Kränkung anfühlt? Nach dem gestrigen Telefonat hat er im Wohnzimmer gestanden, an die heutige Verabredung gedacht und genau gespürt, wie leicht sich darin etwas anderes als ein Informationsgespräch sehen ließe. Vielleicht brauchte es nur zwei Gläser Wein. Eins hat er bereits getrunken. Jetzt erkennt er im Durchgang zu den Toiletten eine schemenhafte Bewegung und schaltet das Handy wieder aus. Katharina Müller-Graf macht bei der Theke Halt und spricht mit dem Kellner. Der Anflug von Verstimmung ist aus ihrem Gesicht verschwunden, als sie zum Tisch zurückkehrt. Als hätte sie in der Zwischenzeit einen Entschluss gefasst.
«Wer war eigentlich die Freundin, die Ihnen damals in Amerika den Jazz nahegebracht hat?«Sie nimmt Platz und rückt ihr leeres Weinglas zurecht wie ein Mikrofon.»Wenn es keine zu private Frage ist.«
Einen Moment lang fühlt er sich überrumpelt. In den vergangenen Tagen hat er ein paar Mal an Sandrine denken müssen.
«Hatte ich davon… Hatte ich erwähnt, dass sie meine Freundin war?«Von der letzten Unterhaltung ist ihm lediglich in Erinnerung, wie er mit einer Weinflasche in der Hand vor ihrem Schreibtisch stand und beinahe gesagt hätte, was ihm durch den Kopf ging: dass ihm mit der Verabschiedung der neuen Studienordnung leider jeder Vorwand genommen worden sei, weiter mit der Rechtsabteilung des Kanzlers zu kommunizieren. Worüber sie tatsächlich gesprochen haben, hat er vergessen.
Frau Müller-Graf schüttelt den Kopf:»Nein. Aber wie sie es erzählt haben.«
«Verstehe. Kompliment.«
Der Kellner kommt mit frischen Gläsern und einem anderen Wein. Die Flasche lässt er nach dem Einschenken zwischen ihren Gläsern stehen, und Frau Müller-Graf zuckt mit den Schultern:»Ich dachte — zu zweit.«
«Wir werden es schaffen.«
Sie probieren den Wein, und anstatt zu fragen, ob er mit ihrer Auswahl zufrieden sei, stellt sie ihr Glas ab und nickt ihm aufmunternd zu:»Sie wollten erzählen.«
«Meine damalige Freundin also«, sagt er.»Aus Paris. Wir haben beide in Minneapolis promoviert, und sie kannte sich in vielen Dingen besser aus als ich. Mit ihr hab ich auch das erste Mal einen anständigen Wein getrunken. Der hier ist übrigens ziemlich gut. «Obwohl es den Altersunterschied zwischen ihnen betont, holt er Eindrücke aus dem Amerika der Siebzigerjahre hervor und kann sich nicht erinnern, wann er zuletzt von damals gesprochen hat. Bürgerrechtsbewegung und Gegen-Kultur, those fucking hillbillies, wie sein damaliger Vermieter die bunten Anwohner der West Bank nannte. Zufrieden nimmt er zur Kenntnis, dass Katharina ihm gerne zuhört. Der Kellner bringt ihr Essen. Es fällt ihm leicht, so von Sandrine zu sprechen, dass eine Frau sie sympathisch und interessant findet. Ihre Streitgespräche mit weißen Südstaatlern. Ein paar Mal hat er sie am Arm ins Auto ziehen müssen, bevor es brenzlig wurde. Er erwähnt seine jugendliche Begeisterung für Mark Twain und die spätere für Faulkner. Schildert den Mississippi als majestätisch und träge. Wo er sich mit dem schneller fließenden Missouri vereinigt, ist es besonders gut zu erkennen. Ermutigt durch ihr Interesse, versucht er sich an Parodien der Leute, die ihn fragten, ob es in Deutschland Kühlschränke gebe und was er von Hitler halte. Katharina Müller-Graf lacht und fächelt sich mit der Hand Luft zu. Das Essen schmeckt köstlich, und Hartmut weiß nicht, ob er lieber reden oder sich den Mund vollstopfen will. Beides scheint derselben Gier zu entspringen, die desto größer wird, je weiter er ihr nachgibt.
«Kennen Sie den Film Thelma & Louise ?«, fragt er kauend.
«Einer meiner Lieblingsfilme.«
«Mit dem gleichen Wagen waren wir unterwegs. «Klingt nach Aufschneiderei, stimmt aber.»Einem 1966er T-Bird. Wollte meine Freundin unbedingt haben. Hinterm Steuer hat man das Gefühl, in einer Motoryacht zu sitzen.«
«Okay. «In ihrem Gesicht spiegelt sich die verlockende Vorstellung, jung, verliebt und frei zu sein und mit offenem Verdeck durchs Land zu fahren. Einen Moment lang kann Hartmut nur staunen, dass es für ihn gar keine Vorstellung ist, sondern etwas, das er tatsächlich erlebt hat.
«Meine erste große Reise«, sagt er.»Dinge, die man nicht vergisst.«
«Wenn ich die Zeit zurückholen könnte, würde ich später heiraten und Mutter werden. Und vorher mehr von der Welt sehen.«
«Der Fluss ging durch alles mitten hindurch, das ganze Land. Wir mussten ihm einfach nur folgen. Meistens haben die beiden Ufer zu verschiedenen Bundesstaaten gehört. Auf unserem Campus in Minneapolis hieß es East Bank und West Bank. Ich hab am Westufer gewohnt und auf dem Weg zum Unterricht jeden Tag den Mississippi überquert. Und jedes Mal gedacht, wow, der Mississippi. Aufgewachsen bin ich an der Lahn.«
«Darf ich fragen, ob Sie noch Kontakt haben zu dieser Sandrine?«Frau Müller-Graf krempelt die Ärmel ihrer Bluse auf.
Hartmut deutet auf seinen vollen Mund und lässt sich Zeit mit dem Kauen. Darf sie? Es fällt ihm schwer, den BH-Träger zu ignorieren, der unter ihrer Bluse zu erkennen ist.
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