«Ich muss dir was sagen«, sagt Ella. Zu Paul.
«Was?«, fragt er.
Sie wirft mir einen Blick zu, den ich normalerweise als Aufforderung zu schleunigster Entfernung gedeutet hätte. Aber das glaub ich einfach nicht. Sie ist doch nicht etwa drauf und dran, aus welch desperater Übergeschnapptheit auch immer, ihm etwas zu sagen, das mich nichts angeht. Und ob mich das was angeht! Trotzdem frage ich, so kalt wie noch möglich:»Soll ich gehen?«
«Nein«, Ella sieht mich verwundert an,»du weißt das doch auch noch nicht, oder?«
«Was?«, frage ich gereizt. Wie soll ich wissen, ob ich etwas weiß, von dem ich nicht weiß, was es ist? Ich verspüre eine gemeine Lust in mir, Ella die Grenzen ihrer Logik auseinanderzusetzen. Aber sie hat sich, meines gespannten Zuhörens offenbar sicher, längst wieder Paul zugewandt. Sie sagt mit ihrer tiefsten Stimme:»Du hast einen Halbbruder.«
Fast hätte ich aufgelacht. Es klang wie in einem schlechten Ganovenfilm. Er hat einen Halbbruder, Gamaschen-Joe! Einen was? Es klingt auch nicht wie etwas, das vollkommen den Tatsachen entspricht. Eher wie — eine Prophezeiung. Andererseits viel zu konkret dafür und gerade deshalb so unglaubhaft. Bestenfalls noch wie eine Diagnose von etwas zwar nicht Erfreulichem, aber im Grunde Harmlosem: Sie haben Senk- und Spreizfüße.
«Was?«, fragt Paul.
Ella kneift die Lippen zusammen.»Na ja — wie dein Bruder. Nur halb. Also — er hat einen anderen Vater, logisch.«
Logisch?
«Und — wer, ich mein, wer ist der Vater?«
Das erscheint mir vollkommen unlogisch. Dass er gerade diese Frage stellt. Offenbar geht das sogar über Ellas Logikverständnis.
«Wieso — also, keine Ahnung. Aber deine Mutter — mein Vater hat das bloß gesagt, ich mein, er kannte sie doch — also, dass sie schon ein Kind hatte, als sie wegging — von hier. Einen Sohn.«
Ich bin kurz irritiert, als sie» von hier «sagt. Als wäre es das ›Hier‹ gewesen, es hörte sich komischerweise so an, als hätte sie das Kind ›von Hier‹ bekommen, als wäre ›Hier‹ der Vater. Wie ein Vexierbild, oder so, wie mich früher immer Gesichter aus den Tapetenmustern ansprangen, die ich ewig anstarrte, so wie wir ihr beide jetzt auf den Mund starren, als könnte uns eine seiner Bewegungen verraten, worum es hier eigentlich geht. Um den Halbbruder, ja klar. Um den Außerirdischen.
«Denkt ihr, er hat mich angelogen?«Ihre Augenbrauen schieben sich wie schwere Wolken zusammen.
Äh — ja.
«No«, sagt Paul.
«Du wusstest das?«Ich bin nicht sonderlich erstaunt.
«Nein. Nicht genau. Ich wusste nicht das. Aber ich dachte immer, you know — sie ist — sie hat — wie ein Geheimnis, also — sie sagt nicht alles.«
Er sieht mich an. Ich nicke. Ich kenne sie gar nicht, seine Mutter. Ingrid.
«Und wo ist er, mein — Halb-Bruder?«
Ja, genau, wo ist er denn, der Mister Half-Brother? Semi-? Hört sich beides nicht richtig an, es hört sich einfach nicht richtig an. Paul und ein Halbbruder! Kann ja jeder kommen und verkünden, er sei der Neffcousin von Paul McCartney.
Ella seufzt, als frage sie sich, was sie sich da nun bloß eingebrockt hat. Tja.
«Na ja, also — das ist ein bisschen …«
Aha.
«… also — er heißt Henry, Henry Hanske, und …«
Nein!
«… er ist nicht ganz, also — «Sie macht eine Drehbewegung mit dem Zeigefinger in Höhe ihrer Schläfe und presst die Lippen aufeinander.»Also — «
«Disturbed?«, fragt Paul.»Mad? Lunatic? Idiotic? Or just a bit crazy?«
Ella scheint einen Moment zu überlegen, dann nickt sie.»Crazy. Ja.«
Paul klatscht in die Hände, schüttelt den Kopf. Er murmelt etwas,»I knew it«, oder so.
«Nein«, sage ich.»Ill. Really ill. «Und zu Ella, geflüstert:»Er war das doch, oder?«
Sie runzelt die Stirn.
«Die alte Frau«, zische ich.
