die Vergangenheit
rief Professor Fahmi
sei eben kein erstorbener versiegelter Ort sondern Schauplatz einer ständigen Auseinandersetzung Angriffsfläche von Zerstörungs- und Verschüttungsaktionen nicht nur das heutige Babylon müsse beschützt werden vor Grabräubern und achtlos durch Mauern brechenden Panzern
sondern auch die antike Stadt in die
immer wieder Horden aus der Zukunft einfielen um den Turm den Tempel die Bürgerhäuser mit falschen Farben zu bepinseln oder als Werbeflächen zu missbrauchen als Theaterkulissen für absurde und peinliche Inszenierungen zu nutzen und nicht nur die Bauwerke sondern auch die lebendigen wehrlos dem futurischen Griff ausgesetzten Bewohner der Vergangenheit bedürften unseres wachen selbstkritischen Schutzes
verkündete
energisch lächelnd elektrisierend jeden Einzelnen von uns anstachelnd und einladend durch Fleiß und angespannte Intelligenz auf sein bestes Niveau zu kommen Professor Fahmi der
vor dreißig Minuten
eigentlich seine Vorlesung hätte beginnen oder die angekündigte besondere Mitteilung hätte machen sollen ein schmächtiger in weiten hellen zerknautschten Anzügen steckender Mann mit randloser Brille kleinem Schnurrbart und auf der linken Seite gescheiteltem dichten grauen Haar der zunächst etwas linkisch ja fast komisch wirkt Chaplin-artig und vierzig nein siebzig Jahre verspätet nicht nur eine halbe Stunde
sobald er zu sprechen beginnt in ziseliertem sonoren Hocharabisch oder gepflegtem altmodisch klingenden Agatha-Christie-Englisch (er könnte in einem ihrer Krimis auftauchen eine geheimnisvolle orientalische Gelehrtenfigur ein Doppel- oder Dreifach-Agent) lässt er das bloß Äußerliche vollkommen vergessen hebt er uns fort von dem chaotischen lärmenden gefährlich überhitzten Moloch der Stadt sogar die Schüsse die immer mal wieder herüberhallen wie jetzt und uns zusammenzucken lassen
wirken in seiner Gegenwart nur
lästig
wir sind gerade noch achtzehn Studierende in dem halbdunklen Seminarraum zwölf Männer und sechs Frauen ein neuer Ventilator läuft an der Decke mit einem unangenehmen Beigeräusch als würde man immer wieder mit dem Daumen einen Stapel Papier an der Kante auffächern zu Studienbeginn waren wir vierunddreißig selten erfahren wir was der
Abgang
bedeutet ich bemühe mich zwischen der Parfum ausschwitzenden nervösen Fatima und der mageren schwarz verhüllten anscheinend von allem ungerührten Ikbal nicht zu oft zur Tür hin zu schauen neben der Akram in seinen Jeans und dem auberginenfarbenen Hemd sitzt liebte ich nicht Dich so hoffnungslos und so tief verbunden mit meinem eingesperrten traumverlorenen sehnsüchtigen Leben dann würde ich mich öfter und freimütiger mit Akram unterhalten er ist der beste Student der lässigste und selbstsicherste stell dir das Glück vor ein Akademikerpaar mit demselben Fach zu sein zusammen zu studieren zu promovieren und weiter sage ich zu Huda mit der ich nur noch in Fantasie-Verbindung stehe ach ihr zwei Eierköpfe in London oder Paris sagt sie spöttisch und zack! wärst du so unglaublich schwanger oder er erwiese sich als Feigling wie dein sauberer Schwager Kasim der sich nicht mehr bei euch blicken lässt noch nicht einmal nachdem Jasmin freikam
der Assistent von Professor Fahmi
betritt plötzlich den Raum sieht gequält zu dem scharrenden Ventilator empor hält sich an einem Stapel Papier fest wo er doch sonst recht selbstherrlich auftritt geht er nun herum wie ein Werbezettelverteiler und drückt jedem den Schein für dieses Semester in die Hand es
sei leider nicht möglich dass Professor Fahmi persönlich komme es sei auch nicht möglich dass er seine Vorlesungen noch zu Ende bringe darüber hinaus dürfe wolle und werde er nichts erzählen
Professor Fahmi sei bereits
im Ausland
wir brauchten drei Stunden um jemanden auf dem Campus zu finden der uns unter vorgehaltener Hand erklärte dass Fahmi zwei Todesdrohungen erhalten habe von schiitischen Milizen oder von Al-Qaida-Leuten vielleicht treffe auch beides zu
