Ich winke Mama und Papa zu, die sich haben breitschlagen lassen, die Fressalien zu verkaufen, das heißt, Mama hat sich wie üblich verpflichten lassen, um nicht zu sagen selbstverpflichtet, und dann Papa so lange zugesetzt, bis er sich bereitfand, den Grill zu übernehmen.
«Wollt ihr ne Wurst?«, ruft er uns zu, ich glaub, er freut sich sehr, uns zu sehen, was mir irgendwie überhaupt nicht passt. Dass er seit geraumer Zeit auch die Meinung vertritt, ich müsste mehr unter Leute, von der er auch noch glaubt, es sei seine eigene. Ich schüttle den Kopf und muss an neulich denken, als Ellas Vater bei uns in der Küche saß und mit Papa gesoffen hat, so sah das jedenfalls aus. Ich wusste nicht, was ich seltsamer fand: ausgerechnet den bei uns sitzen zu sehen, mit dem Papa sonst gar nichts zu tun hat, oder festzustellen, dass zwar der, aber nicht Papa besoffen war. Irgendwas stimmte doch da nicht. Dass Papa mir dann auch noch was anbot,»Wist n Schnaps?«, nahm ich geradezu als Beweis. Trotzdem war auch plötzlich in dem Moment alles so richtig zwischen uns wie schon lange nicht mehr. Für ein paar Sekunden hatte ich den Eindruck, dass wir uns zum ersten Mal als zwei selbständige Menschen betrachten, die sich zufällig recht ähnlich sind.
Paul hat sich eine Wurst geholt, das Geld dafür hat Papa entschieden zurückgewiesen. Keine Ahnung, was er von ihm hält, aber anscheinend mehr als Ellas Vater, der wohl schon ein paar blöde Bemerkungen über Paul losgelassen hat. Als ich sie fragte, was denn, da ich mir gar nicht vorstellen kann, was es da Negatives zu bemerken gibt, hat sie bloß abgewunken. Wirklich, es ist mir unbegreiflich, wie jemand Paul nicht gutfinden kann, was auch fast wieder ein Problem darstellt, denn wie gut Mama ihn findet, muss ich mir ja täglich nicht nur ansehen, sondern auch anhören. Sie würde ihn umstandslos als Schwiegersohn akzeptieren, und wie bitte sollte ich diesen Umstand akzeptieren?
Wir nehmen an einem der Tische Platz, die nicht mal zur Hälfte besetzt sind, wer auf sich hält, steht an der Bar. Mit einigem Erstaunen gucke ich auf Ellas Kartoffelsalat. Die scheinen sich ja beide recht wohl hier zu fühlen, sie und Paul, während ich mir wie die weiße Massai vorkomme. Ich dachte vorher, na gut, gehen wir hin, das ist die Gelegenheit, es mal zu sehen, auch wenns da nichts zu sehen gibt, aber dann weiß man wenigstens, worüber man spricht, abfällig, wir setzen uns ja nichts aus, wir tun einfach so, als machten wir es für Paul, eine Art touristische Führung. Oder wie man zusammen in so ein bierernstes Museum spaziert, einzig mit dem Zweck, sich mutwillig über die Exponate lustig zu machen. Und dann lacht man unversehens alleine und kommt sich plötzlich sehr dumm vor und hofft, dass es sich umgekehrt verhält. Dass Paul das hier alles nicht sehr merkwürdig zu finden scheint, wundert mich zwar, aber dass Ella sich wie in die Normalität schlechthin hineinhockt, stimmt mich beinahe misstrauisch.
Auf einmal entdecke ich Pauls Vater und in ihm schlagartig einen Verbündeten, denn für sein Hiersein, das mir wie ein Zeichen der Errettung vorkommt, wie ein bestimmtes Element im Traum, das einen plötzlich wissen lässt, dass man träumt und also nicht wirklich zu dieser seltsamen Gesetzen gehorchenden Welt gehört, dafür also kann ich mir keinen anderen Grund denken als eben einen, der meinem nah verwandt sein muss. Ich stupse Paul an:»Dein Vater ist da«, ich sage es ganz unwillkürlich so, als müsste das auch ihn erlösen. Er guckt aber nicht mal hoch, ich sehe bloß, wie er mit den Augen rollt, als er sagt:»Ich weiß — field research, you know«, woraufhin er ein großes Stück von seiner Wurst abbeißt. Er macht» ha-ah «und wedelt mit der Hand, sagt» heiß«und» gut «und wirkt insgesamt sehr beschäftigt. Dann hält er sie mir hin, die Wurst:»Möchtest du probieren?«Er lächelt. Ich starre auf dieses rosabraune, fettig glänzende, längliche Etwas, das sich Bockwurst nennt und in seiner ganzen Art schamlos auf seinen kreatürlichen Ursprung verweist, ja, fast selber noch Kreatur oder, schlimmer, eins ihrer abgetrennten Glieder zu sein scheint, ein pralles Körperteil. Ich neige mich vor und nehme die Wurst vorsichtig zwischen meine Zähne, ich versuche, sie nicht mit den Lippen zu berühren, und komme mir doch, ich weiß auch nicht, wieso — obwohl ich natürlich weiß, wieso — , ungeheuer obszön dabei vor. Dann knackt es,und ich habe ein Stück davon zwischen Zunge und Gaumen. Bock-Wurst. Stier-Bier.