«Achso«, flüstert sie zurück.»Ja.«
Sie sieht aus, als hätte man sie bei einem Fehler ertappt. Sie tut mir leid. Pauls Blicke pendeln zwischen uns hin und her, er runzelt die Stirn.
«Wollen wir vielleicht woanders hingehen?«, fragt Ella leise. Gute Idee, wirklich, die beste Idee an diesem Abend.
«Hi. «Auf einmal steht Pauls Vater neben uns. Paul sieht ihn an, als müsste er sich erst erinnern, wer das ist.»Dad!«, sagt er.»Please, go home. Stop your fucking second hand life!«
Sein Vater verliert sein Lächeln, ganz plötzlich, als wäre es ihm vom Gesicht gefallen. Aber überrascht wirkt er nicht. Jedenfalls nicht so überrascht wie wir.»Hey«, sagt er bloß.»Don’t you tell me what I gotta do!«
Paul drängt sich an ihm vorbei.»Research! You don’t know anything!«
«And you? Do you know somethin’?«Er springt kein bisschen aus dem Anzug. Paul bleibt nicht stehen, ruft ihm bloß zu, ohne sich umzudrehen:»At least I know somethin’ about ’er. «Wobei er merkwürdigerweise das ›I‹ betont. Solche Sachen fallen mir immer auf.
Wir rauschen förmlich an Ecki und Co. vorbei, Paul voran, Ella und ich hinterher.
«Mannomann, die hamt aber eilig! Flotter Dreier, wa?«, ruft Ecki uns nach. Oder irgendeiner. Irgendein Idiot.
Du wolltest da nicht hingehen, es wäre dir nie in den Sinn gekommen, genauso wenig wie heute, es war genauso unmöglich. Es hat sich nichts geändert. Das beruhigt dich, denn darin kennst du dich aus, in Unmöglichkeiten. Schließlich lebst du in einer. Aber du warst genauso alleine wie heute abend, und deine einzige Furcht war, jemand könnte kommen und es dir wegnehmen, dein Alleinsein. Endgültig, denn den Verdacht hegtest du seit Längerem. Dass da etwas eingerissen war. Dass du etwas hattest einreißen lassen, mehr als ein Häutchen, und durch den Spalt zwängten sich Gesichter, die dir fremd vorkamen, weil du sie nie hattest sehen wollen, so widerwärtig genau. Du hattest doch diese Fähigkeit gehabt: jemanden zu erkennen, von Weitem, ohne in sein Gesicht sehen zu müssen. Sobald du ihn erkannt hattest, sahst du weg. Ihn. Das wolltest du dir lange zugute halten: dass du ihm nie in die Augen geguckt hast, oder fast nie. Dass du dir nie in die Augen gucken ließest, in die Karten, nicht wahr. Nur Luschen, anyway. Deine Mutter wusste Bescheid, auch so. Auch sie glaubte nicht mehr an ein passables Blatt. Aber offenbar an die Möglichkeit eines Bluffs. Sie kannte deinen Partner nicht. Und doch hättest du mit keinem anderen spielen können. Es gibt so ein Wort, du kanntest es nicht: satisfaktionsfähig. Das war keiner, du sowieso nicht. Er auch nicht. Aber er war wenigstens größer als du. Es war gar kein Spiel. Es war ein Duell. Am Ende war einer tot. Zuerst dachtest du, du wärst es. Auch später noch verließ dich der Argwohn nie ganz. Es gab keine Zeugen. Keine Sekundanten. Sogar er war ohne alle seine angetreten. Fast fühltest du dich bestätigt in deiner Wahl. Fast glaubtest du, es hätte eine gegeben.
Deine Mutter versuchte, dir in die Augen zu sehen, obschon das Licht längst aus war, wenn du das Haus betratest, wenn du aus der Dunkelheit in die Dunkelheit kamst, an die deine Augen ebenso gewöhnt waren wie ihre. Sie saß in der Küche und tat so, als hätte sie nicht auf dich gewartet. Sie wusste, du würdest sie nicht fragen. Einmal tatest du es:»Was sitzt du denn hier?«
«Ach«, sagte sie, als schnappe sie nach Luft,»ich wollt noch nich ins Bett.«
«Ich auch nicht«, sagtest du.
Du glaubtest nicht, dass sie sich Sorgen machte, dass sie befürchtete, dir könnte» etwas passieren «im nächtlichen Dorfe Bresekow. An dir ging doch alles nur vorbei. Obwohl sie unruhiger schien als sonst, regelrecht aufgekratzt manchmal. Als wittere sie etwas, als nehme sie etwas anderes an dir wahr. Etwas, das sie in Aufregung versetzte wie ein junges Mädchen, das sich allen möglichen bunten Hoffnungen hingibt. Das schlaflos und sinnend im Dunkeln sitzt und nicht merkt, wie viel Zeit schon vergangen ist.
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