«Professor Neuhaus, ja. Kennt sich mit China nicht gut aus.«
«Nicht. Nun, wir brauchen jemanden, Herr Lin. Überlegen Sie bitte, wer in Frage kommt. Nächste Woche sehen wir uns in meinem Büro.«
«Das wird mein herzliches Vergnügen sein«, versichert sein Doktorand gewohnt zuversichtlich. Dann wartet er neben dem Treppenabsatz, bis Hartmut in die Tiefgarage hinabgestiegen ist und sich noch einmal grüßend umgeblickt hat.
Auf dem Weg durch die Innenstadt überlegt Hartmut, wie er es angehen soll, die Arbeit in seiner Tasche durch einen Bonner Prüfungsausschuss zu bekommen. Falls der Inhalt seinen Erwartungen entspricht, dürfte das schwer werden. Am Wochenende hat er Ruth von den schiefen Blicken erzählt, die ihm jedes Mal begegnen, wenn er einen Ausschuss zusammenstellen muss. Du übertreibst, meinte sie, als er behauptete, dass seine Kandidaten mittlerweile schon deshalb im Nachteil seien, weil sie als seine Kandidaten anträten. Über sein letztes Buch hieß es im Philosophischen Journal , so klingt es, wenn Professoren sich für Originalgenies halten. Vielleicht übertreibt er, aber nach dem Debakel mit seiner iranischen Doktorandin hat Breugmann ihn tatsächlich unter vier Augen gebeten, künftig keine Mildtätigkeiten mehr zu üben an zwar sympathischen, aber unzureichend qualifizierten Ausländern — und Charles Lin ist außer Maria wenigen Leuten sympathisch. Seine bisweilen durchscheinende Bockigkeit hat vor Hartmut schon andere verprellt.
Als er in die Robert-Koch-Straße abbiegt und den Venusberg hinauffährt, stellt Hartmut das Problem zurück und legt den Ellbogen ins offene Seitenfenster. Der WDR-Sendemast reckt sich in den strahlend blauen Abendhimmel. Das ist der Moment, in dem er früher dem angenehmsten Teil des Tages entgegengeblickt hat. Seit zwei Jahren reduziert sich seine Vorfreude auf das Bild einer grünen Flasche Alvarinho in der Kühlschranktür. Außerdem hat er im Keller eine Kiste voller DVDs entdeckt; fast hundert Stück, die ihm bei der Suche nach dem Auffangbeutel des elektrischen Rasenmähers in die Hände gefallen sind. Größtenteils amerikanische Serien und Filme, die den Geschmack eines Teenagers widerspiegeln. Vor dem Umzug nach Hamburg muss Philippa diese Zeugnisse einer überwundenen Lebensphase im Keller deponiert haben. Dass ihr Vater an manchen Abenden einsam genug ist, sich solchen Schund zuzumuten, weiß sie bis heute nicht. Um die Schmach zu mildern, stellt er auf Originalfassung und sagt sich, er frische sein Englisch auf. Portugiesische Telenovelas sind auch darunter.
In der Sertürner Straße haben die Geschäfte bereits geschlossen; ohnehin eine kümmerliche Ladenzeile, die aus wenig mehr als Bäckerei, Zeitschriftenladen und Apotheke besteht. Als Willy Brandt noch um die Ecke gewohnt hat, ging es dem Einzelhandel besser, weiß Hartmut aus aufgeschnappten Bemerkungen an der Kasse. Er fährt weiter bis zum Kaiser’s Markt, kauft Wurst, Käse und eine Kiste Wasser, dann sitzt er wieder in seinem Passat, öffnet eine der Flaschen und trinkt in gierigen Schlucken. Um ihn herum werden Autotüren zugeschlagen, starten Motoren und bringen zwei Jungs im Grundschulalter den Einkaufswagen zurück, mit vollem Karacho und haarscharf vorbei an den Obstauslagen vor dem Eingang. Ihr Lachen erreicht ihn gedämpft und unwirklich.
Langsam rollt er vom Parkplatz, biegt nach dreihundert Metern in den Kiefernweg ein und betrachtet eine Weile das spitzgieblige Eckhaus, das sie damals auch hätten kaufen können. Heute gehört es einem jungen Kollegen von der naturwissenschaftlichen Fakultät. Eins der beiden Kinder kann Hartmut als bunten Fleck hinter der Hecke ausmachen. Auch die Mutter in einer grünen Gartenschürze glaubt er zu erkennen, dort wo eine Natursteintreppe hinauf zur hinteren Veranda führt. Als er eine Bewegung wahrnimmt und auf sich bezieht, wendet er den Wagen, fährt weiter und hat nach drei Minuten sein Haus erreicht.
Statt in der Einfahrt zu parken, bleibt er am Straßenrand stehen und legt die Hände aufs Lenkrad. Ringsum sind die meisten Nachbarn in den Ferien, schlummern Häuser mit heruntergelassenen Jalousien der Rückkehr ihrer Bewohner entgegen. In seinem Haus sind die Rollläden hochgezogen, und trotzdem sieht es verlassen aus. Das Gras steht kniehoch. Auf der Terrasse liegen zwei gelbe Torfsäcke aus dem Godesberger OBI-Markt, von denen einer im Frühjahr von Mardern aufgebissen wurde. Dunkle Masse quillt aus dem Loch. Maria findet bei ihren Besuchen keine Zeit, sich um die wenigen Topfpflanzen zu kümmern, die seine mangelnde Zuwendung überlebt haben.
