Dann ging der Schnitt wieder auf. Ich merkte, wie es plötzlich warm und nass wurde, ich weiß noch, Romy stand vor mir und guckte mich an, und ich zog vorsichtig mein Hemd hoch. Ich wollte nicht heulen. Sie wollten mich wieder dabehalten. Aber ich hab mich geweigert, ich hab gesagt:»Nein. «Einfach nein. Ich glaub, ich bin eigentlich gar kein Typ, der was aushält, ich hatte einfach Angst. Sie haben mir erlaubt, jeden Tag zu kommen, um die Wunde versorgen zu lassen. Irgendwie heilte es dann.
Ich hab wieder gearbeitet, ziemlich schnell, aus der Zeit muss das Foto sein. Zu Romys zweitem Geburtstag haben wir die ersten Farbfotos gemacht. Meine spitzen Knochen gucken durch meinen Pullover. Später kam mal eine der Schwestern in den Laden, sie freute sich, mich gesund zu sehen.»Frau Plötz«, sagte sie,»jetzt kann ichs Ihnen ja sagen, also, wir haben da alle nicht mehr an Sie geglaubt.«— Komisch, das ist so lange her, aber das ist fast immer noch das gleiche Gefühl, wenn ich da heute dran denk. Das war wien Schock, ich musst erst mal nach hinten und mich ausheulen. Da hab ich das erste Mal wirklich wieder an Gott gedacht, dass es den wohl doch geben muss.
Ich wollt alles anders machen. Ich wollt mich nie mehr mit Friedhelm streiten. Ich wollt mein Kind ganz anders erziehen, sowieso. Ich wollt nie wieder jammern. Aber solche Sachen halten drei Wochen, drei Monate, wenns hoch kommt, dann ist man wieder drin im alten Trott. Der Mensch ist komisch. Man macht nie das, was man will. Sondern immer nur das, was man kennt. In- und auswendig. Bloß sich selbst kennt man nicht. Und den andern eigentlich auch nicht. Kennt mich einer?
Außerdem mach ich morgen was Verrücktes. Ich geh nicht zum Bibelgesprächskreis. Überhaupt nicht mehr. Ich fahr zum Chor nach Schmalditz, das wollt ich schon lange. Die haben da jetzt echt gute Leute, das kriegt richtig Qualität, ich hab die schon paar Mal gehört, und Brigitte hat auch zu mir gesagt,»Mensch, komm doch zu uns, mit deiner Stimme!«. Dabei kann ich nicht mal Noten lesen.»Kann doch keiner«, hat sie gesagt. Ich wollt ja sofort, aber blöderweise fällt die Probe genau auf den Bibel-Abend, tja. Tja.
Das wars also, denk ich die ganze Zeit, mein Kopf ist mit diesem Satz gefüllt wie mit Watte, verstopft mit einer weichen, betäubenden Knirschigkeit, das wars. Jetzt hocken wir hier wie in Wodka getunkte späte Fliegen, zu Schmetterlingen hats denn wohl doch nicht gereicht. Ich denke an vorgestern, als wir fast ebenso wortlos aus Ueckermünde zurückkamen, Paul sich nur immer wieder bedankte, dass wir mitgekommen seien, dass Ella es ihm gesagt habe. Wir sind natürlich nicht mit rein, sondern mit kaum zu gebrauchenden Gefühlen, kaum zu fassenden Gedanken durch die Stadt geschlichen, erst am Haff wurde uns etwas besser.»War das jetzt richtig?«, hat Ella gefragt, und ich konnte nur mit den Schultern zucken, weil ich gar nicht mehr wusste, was das bedeuten soll: richtig. Richtig vorstellbar war mir das ohnehin nicht, ein Halbbruder, dieser Halbbruder, und wie Paul ihm jetzt gegenübersaß, was redet man mit einem, der einem fremder nicht sein könnte und gleichzeitig auf so fatale Weise verbunden ist?
Wir warteten ein paar Meter vom Ausgang auf ihn, ich sah ihn schon von weitem, noch hinter der Glastür, sein rotes Gesicht. Wir winkten ihm zu, nicht wie jemandem, der auf uns zukommt, eher im Gegenteil. Ella zündete sich die nächste Zigarette an, Paul fischte sie ihr aus den Fingern. Nach zwei, drei Zügen hielt er sie mir hin, ich nahm sie ohne Zögern, inhalierte tief und gab sie benommen an Ella zurück.
