Außerdem hatte er die Bücher nicht einfach nicht zurückgegeben. Sondern sie zuerst ausgeliehen und rechtzeitig, oft sogar weit vor Ende der Ausleihfrist, zurückgebracht, um sie dann erst bei einem weiteren Besuch, von der dösenden oder jäckchenstrickenden Bibliothekarin unbemerkt, in seine Tasche gleiten oder aus dem vorsichtig geöffneten Fenster ins weiche Gras fallen zu lassen. Diese Methode schlug zwei Fliegen mit einer Klappe: Er konnte so beim ersten Mal den Inhalt des Buches auf lohnenswert oder nicht prüfen, und später, sollte das Buch tatsächlich vermisst werden, würde der Verdacht nicht auf ihn fallen, denn er hatte es ja zurückgegeben, woran sich Fräulein Kunatsch doch bestimmt noch erinnerte, er hätte doch noch gesagt, wie» l-l-langweilig «er es gefunden hätte.
Wie sie dann trotzdem auf ihn gekommen sind, wer weiß, vielleicht der untrügliche Instinkt der Gemeinschaft gegenüber jedem Element des Fremden, fest stand jedenfalls, dass es niemand anders als Peter Hanske gewesen sei, auch wenn man ihm nichts beweisen konnte, was ihm zusätzlich ungünstig ausgelegt wurde und worauf Peter Hanske auf immer der Dorfbibliothek fernzubleiben hatte. Aber Anna Hanske hatte niemanden in ihr Haus gelassen, Fräulein Kunatsch nicht und nicht Bürgermeister Möllrich, sie kenne schließlich ihr Haus vom Keller bis unters Dach und auch das Zimmer ihres Sohnes, und ein Stapel Bücher wäre ihr da nicht unverborgen geblieben, und niemals hätte sie ihrem Sohn eine solche Tat gegen das Wohl der Gemeinde durchgehen lassen, aber falls etwa Zweifel an der Wahrhaftigkeit ihrer Worte bestehen sollten, möge man doch bitte die Volkspolizei alarmieren. Das mochte man denn aber doch nicht. Und Anna Hanske sagte zu ihrem Sohn Peter:»Wenn du nich willst, dass ich unter deinem Bett aufräum, dann mach du das und bau dir dafür ein Regal. Und wenn einer kommt und sagt, er will was zum Lesen, und dich nach einem Buch fragt, das dir bekannt vorkommt, weils auf deinem Regal steht, dann hol das da runter und drücks ihm in die Hand und sag nich, wann ers wiederbringen soll.«
Du hast doch viel gelernt damals. Und abends im Dunkeln, wenn ihr im Bett lagt, das Licht schon längst aus war, breitete Peter seine neuesten Schätze vor dir aus, er fragte immer:»K-kennst du d-d-das Wort …«, und dann kam irgendwas, was du noch nie gehört hattest, und er erklärte dir, was es bedeutet, und wenn er sich erst eingeredet hatte, dann war das Stottern auf einmal weg, und manchmal ließ er dich vorher auch raten und hörte deine Mutmaßungen sehr ernsthaft an und lachte nur ein bisschen. Und das vermischte sich mit den Mäusegeräuschen, du lauschtest auf ihr entzücktes Quieksen und wie sie sich die winzigen eingetrockneten Käse- oder Speckstückchen aus den entschärften Fallen holten.
Einmal sagte Peter:»W-w-weißt du, was ›Jenseits‹ ha-ha-heißt?«, und du wusstest es nicht, aber du konntest an seiner Stimme hören, dass es kein neues Wort war, dass es eines war, das er längst kannte und das er sich aufgespart hatte, weil es ein besonderes sein musste.
«Was heißt denn das, Peter?«, hast du geflüstert, automatisch, fast gänsehäutig, denn es schien eins von den Dingen zu sein, die man wissen und nicht wissen will zugleich, oder ganz kurz wissen und wieder vergessen, dieses aber vergaßt du nie mehr.
«Na, z-zum Beispiel könnte ich sagen: m-m-m- m-m-meine M-mutter, du weißt schon, meine rr-richtige, sie ist im Jenseits.«
«Wirklich?«, fragtest du, denn du hattest gedacht, diese wirkliche Mutter sei tot, irgendwie wegen des Krieges, von dem sie dir erzählt hatten, jedenfalls hatten sie dich dann wohl angelogen, wie immer, als sie gesagt hatten, Peters Mutter sei tot.