Reglos sitzt Hartmut inmitten von Feierabendstille und Vogelgezwitscher. Wie von selbst krallen sich seine Hände um das Steuer. Es war ein unscheinbarer Montag Anfang September. Der Sommer wollte gerade in den Herbst kippen, am Venusberg fielen die ersten Blätter, und wo er jetzt im Auto sitzt und die Straße beobachtet, parkte ein Europcar-Transporter mit Marias wenigen Habseligkeiten. Morgens um halb zehn, und natürlich hat er ihr beim Einladen geholfen. Danach standen sie einander auf dem Gehsteig gegenüber, und er erinnert sich an seinen Gedanken, klar wie ein gedruckter Satz: Ich weiß immer noch nicht, warum du gehst. Die gesamte Robert-Koch-Straße entlang parkten Autos, wie immer während der Besuchszeiten des Klinikums. Birken und schlanke Pappeln wiegten sich in der Morgenbrise.
Marias Gedanken waren nach vorne gerichtet:»Wir sind stark genug. Wir schaffen das. «Ihre Hände suchten nach seinen, und ihr Blick kam ihm aufdringlich zuversichtlich vor. Als wollte sie ihm bedeuten, dass er gerade einen gewichtigen Grund übersah, sich von Herzen zu freuen. Sie trug Jeans, ein trikotartiges Oberteil und dazu Turnschuhe. Maria Antonia Pereira aus Lissabon. Es war ihm neu, dass sie Turnschuhe besaß. Immer schon hatte sie jünger ausgesehen, als sie war, aber jetzt wirkte sie noch jugendlicher als sonst, hatte die halblangen Haaren zu einem Zopf gebunden, aus dem sich kleine Strähnen lösten und im Wind spielten. Sie sah genau so aus wie die Frau, von der er keine fünfhundert Kilometer getrennt sein wollte.
Wir sind stark genug, um deine Flausen auszuhalten, dachte er. Jedenfalls glaubst du das. Philippa war früh zu einer Freundin gegangen; ein lakonisches ›Bis dann‹ der einzige Gruß an ihre heimflüchtige Mutter. In Kürze würde sie selbst ausziehen.
In den Tagen zuvor hatte Maria Besteck, Teller und Gläser eingepackt, sorgfältig darauf achtend, keine sichtbaren Lücken in die Bestände zu reißen. Im Keller fand sich ein ausgedienter Lattenrost, der ihr gut genug schien für ihre bescheidenen Ansprüche — sie wollte der Familie ja nicht zur Last fallen, sondern sie bloß verlassen. Klamotten kamen in den Koffer, ein paar Bücher in die Kiste. Musste sie sich bemühen, in seiner Gegenwart nicht vor sich hin zu summen?
«Es wird anders sein und manchmal schwierig«, sagte sie.»Aber oft auch schön. Wir werden uns seltener sehen, aber dann mit Zeit füreinander und Lust aufeinander. Es war schön, als du in Dortmund gewohnt hast und ich in Berlin. Oder nicht?«
«Als du Ende zwanzig warst und ich Ende dreißig.«
«Und?«
«Als es neu war und ein Provisorium. Als wir noch gar nicht wussten, ob wir zusammenbleiben würden.«
«Hartmut, soll ich jetzt Sätze sagen wie: Das ganze Leben ist ein Provisorium? Wir schaffen das, glaub mir. Es wird uns sogar guttun. «Sie küsste ihn lange. Beinahe musste er sich gewaltsam aus der Umarmung befreien.
«Hast du alles?«
«Außer deiner Zustimmung, ja.«
«Da du diesen Zettel auf die Anrichte gelegt hast, weiß ich ja, wohin ich sie schicken kann.«
«Wirst du’s tun?«Ohne Groll sah sie ihn an. Bittend, wartend. In sich spürte er den festen Willen, den Abschied nicht bitter zu machen — das und Bitterkeit. Er hatte Philippas bevorstehenden Auszug zum Anlass nehmen wollen, seinen eigenen Alltag umzugestalten: weniger arbeiten, sich die Wochenenden freihalten, mit Maria kleinere Ausflüge unternehmen. In fünfzehn Bonner Jahren sind sie nie zusammen in der Eifel gewesen. Oder in Amsterdam. Er wollte häufiger ins Kino gehen und mehr Romane lesen. Außerdem hatte er daran gedacht, Maria das seit langem bestehende Angebot von Hans-Peter schmackhaft zu machen, eine einjährige Gastdozentur in Berkeley. Er würde ein Seminar geben und ein bisschen schreiben müssen, sie könnte ihr Englisch aufpolieren, und es bliebe genug Zeit übrig, um zusammen die Weingüter des Napa Valley zu erkunden. Ist das nicht besser, hatte er fragen wollen, als sich in Bonn komisch zu fühlen, weil oben niemand zu laut Musik hört?
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