Also, die Musikgeschichte, damit wars nicht weit her, das Einzige, was ich zum Beispiel von einem wie Beethoven wusste, war, dass er taub gewesen war, was mir zugleich auch als das Interessanteste erschien. Das ist sowieso so ein Ding bei mir, dass ich mir mit Vorliebe, geradezu automatisch, die nutzlosen Details merke, während das große Ganze, die Sachen, die in Klausuren abgefragt werden, mich eher langweilt. Wahrscheinlich hat mich das auch zu meinem Vortragsthema verleitet, in Kombination mit meiner maßlosen Arroganz, denn das ist es doch, was sie von mir denken, nicht zuletzt meine eigene Mutter: dass ich arrogant bin. Wie das mit meiner ebenso allgemein bekannten Schüchternheit zusammenpassen soll, haben sie sich dabei offenbar noch nicht überlegt.
Aber ich. Ich glaube, dass Ersteres eine natürliche Folge von Letzterem ist, eine Schutzmaßnahme. Man nehme nur einmal John Lennon. Er galt Zeit seines Lebens als schrecklicher Arrogantling. Von sich selbst sagte er, er sei lediglich schrecklich schüchtern. Natürlich hat auch die Schüchternheit zu meiner Vortragswahl beigetragen. Für einen kurzen Augenblick hatte ich an die Beatles gedacht, ungefähr im selben Augenblick aber auch: Das geht nicht. Wieso, warum, keine Ahnung, nur dieses Gefühl, das geht nicht, was mir heute zugegebenermaßen lächerlich vorkommt. Manchmal frage ich mich, ob das das ganze Leben so gehen soll: dass alles, was man macht, einem nach spätestens drei Monaten oder so lächerlich vorkommt. Ich habe das jedenfalls ständig, meine Tagebücher — wie das allein schon klingt! à la die Memoiren einer Siebzehnjährigen, völlig lächerlich — sind ein lückenloser Beweis dafür. Trotzdem lese ich gerne darin, sie geben mir ein Gefühl von, na ja, Überwindung. Oft muss ich lachen.
Die Beatles gingen also nicht, das stand fest, irgendetwas daran war mir wieder mal peinlich. Jedenfalls konnte ich mir keinen denken, der diese gerade erst beginnende Leidenschaft, deren Ursprung mir merkwürdig unklar ist, ich weiß nur, dass ich irgendwann eine uralte Kassette mit Beatles-Hits aus der Stadtbibliothek ausgeliehen und zu Hause sorgfältig vor meinen Eltern versteckt hatte, mit mir teilen oder auch nur nachvollziehen könnte. Das war ungefähr so wie eine heimliche Verliebtheit, und wenn ich auf irgendeinem Gebiet überhaupt Erfahrungen vorweisen kann, dann auf diesem.
Ich kenne alle Zustände heimlicher, einseitiger und gemeinhin unglücklich genannter Verliebtheit, und weiß daher auch, dass sie eben nicht unglücklich macht, jedenfalls nicht die ganze Zeit. Sondern nur zu schätzungsweise fünfundzwanzig Prozent. Wenn man bedenkt, wie viele Leute mit sogenannten glücklichen, gegenseitigen und öffentlichen Verliebtheiten unglücklich werden, ist das eine vertretbare Lebensform, denke ich. Zumindest vorübergehend. Und irgendwie geht es ja immer vorüber. Zurzeit ist es Tobias Schneider, er ist ein Jahr älter als ich, und ich glaube, es liegt in den letzten Zügen. Seit er im Sommer sein Abi gemacht hat, sehe ich ihn kaum noch, und das ist ein Problem. Denn auf das Sehen kommt es an. Und auf das Grüßen , oh Gott, was für ein ewiges kitzliges Martyrium! Wir kennen uns flüchtig, von irgendwelchen Junge-Gemeinde-Nachmittagen und Projektwochen her, und haben insgesamt vielleicht drei unvollständige Sätze miteinander gewechselt, und manchmal, wenn wir uns mehr oder weniger zufällig trafen, eher weniger, denn im Laufe der Zeit hatte ich, was Schulweg und Schulgebäude betrifft, einen raffinierten Laufwegeplan entwickelt, der auf wochenlanger Beobachtung all seiner beobachtbaren Bewegungen beruhte, grüßte er mich manchmal und manchmal nicht. Wie ein schöner oder schlechter Traum hatte das Einfluss auf den ganzen restlichen Tag, natürlich auch die Tatsache, ihn gar nicht zu sehen, so dass ich behaupten konnte, eigentlich die ganze Zeit unter Tobias-Einfluss zu stehen, was in mir eine Art von Gefühlen auslöste, die andere Leute vielleicht für ihre Heimat aufbringen. Es beruhigte mich. Zumindest war das bis vor kurzem noch so, jetzt hab ich gerade so was wie Fernweh.
