Mir war den ganzen Tag nicht wohl bei dem Gedanken. Mit einem mulmigen Gefühl stieg ich um eins die dunklen Treppen rauf; der Musikraum liegt in einem efeubewachsenen Seitenflügel, in dem nur noch ein weiterer Raum für Unterricht genutzt wird, früher diente er, glaube ich, als Internat. Eigentlich schön, besonders der große Balkon, zu dem vom Musikraum eine Tür führt, fasziniert mich, wir dürfen aber nicht rauf, aus irgendeinem willkürlichen Schulverbotsgrund, den wir hinnehmen wie alles Schulisch-Unbegreifliche, die Schule wäre ja nicht mehr die Schule, würde sie plötzlich dem Rechtfertigungszwang des wahren Lebens unterliegen. Wir würden uns ganz schön verloren vorkommen, glaube ich.
Es war heiß an dem Tag, alle schienen nach dem Schlussklingeln so schnell es ging geflohen, denn das ganze Gebäude und der Schulhof waren plötzlich menschenleer, kein Blatt regte sich in der staubtrockenen Luft, und bloß ich schlich noch umher und irgendwo — hoffentlich, hoffentlich nicht — Herr Stiehl. Ich hatte Durst, seit Stunden. Und das kam bloß daher, weil Katharina in ihrer üblichen Dreistigkeit mich gefragt hatte, ob ich was zu trinken hätte,»Ey, Romy, haste was zu trinken?«, und ich in meiner üblichen Schüchternheit, die die Lehrer für Höflichkeit und Hilfsbereitschaft halten, mich nicht getraut hatte, Katharina den Inhalt meiner Flasche vorzuenthalten, und Katharina mit Hilfe ihrer Dreistigkeit diese bis auf den letzten Tropfen ausgeschlürft hatte, nicht ohne zwischendurch angewidert zu bemerken:»Das is ja Pfefferminztee!«Wahrscheinlich war das ein hinreichender Grund für sie, mich weiterhin mit Verachtung zu strafen, nach dem Motto: Wer Pfefferminztee trinkt, kriegt doch nie einen ab. Und wahrscheinlich wäre es aussichtslos, Katharina den Unterschied zwischen Kausalität und Koinzidenz erklären zu wollen.
Das kühle, kellerdunkle Treppenhaus hätte ich als Erleichterung empfunden, wäre ich nicht mit jedem Schritt einem kleinen, bebrillten Monstrum nähergekommen. Als ich vorsichtig den Musikraum betrat, war er leer. Das Sonnenlicht fiel grünlich durch die alten Fenster, es war stickig, obwohl die Tür zum Balkon offen stand. Offen stand wie eine einzige Versuchung. Das ist die Gelegenheit, dachte ich. So geräuschlos wie möglich ging ich darauf zu. Ich weiß auch nicht, was ich mir eigentlich davon versprach, davon, endlich diesen Balkon zu betreten. Er würde ja nun nicht gerade unter meinem unwesentlichen Gewicht zusammenbrechen. Was ich allerdings nie erfahren sollte. Denn kaum hatte ich die Balkontür erreicht, beinahe schon berührt, erscholl Herrn Stiehls Stimme vom anderen Ende des Raumes her:»Na, da bist du ja endlich!«
Ich fuhr wirklich ein bisschen zusammen, wie ertappt, aber Herr Stiehl interessierte sich gar nicht für mein verbrecherisches Vorhaben, sondern nur für meine nicht existente Verspätung, anscheinend wollte auch er so schnell wie möglich hier raus. Gut, dachte ich, in spätestens fünf Minuten hast dus überstanden.
«Komm ma mit«, sagte Herr Stiehl, und während ich noch kurz und instinktiv zögerte, ihm zu folgen, wurde er auch schon wieder ungeduldig:»Na los, nu komm schon!«
Übrigens fällt es Herrn Stiehl nie ein, uns etwa zu siezen, was anscheinend auch keinem von uns komisch vorkommt, würde er es tun, wäre die Irritation größer. Er verschwand durch eine kleine, ins Dunkel führende Tür neben der Tafel, und ich trabte ihm wohl oder übel hinterher. Mir schossen sämtliche Gerüchte, die ich jemals über Herrn Stiehl gehört hatte, durch den Kopf, die allesamt darin kulminieren, dass er» mal was mit einer Schülerin gehabt «haben soll, vor ewigen Zeiten, als sogar Mama noch zur Schule ging, die ihm mal bei einem Ausflug verschiedener Chöre begegnet war und daher meine Vorbehalte gut verstehen kann; als ich ihr erzählte, dass wir Herrn Stiehl in Musik kriegen, war sie geradezu entsetzt, was mir zu denken gab. Auf diesem Ausflug mussten sie in einer Scheune im Stroh schlafen, und ausgerechnet Herr Stiehl hatte sich neben Mama gelegt,»mit Absicht«, wie sie anmerkte, ohne näher zu erklären, worin genau diese Absicht ihr gegenüber bestanden hätte.»Na ja!«, sagte sie bloß, als ich sie fragte, und er habe sich bis auf den Schlüpfer ausgezogen und fürchterlich geschnarcht, und sie selbst habe die Nacht über kein Auge zugetan und sich trotz der Hitze fest in ihre muffige Decke gewickelt. Diese im Prinzip dürftige Episode erzeugte, vielleicht gerade aufgrund ihrer Dürftigkeit, hinter der ich wohl sonstwas vermutete, ein heilloses Assoziationenwirrwarr in mir, und ich sagte zu Mama, und, wie ich heute denke, auch, um mich selbst zu beruhigen:»Aber es ist doch gar nichts passiert, oder?«
«Nein — das nicht«, gab sie gedehnt zu,»aber die andern haben ja auch immer gesagt, pass auf, der macht Stiehl-Augen. Wenn du weißt, was ich mein!«
So genau wollte ich es aber gar nicht wissen, immerhin hatte ich noch mindestens drei Schuljahre mit Herrn Stiehl vor mir.