Gleich darauf schwenkt Paul die Wurst zu Ella, aber sie will nicht. Sie guckt ihren Kartoffelsalat an, dann zeigt sie, den Mund voll, mit der Gabel drauf und blickt hoch zu Paul, fragend. Er nickt, langt rüber, und ich sehe zu, wie Ellas Gabel in Pauls Mund verschwindet. Und wieder zurückwandert in Ellas Hand. Ellas Mund. Ella schiebt mir den Teller hin. Ich schüttle den Kopf,»na los«, sagt Ella, und ich nehme schnell einen Haps. Er schmeckt erstaunlich gut. Er schmeckt wie — das ist unser Rezept! Ohne Eier, mit Gurken, und» DDR-Mayonnaise«, wie Mama das nennt, als hätte sie gleich neben der Garage einen Bunker mit Restbeständen. Ich gehe zu ihr.
«Einmal unsern Kartoffelsalat. Bitte.«
Sie grinst mich an.»Nimm doch auch ne Wurst.«
Wobei sie den Satz so intoniert, als wolle sie mich nicht in erster Linie zu einer Wurst, sondern zu einem ›Auch‹ überreden, einer ganz speziellen Ware, die es nur unterm Ladentisch gibt. Womit mir klar ist, dass sie das eben alles live und in Farbe mitbekommen hat.
«Ich will keine Wurst«, sage ich, und es klingt so bockig, wie nur Lügen klingen können. Ich bin hergekommen, um zu beobachten. Nicht, um auch unter Beobachtung zu stehen. Betonung auch auf ›auch‹.
Aus dem Augenwinkel sehe ich Ecki und Konsorten das Zelt entern. Das fehlt ja grade noch. Oh Scheiße. Mama merkt auch sofort wieder alles und sagt:»Die tun dir doch nix!«
Nein, die tun mir nix, oh Mann! Als ob es darum ginge! Aber wieso denk ich da erst jetzt dran? Wie doof bist du denn eigentlich, Romy? Regel Nummer zweihundertsiebenunddreißig: Wenn deine Mutter Jugendclubleiterin ist, kannst du nicht auf die Elpe gehen. Warum nicht? Darum nicht. Dass diese Regelverletzung bisher noch nicht geahndet wurde und mir deshalb noch gar nicht richtig zu Bewusstsein gekommen ist, liegt ja bloß daran, dass bisher noch nicht wieder Club war, weil Mama Urlaub hatte. Das war schon anstrengend genug. Aber jetzt auch noch täglich zu zittern, dass Mama mich, ausführlich in Kenntnis gesetzt von IM Gartenzwerg alias Ecki und seinen Helfershelfern, über meinen außerplanmäßigen Elpebesuch zur Rede stellt, ach was, auch nur anspricht, geht über meine ohnehin angegriffenen Seelenkräfte. Dass sie erfährt, dass ich da war, ist das eine und vielleicht gar nicht so Uninteressante, denn ich wäre gespannt, ob sie dann immer noch die Ansicht verträte, ich solle mehr unter die Leute, oder ob sie dann anfinge, bestimmten Individuen den ›Leute‹-Status abzuerkennen. Grenzen zu setzen, was ja mal etwas direkt Erfrischendes hätte. Das andere, den reinen Umstand unangenehm Überlagernde wäre natürlich das Gesprächsprotokoll. Die Hasen und so weiter. Selbst Mamas gelassenste Reaktion darauf stellte immer noch eine schwere Heimsuchung dar, wenn nicht gar die schwerste: Sie würde vielleicht darüber lachen, es höchst amüsant und ein wenig schockierend finden, was die einfallsreiche Tochter sich da wieder ausgedacht hatte, und: sie würde beifällig nicken,»stolz «auf mich sein, mir förmlich auf die Schulter klopfen. Dafür, dass ich mir» von den Jungs nix gefallen «lasse, dass ich endlich» Selbstbewusstsein «bewiesen hätte, und alles mit dem Untertext: Siehste! Oh, wie sie alle, allen voran unser Geschichtslehrer Herr Jürg, immer um mein» Selbstbewusstsein «besorgt sind, es stets und ständig stärken wollen, zum Beispiel, indem sie mir schon jetzt andeuten, ich solle doch die traditionell vor Ostern fällige Judika-Rede halten. Herr Jürg zwinkerte mir zu. Herr Würg. Mir wurde wirklich übel, als er noch hinzufügte:»Sollst mal sehen, wie gut das für dein Selbstbewusstsein ist! Du kannst das doch!«Ich frage mich, ob ich mir eine derartige unausgesetzte Beleidigung eigentlich bieten lassen muss, und versuche mich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass Leute, die keine Ahnung haben, einen eigentlich auch nicht beleidigen können. Ich meine, weiß Jürg irgendetwas über mich, außer dass ich seit der Neunten Geschichte bei ihm hatte und zwischenzeitlich auch mal Deutsch? Die Antwort ist ein uneingeschränktes Nein. Da weiß ich ja noch mehr über ihn, logischerweise, weil einfach mehr dabei herauskommt, wenn hundert einen beobachten als umgekehrt. Zum Beispiel, dass er sich seine Schnotterbremse färbt. Lächerlich! — Natürlich kann ich es; ich weiß nicht, was sie alle dazu treibt, mich zu Sachen ermutigen meinen zu müssen, die mich schlichtweg nicht interessieren! Woher kommt bloß dieser unerschütterliche Glaube, dass das, was man kann, auch das ist, was man will? Beziehungsweise umgekehrt: dass gewisse Defizite, die man auf einem Gebiet aufzuweisen scheint — zum Beispiel auf dem der Busenfreundschaft samt Bussi links und rechts mit Hinz und Kunz — , zwangsläufig auf Unvermögen zurückzuführen seien. Und nicht auf Unwillen.
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