Übrigens begann diese ganze Tobias-Schneider-Geschichte auch verrückterweise mit einem Traum, völlig aus dem Nichts heraus träumte ich eines Nachts von ihm, eigentlich was total Belangloses: Ich fand seine Brieftasche, die merkwürdigerweise aus gelbem Leder war — wochenlang beschäftigte mich dann hauptsächlich diese Frage: warum gelb? (ich interessierte mich auch gerade für Traumdeutung, natürlich auf etwas gehobenerem Niveau als gelb gleich Neid und Eifersucht, obwohl ich zeitweise auch für solche platten Schemen nicht ganz unempfänglich war und sie wohl bloß verwarf, weil ich mir auch damit keinen Reim auf die Sache machen konnte) — jedenfalls, nach dem Aufwachen wusste ich: der oder keiner. Weshalb ich auch mit einer gewissen irrationalen Hartnäckigkeit seit mehr als zwei Jahren an diesem Tobias-und-ich-Traum hänge, Vorherbestimmung und all das. Dabei könnte ich ihn zum Beispiel sowieso nicht heiraten, schon allein wegen seines Nachnamens. Mamas an diesem bestimmten Idol orientierte Namenswahl für mich muss nicht auch noch auf solch explizite Weise Genüge getan werden. Nicht, dass ich überhaupt jemanden heiraten wollte. Und ich weiß ohnehin, dass es aussichtslos ist, ich meine, das mit Tobias und mir. Das scheint geradezu eine Regel heimlicher Verliebtheit zu sein. Vielleicht hängt sie mit der anderen zusammen, der obersten und ersten: Eine heimliche Verliebtheit muss in jedem Fall und unter allen Umständen geheim bleiben. Sternchen, Fußnote: Diese Regel bedarf keiner Begründung. Man könnte aber eine anführen: Auf Verständnis zu hoffen ist sinnlos. Die Beatles gingen also nicht. YOU’VE GOT TO HIDE YOUR LOVE AWAY.
Um es kurz zu machen: ich entschied mich für Arnold Schönberg. Das war hochnäsig, kurzsichtig und brav. Ich hielt mir was auf meine Lektüre zugute, denn gerade hatte ich DER TOD IN ROM von Wolfgang Koeppen gelesen, und zwar außerhalb des Deutschunterrichts und völlig freiwillig. Die Figur des Siegfried, der, wie ich als ambitionierte und vor dem Nachwort nicht zurückschreckende Leserin herausgefunden hatte, Arnold Schönberg darstellen sollte, erschien mir nicht sonderlich sympathisch, aber interessant genug, um mir die Idee einzuimpfen, dass dieser Vortrag mir gerade recht käme, um mein Wissen über Schönberg zu erweitern. Vielleicht war es auch so, dass mir niemand Besseres einfiel, ich zu faul war, musikalische Lexika zu wälzen, und mir das Buch gerade recht kam. In jedem Fall hatten mich natürlich die dramatischen und anrüchigen Stellen gereizt, die mir hauptsächlich im Gedächtnis geblieben waren, diese Sache mit den römischen Strichjungen und der Konflikt mit seinem Nazi-Vater und so. Unter Zwölftonmusik konnte ich mir gar nichts vorstellen, und das hat sich auch nicht wesentlich geändert, was auch nicht zu erwarten war bei einer, für die schon der Quintenzirkel, der im Jahr davor von Herrn Stiehl noch pflichtschuldigst in sein Programm gequetscht worden war, eine hoffnungslose Überforderung darstellte. Herr Stiehl, als ich ihm meine Schönberg-Wahl kundtat, zog die Augenbrauen hoch und und seufzte:»Na, da hast du dir ja was vorgenommen!«
«Ich weiß«, sagte ich mit einem Anflug von Triumph in der Stimme. Dabei wusste ich nicht mehr, als dass ich nun Gott sei Dank ein gutes Vortragsthema hatte: Herrn Stiehls musiklehrerhafte Kritikpfeilchen würden sich so wirkungslos gegen die massive, auf hohen Felsen thronende Burg ausnehmen, dass er gar nicht erst versuchen würde, sie zu verschießen. Leider — oder zum Glück — hatte ich noch nicht bemerkt, dass auch ich nicht von der Zinne hinunterschaute, sondern hinauf, aus wackliger Lage auf bestenfalls halber Höhe.
Ein Problem waren zum Beispiel schon allein die sogenannten Tondokumente, die wir in unseren Vortrag einbauen sollten. In der Stadtbibliothek hatten sie natürlich nichts, geschweige denn in der mickrigen Schulbibliothek. Also blieb mir nichts anderes übrig, als Herrn Stiehl selber zu fragen. Er grinste, glubschte mich durch seine dicke Hornbrille an, sagte:»Na, hast wohl nix gefunden, wa?«, obwohl ich ihm genau das ungefähr fünf Sekunden vorher mitgeteilt hatte, und bestellte mich für nach der sechsten Stunde in seinen Musikraum.
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