«Wir schreiben einander E-Mails«, sagt er.»Nicht mehr oft. «Zuletzt vor drei oder vier Jahren.
«Ich frage, weil es selten ist, dass Männer sagen, sie hätten viel von einer Frau gelernt. «Sie machen da was richtig, scheint ihr Blick zu bedeuten.
«Von meinem Doktorvater abgesehen, hab ich eigentlich nur von Frauen gelernt. Jedenfalls die wichtigen Dinge.«
«Außerdem mag es naiv klingen, aber ich finde es schön, wenn Menschen nach der Trennung befreundet bleiben. Gute Beziehungen haben das verdient. Mein Ex-Mann und ich schaffen es leider, über jede Kleinigkeit zu streiten. Wann er Marko abholt, unseren Sohn. Ob zwanzig Minuten früher oder später, am Bahnhof oder zu Hause. Als wäre Streit das eigentliche Ziel und nicht…«Mitten im Satz hält sie inne, schüttelt den Kopf und sagt:»Ach was, reden wir von was anderem. Erzählen Sie weiter!«
Mühelos nimmt Hartmut den Faden wieder auf. So unbekümmert und redselig war er lange nicht.»Eigentlich wollte ich nach der Promotion nicht zurückkommen. Mein Traum war ein College im Mittleren Westen oder in Neuengland. Aber mein Doktorvater hatte andere Pläne, und er war nicht der Typ, gegen den man sich als Student hätte behaupten können. Vorsichtig ausgedrückt. Sonst wäre ich heute vielleicht Amerikaner.«
«Auch ein komischer Gedanke, oder?«
«Jetzt ja. Damals überhaupt nicht. Es war eher komisch, wieder in Deutschland zu sein. Diese winzigen Autos!«
Sie lacht und streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Hartmut zuckt mit den Schultern. Was soll’s, denkt er. Wie nah seine Füße den ihren gekommen sind, spürt er an einem plötzlichen Kitzel, der bis hinauf in die Wirbelsäule reicht. Die Zeit hat einen Sprung gemacht. Sehen sie einander nicht schon eine ganze Weile an, als achteten sie noch auf etwas anderes als den Gang der Unterhaltung? Hartmut bewegt seinen Schuh ein wenig zur Seite, verliert den letzten Zweifel und spürt seine Freude in eine Fülle inkompatibler Bestandteile zerfallen, Versprechen, Forderung und Drohung zugleich. Trotzdem streckt er den Fuß ein Stück weiter vor. Erneut fällt ihm auf, wie viele Kerzen in dem Raum brennen. Und dass weniger Leute da sind als bei seiner Ankunft.
«Eine Weile hab ich mir sogar eingebildet, einen amerikanischen Zungenschlag zu haben, wenn ich Deutsch spreche«, sagt er mit dem breiten Akzent, den in Minnesota kein Mensch spricht. Die Berührung unter dem Tisch macht ein unbefangenes Gespräch schwierig. Zwischen ihnen stehen leere Teller, in der Flasche wartet der letzte Schluck. Frau Müller-Graf verteilt ihn auf beide Gläser und sagt:»Eigentlich könnten wir uns duzen.«
«Das ist…«Er sucht nach einer flotten Erwiderung und findet keine.»Hartmut.«
«Katharina.«
«Noch einen Nachtisch? Kaffee?«
«Nein. Nein.«
«Okay. «Hartmut winkt dem Kellner, bittet um die Rechnung und gibt ihm die Kreditkarte gleich mit. Dann stehen sie vom Tisch auf, er hilft ihr in die Jacke und sieht sich ein letztes Mal um, ob wirklich kein bekanntes Gesicht ihn beobachtet. Im Übrigen glaubt er nichts von dem, was gerade geschieht. Die Bedienungen an der Theke danken und wünschen einen guten Abend. Niemand sagt Stopp.
Doch. Um ihm die Karte zurückzugeben.
Eine kühle Brise vom Rhein sorgt für einen Anflug von Nüchternheit. Hinter den Bäumen am Ufer leuchten Post Tower und Langer Eugen in die Nacht. Maria sitzt wahrscheinlich gerade in der U-Bahn. Zwingt er sich zu dem Gedanken, oder wird er gezwungen? Seine Frau auf dem Weg in die zwei kargen Zimmer in Pankow, wo die verstreuten Paraphernalien ihrer Theaterarbeit liegen — Flyer, Plakate, zerfledderte Manuskripte — und sie sich manchmal fragen muss , ob sie das Leben führt, das sie führen möchte. Vor einem Jahr hat er sich wie ein Idiot aufgeführt, aber es ist nicht zu spät, denkt Hartmut und legt einen Arm um Katharinas Schultern. Spürt ihre Hüfte im Takt gemeinsamer Schritte. Schweigend gehen sie die Straße entlang. Wie dunkel es auf dem rückwärtigen Parkplatz sein wird, weiß er bereits, bevor sie um die Hausecke gebogen sind.