«Ja«, sagte Peter,»das w-weißt du doch.«
Und du sagtest nichts mehr und nicktest bloß, obwohl Peter das im Dunkeln ja gar nicht sehen konnte. Er sollte ja nun nicht denken, dass du jemals daran geglaubt hattest, was sie dir so erzählt hatten. Peters Mutter war im Jenseits, im Jenseits, das war ja mal eine gute Nachricht. Vor Aufregung und Geheimnisschwere konntest du zuerst gar nicht in den Schlaf finden, seltsam milchige Bilder flimmerten in deinem Kopf. Vergeblich versuchtest du drüberzuwischen, wie über die beschlagenen Küchenfenster, und das war dir Bestätigung genug, dass dahinter mehr zu sehen sein müsste als euer Hof und das hellgraue Stückchen Dorfstraße und der abgebrannte schwarze Dachstuhl der Schnitterkaserne neben dem Friedhof, und immerzu dachtest du nur: da würdest du hinfahren, irgendwann, bald.
Und du seufztest, weil du ahntest, dass es für dich noch lange dauern würde, bis man dich dorthin ließe, so lang wie die Schule mindestens, und du hattest kaum angefangen, und vielleicht würdest du ausreißen müssen, wovon du keine andere Vorstellung hattest als das Beispiel des armen Georg, und den hatten sie nach fünf Tagen» fast ganz nackig «und an einen Baum gebunden im Wald gefunden, und dabei war er schon vierzehn Jahre. Und sein Fahrrad war weg und sein Tornister und seine Jacke und seine Hose, und das hatten die Soldaten mitgenommen, die er nicht verstanden hatte, weil sie russisch gesprochen hatten, aber das durfte man nicht sagen, aber auch ›Sowjetmenschen‹ durfte man in diesem Fall nicht sagen, denn in Wirklichkeit waren es ja» verbrecherisch als Soldaten der Roten Armee verkleidete «ganz normale» asoziale Elemente «gewesen.
«D-das heißt ›Räuber‹«, hatte Peter zu dir gesagt und dabei gegrinst, aber du wusstest nicht, was es dabei zu grinsen gab. Georg musste dann nicht zurück zu seinem Prügel-Onkel, er musste dann in ein Kinderheim. Und danach sagten sie, dass sowieso alle Kinder, die ausreißen, ins Heim gesteckt werden, ob Prügel-Onkel oder nicht.
Doch vielleicht dürfte Peter eher dorthin, nach Jenseits, zweifellos hatte ihn seine Mutter nur nicht mitgenommen, weil er noch nicht alt genug dafür war, aber er war immerhin neun Jahre älter als du, und er würde dich vielleicht mitnehmen, er würde dich doch nicht alleine hier lassen, nicht Peter. Oder war es am Ende genauso unwahrscheinlich und geradezu entsetzlich unmöglich, dass Peter zu seiner Mutter fuhr, wie dass man dich zu deinem Vater reisen ließe?
«Das schlag dir man ausm Kopf«, hatte deine Mutter gesagt und mehr nicht. Und etwas in der Art, wie sie sich von dir wegdrehte, wie sie hastig den Deckel vom Kochtopf nahm, ihn scheppernd danebenwarf und sich auf die heißen Finger pustete, wie sie die Kelle schnappte und den Wrukeneintopf durchwühlte, hielt dich davon ab, auch nur eine weitere Frage zu stellen, schon gar keine mit ›warum‹. Das hattest du dir sowieso bald abgewöhnt, zumindest bei deiner Mutter, und zwar gerade weil sie dir jedesmal Antworten darauf gab. Sie sagte:»Was soll ich dir was vorschwindeln«, und dann kam eine lange komplizierte Antwort, und du glaubtest, du müsstest immer so tun, als ob du alles verstündest. Sie prüfte dich aber nie. Oder sie sagte gleich, dass sie das auch nicht wüsste, was aber so selten vorkam, dass du fast darauf zu hoffen begannst. Es war eine Abkürzung, auch eine zu deiner Mutter, sie zog dich damit an sich heran, oder war es umgekehrt, sie wusste es also auch nicht. Sie wusste es also auch nicht, warum dein Vater im Westen war und was er dort so machte. Aber sie sagte dir, dass das kein Anlass sei, herumzulaufen und damit anzugeben, worauf du natürlich auch nie gekommen wärst. Ihr kämt ja auch ganz gut ohne ihn aus. Du konntest dir ohnehin nicht vorstellen, wie ein Noch-besser-Auskommen hätte aussehen sollen, du wusstest, dass ihr besser dran wart als die meisten im Dorf, sonst würden sie dich ja nicht ständig ärgern, denn die waren ja bloß neidisch. Aber du warst nicht neidisch, schon gar nicht auf ihre Väter, du hattest ja auch einen, und zwar im Westen, und er konnte dir gar nichts, er konnte dich nicht zum Kartoffelstoppeln schicken oder nach Karnickelfutter, und deine Mutter sagte, ihr hättet selber genug Kartoffeln, und ihr hattet keine Karnickel,»wer soll die denn schlachten«.
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