bald wird es das letzte Mal sein
dass ich über den Campus gehe ich spüre es ich muss schon lange mit Tarik streiten nach jedem Attentat und jeder bekannt werdenden Entführung will er mich wieder nach Wasiriya verfrachten ich gehe noch einmal in die Bibliothek der man fünf neue Computer gespendet hat aber bislang noch keinen der sie vernetzen kann und
sitze schon wieder mit den drei anderen jungen Frauen im Bus der rasch in den Strom der in dieser Gegend sehr gut ausgebauten Straßen stößt aber zu nervös beschleunigt zu heftig bremst sobald eine Ampel auf Rot springt oder sich ein Hindernis anzudeuten scheint zwei amerikanische Hubschrauber knattern über der Dachkante eines Bürogebäudes hervor keine mächtigen Apache sondern kleinere wendigere aber auch nach irgendeinem Indianerstamm benannte Sami wüsste wie sie heißen er hat vielleicht sogar das Cockpit eines solchen in seinem Flight Simulator mit dem er fast nur noch spielt um (gemeinsam mit seinem Cousin am Wochenende in Wasiriya) verschiedenartige Flugzeugmodelle in das World Trade Center krachen zu lassen sie fliegen über das Inselchen mit der Freiheitsstatue hinweg direkt auf die Spitze Manhattans zu es endet immer mit einem Verhau aus Linien und flaschengrünen scherbenartigen Flächen und einer
Fehlermeldung
manchmal wartest du darauf dass über den Straßen Bagdads auch so eine Fehlermeldung erscheint und du einen Knopf drücken könntest um alles (was alles bis wohin) rückgängig machen zu können was
bringt deinen kleinen Bruder dazu die endlich verfügbaren Zugänge zum Internet zu nutzen um sich ruhmvolle Al-Qaida-Attacken auf amerikanische Soldaten Geländewagen und Panzer anzuschauen (sieht er sich auch diese Enthauptungen an) er geht nicht mehr regelmäßig zur Schule (vermute ich) Tarik verliert ihn aus den Augen er hat Freunde mit denen man sich keinesfalls unterhalten möchte und ich sage nichts wenn er zu ihnen geht statt
auf mich aufzupassen (mich zu beschützen zu nerven)
es war nur eine Fahrt wie diese hier
im Juli vergangenen Jahres in sengender Hitze durch eine Nebenstraße in Ischbilya Sami und Yusuf waren mit einem Onkel von Yusuf mitgekommen um ihm zu helfen einige Möbelstücke auf seinem Pickup zu transportieren und der kleine Achmed war hinzugesprungen und hatte sich auf den Schoß seines älteren Bruders gedrängt er
war seltsamerweise der Erste gewesen der richtig reagiert hatte als Schüsse aufpeitschten einige vermummte Gestalten über die Straßen huschten und gleich darauf amerikanische Soldaten in voller Kampfmontur erschienen das weiße
Spinnennetz
das mit einem Knall auf der Scheibe des Pickups in alle Richtungen schoss
begann zu bluten
und nur weil Achmed drängte verzweifelt nach dem Türhebel suchte und von Yusufs Schoß zu kommen versuchte begriff Sami dass tatsächlich eine Kugel den Onkel mitten in die Stirn getroffen hatte und sie ließen sich alle drei aus der aufgestoßenen Beifahrertür zu Boden fallen und lagen still im Schutz des Wagens dessen Motor mit einem heftigen Ruck abgewürgt worden war
sich nicht zu bewegen
war gewiss das Beste Sami hatte Angst die Schüsse würden den Tank treffen und den Pickup in Brand setzen aber noch mehr fürchteten sie durch die geringste Regung jemanden zu provozieren sie lagen wie festgenagelt als hechelten keuchten direkt über ihnen riesige Bluthunde aus Stahl um beim geringsten Anlass zuzuschnappen nach
zwanzig oder dreißig Minuten die sie wie wahnsinnige Schläfer platt auf der Straße verbrachten während das Blut des Onkels auf den Boden des Wagens tropfte mit dem schrecklichen Geräusch eines defekten Wasserhahns bis es von einem in der Nähe angeschalteten Radio mit Popmusik übertönt wurde es war als begänne jemand gelangweilt Geschirr zu spülen nachdem eine Zeitlang keine Schüsse mehr gefallen waren
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