Sie erschreckte dich jedesmal. Du wusstest, sie würde dort sitzen, immer auf dem gleichen Platz, die Arme auf dem runden Tisch. Trotzdem. Es war jedesmal, als risse der Spalt noch ein bisschen weiter ein, du zucktest zusammen. Als versuchte auch sie noch, ihren Kopf hindurchzuzwängen, und gewaltsamer als er. Er hatte den Spalt nur zufällig entdeckt und sah ohne Neugier hindurch, sah gar nicht dich, sondern etwas, was ihm gefiel, für das er die Ursache zu sein glaubte. Furcht. Du fühltest den kalten Boden an deinem Rücken, versuchtest, ihn mit so wenigen Stellen wie möglich zu berühren, Ringer fielen dir ein, das Wort ›Schultersieg‹. Sie baumelten über dir, diese beiden Gesichter im Spalt, wie zwei Luftballons kurz vor dem Platzen. Sie guckten sich an und konnten sich nicht mehr halten vor Lachen. Ihre Lache fiel wie Konfetti auf dich. Du würdest für Jahre erkennbar sein als ein Gast dieser geschmacklosen Feier, für die du erst gar nicht die Einladung ausschlagen konntest, weil es keine gab. Du hattest nicht mal eine Sicherheitsnadel parat. Aber glaubtest du, du könntest platzen lassen, was sich da über dir aufgeblasen hatte, ohne dass es einen Knall gäbe, glaubtest du das wirklich, an jenem Abend? Glaubtest du, du könntest einen Riss wieder zusammenflicken durch deinen bloßen Willen? Glaubst du das immer noch?
Du bist froh, dass Michael und Paul nicht da sind, noch nicht zurückkommen und das Licht anmachen, immer noch wegbleiben, von dir. Und wo könnten sie weiter weg sein als auf diesem — Dorffest, nicht wahr.
Wo hätte er weiter weg sein können als dort, an diesem Abend, nachdem die Demonstrationen überstanden waren, eine Art Faschingsumzug durch Schmalditz, so kam es dir stets vor, ein verordnetes Verkleiden. Monströs, keineswegs eine Demonstration: wofür denn oder wogegen. Ja, du warst für den Weltfrieden, wenn es das war, was sie hören wollten, ja, du warst gegen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, wer nicht. Und, hat es etwas genutzt? Es stellte noch nicht mal eine Demonstration von etwas dar. Wovon denn, es gab doch nichts. Nichts außer dem Vergehen von Tagen, dem Warten auf das Ende der Woche, das Ende der Schulzeit, das Ende des Lebens, nach dem nichts mehr kam. Dafür musste man nicht auf die Straße gehen. Aber man musste.
Und musste man denn auch in den Dorfkrug gehen und gesellig sein und sich Schnäpse genannt» Schlüpferstürmer «ausgeben lassen und sich übers Parkett schieben lassen und sich anfassen lassen unter der blauen Bluse, draußen, im Dunkeln? Nein, das musste man nicht. Aber du wolltest das sehen. Dass man das nicht musste, und aber auch, dass man dafür nicht zu Hause bleiben musste, dass man sich sein Alleinsein nicht wegnehmen lassen musste, indem man es umschmieden musste in Einheitlichkeit oder Einsamkeit. Du wolltest es sehen: dein Alleinsein, ganz und ohne Risse, ohne auch nur eine fadenscheinige Stelle. Du zogst es an und gingst hin. Deine Mutter saß in der Küche und versuchte wieder, in deine Augen zu sehen, aber sie sagte nichts, als du auch nichts sagtest, nur weggingst. Als du wiederkamst, saß sie nicht mehr da. Daran kannst du dich nicht erinnern.
Es war voll, voller als auf jeder Versammlung, diese schwänzte keiner. Das ließ sich keiner entgehen. Dich anzusehen. Du brachtest schon wieder etwas durcheinander. Es war doch kein Plan gewesen. Keiner, von dem einer was gewusst hätte. Also eine Überraschung. Du erkanntest nicht sofort alle, du tratest vom Dunkeln ins Helle, du sahst sofort weg. Ihn konntest du nicht erkennen, also war er nicht da. Es machte dir nichts aus. Aber es brachte dich auf einen Gedanken, den du erst beiseite schobst, in den ersten Schnaps tunktest wie in Vergessen, der dir aber gleich wieder einfiel, als er später doch noch auftrat. Applaus. Wie hätte er fehlen dürfen, der Sohn des Bürgermeisters. Du warst dir sicher, du wärst nie auf diesen Gedanken gekommen, wäre er von Anfang an dagewesen. Hätte er dich von Anfang an nicht angeguckt. Es war kein Plan, gewesen.
«Einen Schnaps, bitte«, sagtest du zum Kneiper, als du dich an die Bar setztest. Zu Eddi, dem Älteren der beiden Storcks, er war dir lieber.
«Frollein Ingrid!«, sagte Eddi Storck.»Na, dat is ja mal ne Überraschung!«Er blinzelte dich an, als könne er dich durch den Qualm nicht richtig sehen, kaum ausmachen, ob du es warst.»Also …«Du hattest den Eindruck, er mochte dich. Trotzdem brauchtest du dir von ihm nichts gefallen lassen.
