Als wir das Zimmer des Mannes verlassen, hält mich F. auf, er legt seine Hand auf meine Schulter und übt sanften Druck aus. Das, was Sie gerade gesehen haben, sagt er zu mir, ist ein großer Mann. Ein wirklich großer Mann. Das, was er auf sich zu nehmen bereit war — und immer noch auf sich nimmt —, ist einfach beispiellos. Sie werden so etwas nicht so bald wieder finden, egal, wo Sie danach suchen, Herr Seyss.
[Postkarte, die einen fröhlich lächelnden Hund in einer Raumkapsel zeigt. Blockschrift auf der Rückseite]
Weihnachten, vor den Fenstern dichter, wirbelnder Schnee. Der Versuch, den elenden Plastikbaum aufzustellen. Früher hat mich der Geruch des Holzes und der Tannennadeln noch angeregt, aber diesen geruchlosen Plastikmist möchte ich am liebsten gleich wieder aus dem Fenster werfen. Ich breche einen der künstlichen Zweige ab und verwende ihn als Katzenspielzeug.
[2 Seiten handschriftlich]
Siehe Bericht über Frau aus Großbritannien, die davon überzeugt war, dass ihr Kind ein I-Kind war. Heute ist eindeutig belegt, dass das Kind die üble Wirkung gar nicht besaß. Trotzdem dauerte es ganze sechs Jahre, bis die Wahrheit ans Licht kam, vorher wurde das Kind als I-Kind behandelt, es war die meiste Zeit allein, ein Arzt kam einmal in der Woche und führte innerhalb weniger Minuten, buchstäblich im Eiltempo, seine Untersuchungen durch (und klagte hinterher über Kopfschmerzen). Die Frau sperrte das Kind auch noch über das sechste Lebensjahr hinaus ein, da sie die Wirkung immer noch fühlen konnte, die Schmerz- und Schwindelattacken ließen sich von den wissenschaftlichen Beweisen nicht beeindrucken, sondern verschlimmerten sich nur, da niemand ihr glauben wollte. Sie wusste, sie war felsenfest davon überzeugt, dass ihre Tochter ein I-Kind war, dessen Gegenwart sie langsam zerstörte. Eine andere Erklärung ihrer körperlichen Leiden wies sie entschieden von sich. Schließlich musste das Jugendamt eingeschaltet werden, und es kam zu einem Prozess, an dessen Ende die Mutter das Kind zwar behalten durfte, sich aber einer Therapie unterziehen und regelmäßige unangekündigte Kontrollen durch die zuständigen Behörden in ihrem Heim ermöglichen musste.
Dieser Fall hatte, wie sich herausstellte, eine sonderbare Konsequenz. Zuerst regte er natürlich die Diskussion an, ob nicht viele Indigo-Fälle auf reiner Einbildung basierten. Das unwissenschaftliche Konzept einer rätselhaften Fernwirkung wurde wieder aufgeführt, die mangelhaft durchgeführten Untersuchungen und Experimente, die allgemeine Suggestibilität des Menschen. Alle alten Argumente. Doch dann nahm die Debatte eine überraschende Wendung, eine Artikelserie im Guardian erschien ( Voices from the Void, 1.-11. Mai 2005), in der Eltern interviewt wurden, die wegen Kindesmissbrauch verurteilt worden waren. Und viele von ihnen nannten plötzlich Gründe für ihr unentschuldbares Verhalten, die an I-Symptome denken ließen. Ein neununddreißigjähriger Mann, der seine beiden gerade einmal eineinhalb Jahre alten Zwillingssöhne in eine Waschmaschine gestopft hatte und dort vierundzwanzig Stunden lang eingesperrt ließ (allerdings ohne die Maschine einzuschalten), behauptete, es sei ihm immer gutgegangen, wenn er bei der Arbeit oder unterwegs gewesen sei, no problems whatsoever, aber sobald er nach Hause gekommen sei und dort seine Frau gesehen habe, die sich ausschließlich mit den beiden neuen Mitbewohnern abgegeben habe, sei er wütend geworden, körperlich wütend, da sei ihm die Wut wie ein Blitz in die Stirnhöhlen geschossen und er habe nicht mehr gewusst, wo er sich befinde und was er tue. Eine Frau aus Leeds, die wegen grober Vernachlässigung ihrer Tochter angeklagt und zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt worden war, meinte, sie habe sich gegen den Tinnitus wehren müssen, den sie immer dann bekommen habe, wenn ihre Tochter sich ihr genähert und sie um etwas gebeten habe, wie z. B. ein Paar Socken.