Ich weiß nicht, ob diese Geschichte mit der Schülerin dann vor oder nach Mamas Erlebnis passiert ist, jedenfalls soll er die auf eben solch einem Ausflug» verführt «haben, und die Munkelei hatte sich hochgeschaukelt bis zu Schwangerschaft und Abtreibung und vorzeitigem Schulabgang des Mädchens. Ich konnte mir das Ganze eigentlich nicht so richtig vorstellen, ich meine: Herr Stiehl! Womit sollte er sie denn becirct haben? Etwa durch eine Fahrt in seinem senfersatzfarbenen Wartburg? In dem er immer noch mit stolzgeschwellter Brust und quietschenden Reifen um die Schulecke und über den Hof feuert, ohne Rücksicht darauf, ob sich die Schülerschaft noch rechtzeitig durch eine Hechtrolle in Sicherheit bringen kann, um ihn dann nicht wie alle anderen auf dem Schulparkplatz, sondern direkt vor dem Eingang zu seinem Reich, besagtem Seitenflügel, abzustellen. Allerdings wird immer wieder behauptet, in dieser bunten Welt sei alles möglich, woran ich manchmal auch geneigt bin zu glauben, mal mehr, mal weniger gern.
Dieses Hinterzimmer, in das ich Herrn Stiehl gefolgt war, entpuppte sich als eine Art Musikalienlager, verschiedene Instrumente lagen teils in Regalen, teils auf Stühlen herum, darunter sogar ein Saxophon, und ich fragte mich, ob Herr Stiehl wohl darauf spielen könnte, und stellte es mir vor. Ich konnte mir plötzlich kein passenderes Instrument für ihn denken. Jedenfalls ging mir die allgemeine Saxophonbegeisterung und alles, was subkulturmäßig oder wie man es nennen soll damit zusammenhängt, schon zu dem Zeitpunkt gehörig auf die Nerven, und der Gipfel ist jetzt erreicht, seitdem Melissa, schon der Name! sich aufschwingt, das coolste aller sich irgendwie als cool empfindenden Individuen an unserer Schule zu werden, sich die Haare mit Henna rot färbt und angefangen hat, bei jeder noch so blöden Veranstaltung in der Aula uns mit den Ergebnissen ihres Saxophonunterrichts zu belästigen, und komischerweise kommt niemand auf die Idee, das nicht toll zu finden. Das Saxophon jedenfalls ist für mich der Inbegriff der Schmierigkeit. Vielleicht bin ich nur langzeitgeschädigt durch dieses geschmacklose Tagebuch, das ich damals zu Weihnachten bekam, aber dafür vermutlich auch lebenslang immun gegen das Gift dieses fast schon obszönen Getrötes, bei dem sich doch automatisch das Bild von rötlich beleuchteten, verrauchten Bars einstellt und wahrscheinlich auch einstellen soll, in denen sich gestrauchelte Existenzen einen Whiskey nach dem anderen in die Kehle gießen und dabei lediglich einen einzigen Gedanken in ihrem whiskeyerweichten Hirn am Glimmen zu halten vermögen, nämlich wie sie jetzt schnell noch jemanden in die Kiste kriegen. Oder, noch schlimmer, der Möchtegern-Casanova, der die gerade erst aufgegabelte Neue zu sich nach Hause einlädt, um ihr seine Kochkünste angedeihen zu lassen; züchtig bekleidet, er im neuerdings rosa Hemd, sie im adretten Kostümchen, sitzen sie sich gegenüber; wenn sich ihre Blicke wie zufällig treffen, schauen sie schnell auf ihren Teller, auf dem sie die Ordnung der präzise angerichteten Seezunge in Champagner an Rucola-Gorgonzola-Salat durch Hin- und Herschieben der Bestandteile zerstören, sozusagen als Sinnbild für den nun kurz bevorstehenden Einbruch der Lotterhaftigkeit, denn spätestens nach dem zweiten Glas Rotwein legt Casanova eine CD mit Saxophoninstrumentals ein und wartet nun, unter Einsatz seiner erfahrenen Hände, sekündlich darauf, dass das abgefütterte und abgefüllte Weibchen endlich seine Beine breitmacht.
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