Den Wodka übrigens hab ich heute nach der Schule mit ihr zusammen gekauft, sie war auch gleich dafür, als ich es vorschlug, was mich komischerweise überraschte. Wahrscheinlich bin ich es einfach nicht gewohnt, gute Vorschläge zu machen, das heißt, nicht mehr. Früher war es mir selbstverständlich, die beste Idee zu haben, und meine Freundinnen tanzten nach meiner Pfeife. Wir bauen eine Höhle. Wir spielen Friseur, du bist die Kundin. Wir schütten deinem Bruder Waschpulver ins Badewasser. Keine Ahnung, wo sie alle geblieben sind, die Freundinnen, die Ideen, die ganze sogenannte Kinderzeit. An der Kasse mussten wir nicht mal unsere Ausweise vorzeigen, was ja eigentlich als Triumph zu verbuchen ist. Ich schreibe es aber Ellas Anwesenheit zu, und fast erleichtert mich das. Übrigens sahen wir Tobias, also ich. Ich hatte gar nicht daran gedacht, hatte zum ersten Mal mein ausgefuchstes Observationssystem vernachlässigt, dem ich in letzter Zeit sowieso nur noch routinemäßig gefolgt war. Freitags in der ersten Pause vor Raum 5, dienstags auf dem Weg zum Chemieraum, wo ich sowieso kaum noch einen Gruß für ihn habe, weil ich meistens mit Ella schwatze, mittwochs nach der Schule bei PENNY. Ich warf noch Chips und Schokolade mit aufs Band, wir teilten uns den Preis, aber jetzt bin ich die Einzige, die davon nascht, um nicht zu sagen, Unmengen davon in sich reinstopft. Ich weiß verdammt noch mal, dass das eine Übersprungshandlung ist, ich habe eine Eins in Bio. Aber warum sagt denn bloß keiner was! Das ist der letzte Abend. Und der geht einfach so vorbei, vorbei wie jeder andere, und ich wundere mich irrsinnigerweise wieder mal über diese Taubblindheit der Zeit, die aber auch gar nichts merkt, kein bisschen langsamer, besonderer vergeht. Unsere Unfähigkeit. Als ob uns wirklich nichts bleibt, außer uns sinnlos zu betrinken, zu sein wie alle anderen. Ach Paul, warum musstest du herkommen, in dieses Kacknest, ein Bernstein im Hinterland, unmöglich, wo man schon am Strand keine findet. Mama wusste wohl gar nicht, was sie sagte, als ich ihr in einem früheren Einsamkeitsanfall mal mein Leid klagte — und da ahnte ich ja noch nicht mal, wie schlimm es werden kann, denn es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man noch oder wieder einsam ist — und sie dann echt den Spruch mit dem Huhn brachte. Ich war natürlich beleidigt. AUCH EIN BLINDER TRINKER FINDET MAL EINEN KORN. Ich muss grinsen, obwohl mir zum Heulen ist. Ach, Paul. Nur damit ich dich sehen kann? POETRY IN MOTION, ha? Nur damit ich gezeigt kriege, was ich niemals haben kann? Danke, war nicht nötig. Haben. Sein. Alles Blödsinn. Abschied nehmen. Das ist geradezu absurd. Man weiß, derjenige wird morgen um die Zeit nicht mehr da sein, ich meine, man weiß schon ganz, wie es sein wird, man hat die Traurigkeit schon in sich, wie eine Krankheit, die unerwartet früh ausgebrochen ist, man könnte fast sagen, die Inkubationszeit ist abgelaufen, bevor der eigentliche Erreger eindringen konnte, oder wie bei Pilzvergiftungen, wo schon die Vorstellung genügt, einen Giftpilz verzehrt zu haben, um echte Symptome auszulösen. Hinkt wahrscheinlich alles. Aber überhaupt, Pilze: Von wegen, man härtet ab mit der Zeit. Es gibt Pilze, die kann man eine ganze Weile lang essen. Und dann kommt das Mal, das Mahl, ja, zu viel, die endgültige Vergiftung. Ich glaube, morgen ist es so weit. Jedenfalls, soviel Schizophrenie muss man erst mal aufbringen, an einem Abschiedsabend normal zu wirken. Der, der schon weg ist, sagt:»Was denkt ihr: Wer war es?«
Ella schielt über den Rand ihres Glases, wir trinken Wodka aus Whiskeygläsern, echt Bleikristall, jetzt zweite Garnitur aus dem Küchenschrank, ihre Mutter trinkt stilles Wasser draus, Ella nimmt noch einen Schluck vom Wässerchen, dann sagt sie langsam:»Wer war was?«
«Die Elpe!«, sagt Paul.»Das Feuer. Denkt ihr, es war …«
Die LP! Ich werde es nie wieder anders denken können.
«Der doch nicht!«
«Wer?«Ich gucke Ella erstaunt an, sie wirkt plötzlich wieder munter.
«Ecki!«, stößt sie verächtlich hervor. Dabei scheint Ecki doch der Einzige zu sein, dem so was ernsthaft zuzutrauen wäre. Andererseits auch wieder nicht, Ellas Entschiedenheit leuchtet mir plötzlich ein. Das ist nicht die Tat eines Maulhelden. Eher schon eines Sven mit Iltisblick.
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