«Dürfen wir eigentlich noch fahren?«, fragt sie.
«Gerade so. Vielleicht. «Aber wohin?
«Morgen früh muss ich Marko von meiner Mutter abholen. «Also in die Südstadt, wenn er sich richtig entsinnt. Luftlinie weniger als einen Kilometer entfernt, aber erst müssen sie zurück zur Kennedybrücke.
«Kavalier, der ich bin, wäre ich bereit, das Risiko auf mich zu nehmen und dich in deinem Auto nach Hause zu bringen. «Er erkennt das metallische Schimmern seines Wagens und den gestelzten Duktus der Verlegenheit. Da Katharina ihn in keine andere Richtung dirigiert, muss der kleine Fiat, auf den sie zugehen, ihr gehören. Ein Aufkleber am Heck bittet darum, nicht zu hupen, weil der Fahrer vom 1. FC Köln träumt.
Einen Augenblick lang verharren sie in skrupulöser Unschlüssigkeit. Zwei erleuchtete Fenster über ihnen gehören zur Küche, daneben quillt bleicher Dampf aus einem Abzugsrohr. Vier weitere Autos stehen auf dem Parkplatz, dahinter erstrecken sich dunkle Gärten. Dann können sie beide nicht mehr warten.
Es ist keine langsame zärtliche Annäherung. Hartmut hört eine Handtasche zu Boden fallen, und im selben Moment saugt er fleischige Schärfe von ihren Lippen. Seine Hand fährt unter ihre Bluse und streicht über weiche heiße Haut. Drängt unter den Rand ihres BHs, so wie ihre Hand unter seinen Hosenbund. Mit dem Rücken stößt er gegen ihr Auto, dann halten sie noch einmal inne. Waren da Schritte? Eine Tür? Wollen sie es in diesem schäbigen Hinterhof treiben? Katharina klammert sich fester in die Umarmung und keucht etwas gegen seine Brust, das er nicht versteht. Mit beiden Händen fasst er an ihren Hintern.
Als sie den Blick hebt, schließt er die Augen. In letzter Sekunde oder eine zu spät. Was auch immer sie als Nächstes sagen will, liegt bereits in der Luft. Muss nur noch in Worte gefasst und ausgesprochen werden. Schon glaubt Hartmut die Nähe zu spüren, so wie den Druck ihres Körpers gegen seinen. Erst eine Ahnung, dann mehr. Das unbestimmte Wissen um etwas, dem er spätestens morgen wird entkommen wollen.
«Endlich!«, sagt seine Schwester immer wieder, während sie nicht aufhört, ihn zu drücken und zu herzen. Wie um einen Stein im Wasser fließt der Strom anderer Fahrgäste um sie beide herum, und er spürt feuchte Lippen auf seiner Wange. Ein Pfiff ertönt, der Schaffner geht neben den Waggons entlang und schließt die Türen. Hartmut will nach dem Koffer greifen, aber Ruth hat immer noch die Arme um seinen Hals gelegt, genau wie damals, als er nicht angekommen ist, sondern eingestiegen in den Zug nach Frankfurt. Jetzt allerdings weint seine Schwester nicht, sondern strahlt übers ganze Gesicht, trägt die Haare kurz, wie er es bereits auf den Fotos gesehen hat, und überrascht ihn trotzdem mit ihrem Aussehen.
«Endlich«, sagt sie ein letztes Mal, bevor sie einander lachend an den Schultern halten, in der Verlegenheit eines Paares, das ohne Musik zu tanzen versucht. Ruth ähnelt nicht länger dem Mauerblümchen seiner Erinnerung. Neugierig erforschen ihre Augen sein Gesicht.
«Du kriegst graue Haare. «Ihr Zeigefinger deutet abwechselnd auf beide Schläfen, und ihm fällt keine Erwiderung ein. Leichte Nervosität ersetzt die Verträumtheit, mit der er mehrere Stunden aus dem Zugfenster geschaut hat, auf eine hinter Hecken verborgene, sich nur in flachen Ortschaften am Horizont andeutende DDR. Um sie herum wird der Bahnsteig leer. An der Grenze ist alles gutgegangen, will er sagen, aber danach fragt Ruth gar nicht, sondern hakt sich bei ihm unter und zieht ihn mit.
«Los! Ich steh im Halteverbot. Ich war viel zu spät. «Gut gelaunt dirigiert sie ihn eine Treppe hinab und wieder hinauf in die nach Urin riechende Bahnhofshalle. Tauben hocken auf der Balustrade über dem Ein- und Ausgang.»Gerade als ich losfahren wollte, brauchte Florian ein Pflaster. Und wenn der eine ein Pflaster bekommt, will der andere natürlich auch eins. Auf dieselbe Stelle.«
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