«Einen Schnaps, bitte, hab ich gesagt.«
«Ja — ja ja. «Seine Hände flatterten hin und her wie seine Augen. Du wolltest nicht das achte Weltwunder sein. Du wolltest allein sein. Sichtbar für alle.
«Nen Pfeffi, Frollein Ingrid?«Eddi Storck ging dir auf die Nerven. Er wollte bloß nett sein. Du wolltest etwas anderes.
«Einen Klaren. Doppelt. «So musstest du nicht gleich wieder seine hellbraunen Augen bemerken, die aufgescheucht in ihrem engen Gehege umherflitzten wie Wachtelküken.
Der Schnaps war scharf und gut. Du trankst sonst keinen Alkohol, wann denn. Du spürtest ihn in der Kehle, im Magen, das war gut. Es war so, wie du es wolltest. Wie es auch mit ihm gewesen war, am Anfang. Nichts, was sich erklären ließe.
Du knalltest das Glas auf die Bar, es knallte von alleine, du wolltest das nicht, nicht wie in einem billigen Western. Dir war, als übertöne das Knallen alle Geräusche im Saal, alle Gespräche, über dich. Was bildetest du dir ein.
«Noch einen«, sagtest du leise. Eddi sah dich erschrocken an. Beim Einschenken ging ihm die Hälfte daneben. Der machts hier auch nicht mehr lange, dachtest du. Das ›auch‹ fiel dir nicht weiter auf.
Er schob sich plötzlich in deinen Augenwinkel, zusammen mit ein paar anderen, die ihn weiter und weiter in dein Blickfeld drängten, aber du ließest es nicht zu, du drehtest den Kopf Stück für Stück in die andere Richtung, justiertest ihn genau so, dass gerade er, geradeso noch darin blieb, und verschwommen blieb. Ein Verschwommener. Der Hecht im Karpfenteich, verirrt. Hechte sind Kannibalen, das wusstest du von Peter. Aber du warst nicht von seiner Sorte, er erkannte dich nicht. Du warst wie ein Kind, das denkt, wenn es die anderen nicht sieht, können es auch die anderen nicht sehen. Wenn er bei dir lag, kniffst du die Augen zusammen, hängtest ihm einen Wimpernschleier um, so mochtest du ihn am liebsten. Wenn er aufbrach, nervös, hastig, drehtest du dich ebenso hastig um. Du warst nicht nervös, du wusstest nicht, was das bedeuten soll.
Als du dich umdrehtest, kniffst du die Augen zusammen, vielleicht war es eine Angewohnheit. Du sahst in den Saal wie in die Sonne. Jeder musste denken, dass du gerade ihn fixiertest. Gerade ihn fixiertest du nicht, aber auch sonst niemanden, du zeigtest dich. Aber niemandem. Du warst für niemanden da. Du musstest das nicht verstehen. Du warst da.
Es war Neumond. Zuerst sahst du nichts als das Flackern der Laterne, ein Wackelkontakt, vielleicht nicht mal das. Das Wort ›nervös‹ fiel dir wieder ein. Nein. Du hattest in Ruhe deinen letzten Klaren getrunken, er brannte kaum noch, alles lässt nach, hattest du gedacht, dann warst du vom Hocker geglitten, deine Beine waren lang genug, dass du nicht albern hattest herunterhopsen müssen, dann warst du über das Parkett und nach draußen gegangen. Du versuchtest dich zu erinnern, welche Musik sie gespielt hatten. Es musste welche gegeben haben, du probiertest verschiedene Schlager in deinem Kopf, keiner passte. Es machte dich wütend. Du warst nicht betrunken, so viel stand fest. Das machte dich auch wütend. Du stiefeltest dreimal um das Kulturhaus, stolpertest dir einen Weg zurecht über Grasbüschel und durch Vorjahreslaub, du wolltest noch nicht ins Bett.
Der kleine Teich zog dich an, du tapptest bis zu seinem Rand, bis die Nässe deine Schuhspitzen durchdrang, und beugtest dich darüber, du konntest absolut nichts erkennen. Kein Entenflott, kein Spiegelbild, nichts. Du fragtest dich, ob es um diese Zeit denn schon Entenflott gab. Irgendetwas an der Frage erschien dir merkwürdig, vielleicht, weil du noch nie darüber nachgedacht hattest. Du hättest fast gelacht. Dir kam das Flugzeug in den Sinn, das in den Teich gestürzt war, es musste ein Ereignis gewesen sein, alle wussten davon, einschließlich dir, oh ja. Du stelltest es dir vor, du empfandest so was wie Mitleid. Mit dem Teich. Fast hättest du geweint. Niemals warst du Schlittschuh gelaufen auf diesem Teich, so wie jetzt die jüngeren Mädchen, du konntest sie sehen aus deinem Zimmerfenster, durch die kahlen Büsche hindurch, sie blieben bis zum Dunkelwerden. Du dachtest, du könntest es vielleicht Heiligabend probieren, gegen fünf, wenn es dämmerte und alle bei der Bescherung hockten. Dir wurde auf einmal ganz wunderlich zumute. Du warst es nicht gewohnt, Pläne für die Zukunft zu machen.
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