Er blickte auf, legte eine Hand auf die Tischplatte. Er schien vergessen zu haben, warum er sich hier und nicht zu Hause hinter seinem Schreibtisch befand.
— Alles klar, sagte Robert. Aber was ist mit Ihrer Frau? Die ist doch hübsch und –
— Red nicht! Von Dingen, die du nicht verstehst! schrie der Lehrer ihn plötzlich an und sprang auf. Von denen du … Sie absolut keine Ahnung haben! Was glaubst du eigentlich? Meine Frau, das ist doch etwas anderes, also, ich bitte Sie, reden Sie doch keinen solchen Unsinn! Meine Frau, natürlich ist das Liebe, wir sind schon so lange zusammen, viele Jahre, ohne sie, also, ohne sie wäre ich längst –
— Entschuldigen Sie, ich wollte nicht –
— Ohne sie wäre ich gar nicht mehr am Leben! Wie kommen Sie darauf, das vergleichen zu wollen mit … mit …
Er machte eine eigenartige Geste mit der Hand, als würde er Münzen durch den Raum schnippen.
— Tut mir leid.
— Wirkliche Liebe, sagte der Lehrer. Also, ich weiß nicht, wieso Sie jetzt davon anfangen, aber wenn Sie’s wirklich wissen wollen, dann kann ich es Ihnen sagen: Sie haben keine Ahnung, was das ist. Sie sind noch sehr, sehr weit davon entfernt. Mindestens zwei Meter.
Robert blickte verwundert auf.
Der Mathelehrer schüttelte immer noch den Kopf.
— Ich wollte gar nicht davon anfangen, sagte Robert. Ich wollte Sie eigentlich zu Brüssel befragen.
— Wissen Sie, in meiner Bibliothek, begann der Lehrer plötzlich. In meiner Bibliothek, da brennt eine alte Glühbirne, vielleicht die Letzte ihrer Art … jedenfalls ein vom Aussterben bedrohtes Exemplar. Sie sieht aus wie ein durchsichtiges Ei mit einem kleinen, gezwirbelten Draht darin, der zwischen zwei Polen gespannt ist wie ein Seil, über das nur ein räumlich verzerrter Seiltänzer gehen kann.
Er ließ seine Zeigefinger umeinander kreisen.
Robert versuchte sich die Birne vorzustellen.
— Und wenn der Strom eingeschaltet wird, glüht dieser Draht hell auf, die Glühbirne wird sofort brennend heiß, und dieses wunderbare … goldene … staubabweisende Licht ergießt sich in den Raum.
Herr Setz seufzte auf pathetische Weise, als atme er das Licht ein.
— Wir haben, sagte er und deutete mit dem Finger zur Decke der Wirtsstube, wir haben in den letzten Jahren, ja, im Grunde in den letzten Jahrzehnten einem ganz furchtbaren Prozess zusehen müssen, einem Skandal, der furchtbar, wirklich furchtbar ist … nämlich dem allmählichen Wegsterben aller Glühbirnen. Und diese eine, die bei mir zu Hause in der Bibliothek hängt, ist die letzte, die ich besitze. Niemand weiß, wie lange sie noch durchhalten wird. Ich meine, gut, ihr Licht ist immer noch stark und unverfälscht, sie selbst hält sich bestimmt für unsterblich.
Er hustete. Laut und rasselnd. Er hielt sich einen Ärmel vor den Mund. Sein Gesicht lief rot an.
— Einmal, fuhr er fort, an einem Wintertag vor zirka zweieinhalb Jahren, da hat sie ein wenig zu flackern begonnen … und ich hab schon mit dem Schlimmsten gerechnet, mein Gott, ich hab mich gar nicht mehr getraut, das Licht einzuschalten, bin einfach im Dunklen gesessen, mehrere Tage lang. Aber es war nur ein Wackelkontakt, und ich habe den Fehler behoben, indem ich die Birne einfach fester in ihre Fassung geschraubt habe.
Der Lehrer lachte und nahm seine Brille ab, um sie zu putzen.
Robert fragte:
— Wann genau sind Sie in Brüssel gewesen?
— Mein Gott, sagte Herr Setz, was sind das für schöne und trostspendende Erfindungen gewesen, diese kleinen magischen Birnen! Heute hängen überall die energiesparenden und wie zur Verhöhnung aller Älteren schnullerförmigen Lampen mit ihrem leidenschaftslosen, harten, krankenzimmerweißen Licht! Oder diese blöden blinzelnden Augen. Lächerlich. Wissen Sie, in meiner Jugend, da war es noch möglich und vorstellbar, dass ein einsamer Mann in einem schlechtgelüfteten Zimmer seine Verstörung einer nackten Glühbirne anvertrauen konnte, die strahlend hell am Ende der schmucklos aus der Decke ragenden Stromleitung hing. Und wenn er das Fenster aufmachte, dann pendelte sie hin und her … so …
Er machte es vor.