Diese finstere Debatte schwappte schnell auf andere Länder über. Im September erschien eine ähnliche Interviewserie mit gewalttätigen und verurteilten Eltern im Wochenmagazin Stern. Und überall begann es plötzlich von Apologeten elterlicher Gewalt zu wimmeln, doch das wirklich Auffällige
[Computerausdruck, zweimal gefaltet]
Bartleby der Schreiber — es gibt nicht nur diesen einen, es gibt viele seiner Art, viele, viele Bartlebys. In den merkwürdigsten Berufen und Lebensbereichen. So wird zum Beispiel von dem rätselhaften Fall eines Folterknechts in dem berüchtigten kampucheanischen Gefängnis S-21 berichtet. In diesem Gebäude, das früher eine Schule beherbergte, starben Zehntausende Menschen durch die Hand von schätzungsweise eintausendfünfhundert Folterbeamten. Einer davon, ein unter dem Namen Ek bekannter Mann, soll sich eines Tages vollständig den Folterungen verweigert haben. Er saß neben dem Gefangenen, dem er mit Stromschlägen, minutenlangem Eintauchen in eiskaltes Wasser oder grausamen chirurgischen Eingriffen zuerst ein Geständnis abzupressen und den er anschließend zu ermorden hatte, und wiederholte stereotyp ein und denselben Satz, er wolle nichts mehr tun, nichts mehr, nie wieder. Man kam erst nach einigen Wochen dahinter und sperrte ihn ebenfalls ein. Aber selbst dadurch ließ sich der Mann nicht von dem immer gleichen Satz abbringen. Es heißt, ein früherer Kollege hatte schließlich Mitleid mit ihm und tötete ihn mit Starkstrom.
[Ein Briefumschlag mit der Aufschrift Klarstellung. Der einzige in der Mappe. Inhalt: mehrere lose Blätter, eng beschrieben]
In der Seilbahn kündigte sich ein Migräneanfall an. Schon seit meiner Kindheit leide ich unter solchen wiederkehrenden Anfällen, meist werden sie begleitet von Blickfeldverzerrungen, Skotomen und Halluzinationen. Lichter erscheinen am Rand meines Gesichtsfeldes und verändern ständig ihre Form und Intensität, oder es treten blinde Flecken auf und verschlucken Gegenstände an der Peripherie. Eine Vase auf einem Tisch ist aus einem bestimmten Blickwinkel unsichtbar, das Loch im Gesichtsfeld wird von meinem Gehirn einfach in der Farbe der Tischplatte überpinselt: ein leerer Tisch. Lesen und Sprechen wird schwierig, Wörter bleiben zwar erkennbar, wirken aber wie ihre Binnen-Anagramme, Apfel erscheint zum Beispiel als Afpel, auch dann, wenn ich das Wort Buchstabe für Buchstabe untersuche, komme ich einfach nicht auf den Fehler und weiß plötzlich, dass ich mich im Inneren einer Migräneaura befinde. Eine merkwürdige Welt ist das, ein Paralleluniversum, in dem man durch Türen gehen kann, die sich hinterher nicht mehr an ihrem früheren Platz befinden. Man spricht ein Wort aus, und es hat die falsche Farbe. Oder man blickt auf einen Baum und entdeckt Geometrien in der Anordnung seiner Äste.
— Machen Sie’s auf, sagte der Mann mit dem Zwicker auf der Nase.
Ich öffnete den Umschlag und holte das Foto heraus. Eine Aufnahme eines leeren Raums. Nur ein Tisch stand darin. Darauf ein Kaktus in einem Blumentopf.
Ich gab das Bild zurück. Meine Hand hatte zu zittern begonnen. Der Wind pfiff um die stillstehende Gondel. In der Ferne die blinkenden Lichter des abendlichen Gillingen. In den Gondeln vor und hinter uns, unerreichbar, schaukelten die anderen.
— Wir bieten Ihnen einen Tauschhandel an, Herr Seitz.
Ein Vibrieren ging durch die Gondel. Unter uns Bäume, ein Abhang.
— Sie bekommen das, was Sie immer schon wollten.
Er zog etwas aus seinem Rucksack und überreichte es mir. Ein sehr dünnes und ein etwas dickeres Paket Papier.
— Ist nicht gerade Fontane, aber Sie werden feststellen, dass Sie lieber diesen Weg einschlagen, als auf dem zu verfau… zu verweilen, auf dem Sie sich jetzt befinden. Denn dieser Weg führt zu nichts, Herr Seitz.
— Welchen Weg genau meinen Sie?
Ein Knarren in den massiven Stahlseilen, an denen wir hingen.
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