Ich machte ein Time-out-Zeichen mit beiden Händen:
— Bitte, hören Sie mir zu, das war nicht so, ja? Ich weiß nicht, woher Sie das wissen, aber Herr Ferenc wollte mir das Video vorspielen, und ich konnte mir das nicht anschauen. Also habe ich ihn gefragt, ob er mir beschreiben kann, was darauf zu sehen ist –
— Aber warum? Das ist doch doppelt krank! Ich hab das Video auch gesehen, so schlimm ist das nicht! Kein Grund, sich das Bild für Bild nacherzählen zu lassen.
— Woher kennen Sie …?
Sie trat einen Schritt zurück, und es sah so aus, als werfe sie einen Kontrollblick über ihre Schulter ins Vorzimmer des Hauses. Dort stand eine Tür einen Spaltbreit offen. Ich schaute hin. Aber der Türspalt wurde um keinen Zentimeter größer.
— Ich kann Ihnen nicht mehr vertrauen, sagte sie. Das ist alles, was ich sagen kann. Herr Ferenc wird sich jemand anderen suchen müssen.
— Einen anderen?
— Ja. Sie sind nicht geeignet dafür.
— Wofür? Ich verstehe nicht, was Sie meinen. Wirklich. Und ich bin sehr überrascht, dass Sie Herrn Ferenc kennen, er hat mir überhaupt nichts davon erzählt, also –
— Sie haben nichts bemerkt? fragte sie, unter Tränen.
— Aber nein, ich –
— Sie Schwein!
Ihre Faust traf meinen rechten Oberarm.
— Warten Sie! fing ich ihre Hand ab. Bitte, nur einen Augenblick! Sprechen Sie mit mir. Erklären Sie mir, was Sie meinen. Haben Sie vor irgendetwas Angst? Ist es das? Haben Sie Angst, dass jemand …
Ich wusste selbst nicht, wie der Satz weitergehen sollte.
— Angst!
Frau Stennitzer spuckte das Wort verächtlich vor mir aus.
Ich ließ meine Arme sinken. Ein hilfloses, flugunfähiges Tier.
— Haaaaah, machte Frau Stennitzer und schien alle Luft aus ihrem Brustkorb zu pressen. Ich habe ja Respekt vor dem, was Sie getan haben. Ich meine, ich hab wirklich Respekt vor … vor … dass Sie da hingefahren sind und so weiter. Aber wir sind anders, können Sie das nicht verstehen? Wir waren anders. Christoph war …
Sie deutete in die Luft.
— Christoph war anders. Christoph war wirklich bereit, verstehen Sie? Sie haben keine Ahnung. Sie haben überhaupt keine Ahnung.
Die letzten Worte verloren sich in ihrer Brust, denn sie sprach mit hängendem Kopf. Ihre Stimme hatte sich an einen warmen, vertrauten Ort zurückgezogen, in den Obstgarten der Kindheit vielleicht oder in die lebendige Erinnerung an die unschuldig gebliebene Vergangenheit.
C. S., dachte ich. Die Initialen am Grab.
Arrivé.
Die Sonne begann ums Haus zu tanzen, und ich musste mir die Hand an die Schläfe legen, um nicht auf der Stelle umzufallen.
— Sie sind nichts wert, sagte Frau Stennitzer. Kommen Sie. Ich zeige Ihnen etwas.
Sie ging mit mir durch das Haus und über die Terrasse in den Garten. Der Anblick von Christophs ausgebranntem Häuschen hatte überraschenderweise nichts Verstörendes. Es sah aus, als wäre das Haus neu angemalt worden, mit schwarzer, blasenreicher, körniger Teerfarbe. Da Einsturzgefahr bestand, machten wir nur einige Schritte ins Gebäude hinein. Ich blieb vor der Tür stehen, die nach rechts in das Schlafzimmer des Jungen führte, und sah mich um. Als wäre es eine Skulptur aus Zündhölzern gewesen, sagte Frau Stennitzer, sei das Häuschen in Flammen aufgegangen.

Draußen vor dem Häuschen im mit Glassplittern übersäten Gras lag die braune Luftmatratze, unversehrt.
Frau Stennitzer erzählte mir, wie und wo sie sie gefunden hatte.
In einiger Entfernung vom Haus habe sie gelegen, neben ihr Bierdosen, Zigarettenstummel und auch ein (sie benötigte ihre ganze Energie, um das Wort auszusprechen) gebrauchtes Präservativ.
