Wenn meine Mudder dann nach mir gerufen hat,»Sonja! Sonja!«, hab ich immer Angst gehabt, dass sie mich findet, und ich wusste nicht, was dann schlimmer gewesen wär, das Gemecker, weil ich mich nicht gemeldet hab, oder die Frage, warum ich denn geheult hab. Das hätt ja keiner verstanden, verstehen wollt mich da sowieso nie einer, außer meine Oma vielleicht, der hab ich fast alles erzählt, besonders abends, wenn wir da beide im Bett lagen und ihr Kofferradio noch son bisschen vor sich hindudelte, manchmal kam sogar was Modernes, altmodisch war sie eigentlich nicht, meine Oma. Sie hat auch mit mir Fernsehn geguckt, auch meine Sendungen, und wenn denn da sone langhaarige Gruppe auftrat, hat sie gefragt:»Sün dat de Büdels?«Mit so was hat sie mich immer zum Lachen gebracht, ich glaub, sie wusste das auch.»De Büdels«, das war ja sozusagen n Schimpfwort:»Wie süühst du denn ut, wien Büdel!«Herbert mit seiner toupierten Matte hat das öfter zu hören gekriegt, das war eigentlich der Befehl, schleunigst zum Frisör zu gehen. Meiner Oma war das egal,»loot em doch«. Sie war da nicht so, obwohl sie ja da schon alt war, und dann war sie später auch noch die Oma Hilda für Romy, wenn man sich das mal überlegt, sie war ja die einzige Oma, die sie hatte. Ich glaub, an meine Mudder erinnert Romy sich gar nicht mehr, ich weiß gar nicht, ob sie ›Oma‹ zu der gesagt hat. Mit meiner Mudder konnt ich nicht reden. Ich hab sie lieb gehabt, sie war schließlich meine Mutter, aber mal drücken oder so, das konnt die mich nicht. Da stand sie immer ganz steif, wenn ich, wie ich noch lütter war, ihr in die Schürze kriechen wollt, wenn ich geheult hab,»nu is ja wedder gaut«, hat sie denn bloß gesagt. Später hab ich mich denn woanders verkrochen, alleine.
Aber einmal, das weiß ich noch, och, das war schlimm. Das war, als ich sie mit dem Messer geschnitten hab. Ich weiß gar nicht mehr, ich sollte irgendwas durchschneiden, ich glaub, ein Stück Wäscheleine, und meine Mutter hielt mir das so mit beiden Händen stramm hin,»schnied eis dörch«, und das ging schwer, und denn hab ichs auch durchgeschnitten, aber bin irgendwie abgerutscht mit dem Messer, und das war ausnahmsweise mal scharf, sonst gabs bei Stöwsands ja immer nur stumpfeGniewen, das war gleich mit das Erste, wodrüber Friedhelm sich mokiert hat, na jedenfalls: rutsch ab und schneid ihr doch in’n Arm, und das Blut spritzte gleich. Ich das Messer fallen lassen und nix wie weg, ich bin gerannt, gerannt, sone Schiss hatt ich. Wovor eigentlich? Die Mutter verletzen, was Schlimmres konnt ich mir gar nicht vorstellen, ich dacht, die reißen mir den Kopf ab, das war nicht bloß Angst vor der Strafe, ich fand mich entsetzlich, ich glaub, ich wollt am liebsten vor mir selber weglaufen.
Ich hab mich dann den ganzen Nachmittag irgendwo versteckt und mich erst abends wieder nach Hause getraut, und da stand meine Mutter in der Küche, mitm dicken Pflaster überm Arm, und die hat dann gesagt:»Kümm eis hier. Dat wier doch nich so schlimm!«, und dann hat sie mich kurz in den Arm genommen, aber ich stand da wie bedäppert.
Aber selber konnte sie auch überhaupt nicht mit so was umgehen, ich glaub, wir können alle kein Blut sehen, zum Beispiel Elke ist dann ja immer gleich blau angelaufen und hat nach Luft geschnappt und ist umgekippt. Einmal mitten im Kornfeld, und weg warse! Ich weiß gar nicht, wie die das beim Schlachten gemacht haben, ich hab mir mitm Kopfkissen die Ohren zugehalten, wenn das losging, wenn ich die Schweine quieken hörte. Und dann kam der besoffne Trichinenbeschauer, und wir Gören haben immer» Maschinenbeschauer «gesagt, weil wir gar nix damit anfangen konnten, na, war vielleicht auch besser so. Der linste dann kurz durch sein Mikroskop und sagte immer:»Alles in Ordnung«, und schon stand der Schnaps aufm Tisch. Und abends gabs Schwarzsauer, da haben die sich alle zehn Finger nach geleckt, besonders meine Mudder. Mir wurd schon vom Geruch ganz anders. Und meine Oma! Da war die ja gar nicht zach: die Gänse mit der Schere in’n Kopp gebohrt, nee! Und meine Mudder hat die Schüssel drunter gehalten. Das darf man ja heut gar keinem mehr erzählen.