Robert seufzte lautlos. Das hier war kein Gespräch.
— Ihr Licht hat alles in eine dunkelgolden urbane Melancholie getaucht, ein entfernter atheistischer, wenn man so will, hahaha, ja, ein atheistischer Verwandter von de Chiricos safranfarbenem Ewigkeitslicht italienischer Plätze und Statuen, diese Bilder kennen Sie bestimmt, oder? Sie sind doch vom Fach, nicht?
Robert nickte.
— Auch wenn das Licht dabei auf Pizzareste in einem Karton voller sternförmiger Pizzaroller-Kratzspuren gefallen ist oder auf eine Sammlung leerer Whiskeyflaschen neben einem ständig kalten Heizkörper oder auf ein paar bis auf den letzten Rest ausgekratzte Schachteln Tiefkühlschokoladentorte. Hm … ja …
— Herr Setz?
Der Lehrer neigte seinen Kopf etwas zur Seite, aber es war nicht ganz klar, ob er die Frage gehört hatte. Robert überlegte, an welcher Stelle seines merkwürdig unproportionierten Körpers er ihn berühren sollte. Vielleicht würde er ja laut zu schreien beginnen, jetzt gleich –
— Kein Elend dieser Welt, sagte Herr Setz, war einer echten Glühbirne zu groß, kein Schauspiel zu unwürdig, sie hat ausnahmslos alles begossen, hat ihm Widerschein und Schattenwurf gegeben, sie stand in Verbindung mit ihrer Umwelt wie heute fast nichts mehr, dieser kleine, schwebende, wärmespendende Ball aus Energie mitten im Raum.
Standen Tränen in den Augen des verrückten Lehrers? Robert versuchte, genauer hinzusehen, aber Setz wandte sein Gesicht ab.
— Dagegen sind diese neuen Lampen, von denen jedes Jahr angeblich eine verbesserte Generation auf den Markt kommt, von einer geradezu absurden Gleichgültigkeit. (Er schnäuzte sich geräuschvoll in ein Stofftaschentuch.) Ihr Licht befasst sich mit absolut nichts! Weder mit uns noch mit anderen Oberflächen, noch mit den Schatten, die es verursacht. Sie sind ahnungslos und ohne Anteilnahme. Schlecht erzogene, unmenschliche Roboter! Wie wird sich die Seele der Menschen verändern, wenn in den Lampen der Zukunft kein Leuchtfaden mehr zu sehen sein wird? Bald wird die letzte klassische Glühbirnenform in meiner Umgebung der Kopf dieses furchtbaren Mannes sein, dessen gerahmtes Porträt über meinem Schreibtisch hängt!
— Herr Setz, ich würde gerne wissen, in dieser Mappe, die Sie mir gegeben haben –
— Wissen Sie, besonders traurig war ich vor Kurzem über die Meldung, dass jene Glühbirne, die seit 1901 ohne Unterbrechung geleuchtet hat, gestorben ist. Sie war, glaube ich, in einer Feuerwache in Kalifornien beschäftigt. Sie … sie war ein Geschenk des Herstellers an den damaligen Besitzer der Feuerwache. Ja, damals … im Jahr 1901, da war eine Glühbirne eben noch etwas, das man jemandem als wertvolles Geschenk überreichen konnte. Ich glaube, der Name der Lampe war Charles. Oder George. Irgendwie so. Ich bin mir sicher, viele Leute haben noch einige alte Glühbirnen zu Hause, aber wie man sie pflegt, wie man ihr Leben verlängert und ihr Durchbrennen möglichst lange hinauszögert, ist nicht bekannt. Bestimmt gibt es Techniken, ich meine … es kann so schwierig nicht sein. Trotzdem stehen wir heute ratlos vor ihnen, wenn sie plötzlich nicht mehr leuchten, oder wenn sie flackern oder wenn sie ein gefährliches Summen von sich geben, als wären Insekten in ihrem Inneren eingeschlossen, so wie die Menschen früher vor einem Syphilitiker gestanden sind … man konnte ihm nicht helfen, nur die Stadien seines Verfalls in Zeichnungen und Beschreibungen festhalten.
— Herr Setz?
— Hm?
Robert ermahnte sich, jetzt, da er die Aufmerksamkeit des Mannes wenigstens für einen Moment erlangt hatte, nicht zu schnell zu sprechen.
— Sie haben mir Ihre Aufzeichnungen über Brüssel gegeben, erinnern Sie sich?
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