Sie habe die Luftmatratze in die Hand genommen, warmes stoffartiges Material, überhaupt nicht glatt, bestimmt für nasse, glückliche Körper, die sich eine Zeitlang im Wasser treiben lassen wollten.
Ohne sich um den Müll, der daneben im Gras lag, zu kümmern, habe sie das luftgefüllte Ding ins Haus getragen. Ihr sei gar nicht klar gewesen, was sie da tat. Im anderen Fall hätte sie es wahrscheinlich gar nicht bis ins Wohnzimmer geschafft, sie hätte die Luftmatratze wohl fallen lassen, vielleicht sogar im Schock den Stöpsel herausgezogen — und wie eine wahnsinnige Albtraumgiraffe hätte diese prustend und stimmlos wiehernd über so viel Unglück im menschlichen Universum ihre Luft von sich gegeben.
Erst als die Luftmatratze auf der Couch lag, sei ihr bewusst geworden, dass es sich um einen riesigen Speicher von Atemluft handle. Dem Lungeninhalt ihres Sohnes. Durch kleine Schleusen verbundene Stauräume wie in einem Öltanker, so dass ein Leck nicht alles sofort zum Sinken brachte. Atemluft. Braun verpackt.
Sie sei aus dem Zimmer gegangen und habe sich gefragt, an welcher Stelle man die Matratze berühren konnte, ohne Schaden zu nehmen.
Der weltweit größte Speicher von Atemluft des verstorbenen Christoph Stennitzer.
Da habe sie lachen müssen, erzählte sie mir.
Ich machte eine hilflose Geste mit beiden Armen und versuchte wieder, Frau Stennitzer tröstend eine Hand auf die Schulter zu legen. Aber sie wich vor mir zurück.
— Wir unternehmen später noch eine Fahrt mit der Seilbahn, sagte sie. Ein paar Freunde und ich. Vielleicht wollen Sie sich uns anschließen, Herr Setz?
— Gern, sagte ich.
— Weil, jetzt waren Sie schon zweimal bei uns in Gillingen und haben die Seilbahn noch nicht einmal aus der Nähe gesehen.
Und für einen Augenblick huschte ein merkwürdiges, fast aufgeregtes Lächeln über ihr Gesicht.
Wie schön das aussah, wenn Papier verbrannte. Man sollte jeden Tag etwas verbrennen, so wie man sich jeden Tag die Zähne putzt.
Die Mappen konnte man vielleicht noch gebrauchen. Robert steckte sie in seinen Rucksack.
Das Angenehmste an der Sache war, dass er gar nicht sagen konnte, warum er es getan hatte. Nur Schurken empfinden keine Reue, Robin. Er lächelte, schloss die Augen und lehnte sich zurück. Ausgebrannt.
Als er aus der engen Seitengasse trat und sich die rußigen Finger an seiner Hose abwischte, musste er an Willis Wohnung denken und an das, was er ihr angetan hatte. Er stellte sich Cordula vor, wie sie viermal am Tag duschte, um den grauenhaften Geruch von ihrem Körper zu waschen. Irgendwann würden sie Kinder bekommen, Willi und Cordula, und sie würden genauso aussehen wie alle anderen Paare. Kein Unterschied.
Und für eine Weile wird das alles noch so weitergehen. Zuerst Distanz, dann Überwindung von Distanz, dann Vereinigung und wieder Distanz.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite ging eine Frau, die mit dem typischen Gesichtsausdruck junger Mütter in den Kinderwagen vor ihr blickte. Sie folgte ihm mit vorsichtigen Schritten, als hätte er, wie ein Rasenmäher, einen eigenen Willen. Bestimmt hatte sie Kopfschmerzen und würde sich demnächst auf ihr Kind übergeben, wie so viele Mütter jeden Tag in diesem Land.
Nach einer Weile erkannte Robert die Gegend wieder. Richtig, das LKH, und hier die Haltestelle der Straßenbahn. Sollte er mitfahren, so wie damals? Eine Frage, wie man sie sich sonst nur auf einem Rummelplatz stellte, vor einer altersschwachen Achterbahn.
Er stieg ein, nickte dem iBall zu und setzte sich auf einen der hintersten Plätze. So würde er eine Sekunde länger Zeit haben, um das Schild an der Konditorei auf sich zukommen zu sehen.
Die Straßenbahn fuhr los. Häuser zogen an ihm vorbei. Parkende Autos. Gleich würden sie die Konditorei erreichen … Die Tasche mit den leeren Mappen hatte er sich auf die Knie gelegt.
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