Aber wie ich da vom Schlittschuhlaufen mit dem Loch im Kopp nach Hause kam, wusst meine Mudder gar nicht, was sie machen soll, und hat mich bloß entgeistert angeguckt und gesagt:»Sonja! Wat hest du denn mookt?«
Ich weiß gar nicht mehr, wie alt ich da war, vielleicht zweite oder dritte Klasse, und wir haben ja im Winter auf dem Teich beim Kulturhaus immer Eiskunstlaufen gespielt, erst haben wir uns Gaby Seyfert und Sonja Morgenstern und die andern im Fernsehn angeguckt, und dann sind wir selber los, und das waren noch so Schlittschuhe, eigentlich bloß Kufen, die man an die Schuhe schrauben musste, wovon dann die Schuhe mit der Zeit auch kaputtgegangen sind und weshalb unsere Eltern das gar nicht so gerne gesehen haben, da hieß das bloß immer:»Glööw nich, dat ick di n poor nieje kööp!«Aber wenigstens waren wir draußen, in der Bude hocken, das gabs ja nicht.
Ich weiß noch, dass ich an dem Tag Gaby Seyfert war, das wollte jede immer sein, und ich war ja sonst auf Sonja Morgenstern abonniert, Sonja musste logischerweise Sonja sein, wodrauf ich auch ein bisschen stolz war, trotzdem mocht ich meinen Namen nie. Vor allem wegen der Margarine. Das war wirklich kurios, aber das konnte ja keiner ahnen, dass die sich so was ausdenken. Meine Freundin hieß Marina, wir sind bloß drei Tage auseinander, und kurz nach unserer Geburt kamen dann diese beide Margarinesorten auf den Markt: SONJA und MARINA. Unmöglich!
Aber an dem Tag jedenfalls durfte ich Gaby Seyfert sein und ich war stolz auf meine Pirouetten, also wenn man sich zweimal rumdrehen konnte, das war schon was, das gab dann schon mindestens ne fünf komma acht. Bloß dann bin ich auf einmal hintenüber gefallen und mit dem Hinterkopf auf ein Stück von soner Eisenstange, die da im Eis steckte, in dem Tümpel lag ja alles Mögliche rum, vom Krieg noch oder was weiß ich, ich glaub, die haben auch alle ihren Müll da reingekippt, aber ich bin dann wieder aufgestanden, mit brummendem Schädel, und sag noch,»ach, nich so schlimm«. Aber denn merkte ich schon, wie das ganz warm wurde an der Stelle, die wehtat, und als ich meine Mütze abgenommen hab, war da ein großer Fleck drauf. Das war so helle Wolle gewesen, meine Oma hatte mir die gestrickt, und die saßen immer ganz eng, diese Mützen, ich mocht die eigentlich nicht, und ich dacht bloß, dass das aber Mecker gibt, wenn die das sehen,»dat geiht doch nich miehr ruut«. Ich hab bloß auf diesen Fleck gestarrt, es wurd schon dunkel, und das Blut sah ganz schwarz aus. Ich hab mich gar nicht getraut, meinen Kopf anzufassen, meine Freundinnen haben mich bloß ganz erschrocken angeguckt und gesagt,»du musst nach Hause, Sonja, los, ihr müsst zum Arzt«, und dann bin ich nach Hause gerannt, ich stand so unter Schock, ich hab nicht mal geheult. Und meine Mudder sagte denn bloß:»Du möötst tau de Schwester, du möötst tau Schwester Ruthchen goohn!«
«Kommst du nich mit?«, hab ich sie gefragt, und da hat sie angefangen zu heulen und bloß wieder gesagt:»Gooh tau Schwester Ruthchen! Ick künn dat nich. Nu gooh!«, und dann musst ich los. Sie hat mich wirklich alleine gehen lassen, ich mein, da hätt ja sonstwas passieren können, ich hätt umkippen können unterwegs.
Aber ich kam dann mit einem großen Verband um Kopp zurück, und da hat sie immer noch in der Küche gesessen mit verheulten Augen und Kartoffeln geschält.»Allet gaut?«, hat sie mit einer ganz komischen Stimme gefragt.»Wat het sei denn seggt?«
Und ich hab gesagt:»Die hat bloß gefragt: ›Wo is denn deine Mudder?‹ — Aber is kein großes Loch.«
Und dann hat meine Mudder noch mal angefangen zu heulen, und ich hab überhaupt nix mehr kapiert.»Wat is denn los, Mutti?«
Ich war auch wütend. Aber sie tat mir auch leid. Genau wie später. Wie später, als ich dann genau gesehen hab, was mit ihr los ist, als sie angefangen hatte zu saufen, zu saufen genau wie der Olle, wir Kinder haben ihn ja auch bloß noch den» Ollen «genannt, und da ist mir denn auch nix anderes mehr eingefallen, als zu sagen:»Mensch, Mutti, hör uff!«
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