Das Komische war, dass ich nachmittags noch Riesenappetit auf Sahnetorte hatte, das hätt mir vielleicht schon zu denken geben müssen, ich mach mir da sonst gar nix draus, aber ich hab Friedhelm losgeschickt, der musst mir ein Stück holen. Da hatte ich schon hohes Fieber, und dann die Schmerzen im Leib, das strahlte bis in den Rücken. Der Arzt, der den Hausbesuch machte, dachte denn ja auch, das wären die Nieren, und verschrieb mir dann son Medikament, ich weiß nicht mehr, was das war, aber so wie das gewirkt hat, muss das die reinste Pferdekur gewesen sein. Sowie ich die runterhatte, die Tablette, bekam ich son ganz ekliges Gefühl am ganzen Körper, das war, als wär ich gelähmt, als würd nur noch mein Hals irgendwo rausgucken, da hatt ich zum ersten Mal wirklich Todesangst. Friedhelm ist dann noch mal zur Telefonzelle und hat nen Krankenwagen gerufen, und ich weiß noch, als sie mich dann holten, ist Romy wach geworden und hat geschrien, nach Mama geschrien, und Mama musst nun los. Hätt ich da schon geahnt, wie dick das alles noch kommt … Das Stück Torte hab ich übrigens gleich wieder ausgespuckt. Mit Wahnsinnsbauchschmerzen dann zum Krankenhaus. Die haben mich gleich dabehalten. Ich dacht, ich bin übermorgen wieder zu Hause. Nach einer Woche dacht ich das nicht mehr. Nach einem Monat dacht ich, dass ich nicht mehr nach Hause komm. Da lag ich da immer noch mit aufgequollenem Bauch, ich weiß noch, das war ein Sonntag, und ich hab geschrien vor Schmerzen, ich konnt nicht mehr, ich hab einfach geschrien, bis sie gekommen sind und mir was gespritzt haben, ich glaub, das war Morphium. Jedenfalls hörten die Schmerzen auf. Aber ich war in einem Zustand, wo ich nicht wusste, ob ich tot oder lebendig bin, ich sah mich da liegen. Sie hatten mir ja gleich einen Schlauch in die Scheide geschoben, durch den egaleweg Eiter abfloss, ich weiß nicht, was die nun dachten, was das ist. Sie haben mich mit Penicillin vollgepumpt und mit Schlafmitteln für die Nacht und mich um halb sechs geweckt und gewaschen, mir tat alles weh, der Waschlappen auf der Haut. Visite. Sie haben nix gesagt. Doktor Krafczyk, der Chefarzt der Gyn, hat gesagt,»na, Frau Plötz«. Er hat nie gelächelt. Doktor Wehnig hat gelächelt, aber immer so schief. Die Schwestern haben keine Stelle mehr zum Blutabnehmen gefunden. Der schwarze Assistenzarzt aus Mosambik hat mir über die Stirn gestrichen und gesagt,»arme Frau Plöß«, er hat das tz immer wie ß gesprochen, ich musste immer weinen. Ich wollte nicht weinen, wenn Friedhelm kam, und vor meinen Geschwistern, meinen Eltern schon gar nicht. Friedhelm hat mir von Romy erzählt, die andern haben von Romy erzählt, dass sie sie kugelrund füttern, mein Vadder sagte stolz, sie isst fetten Speck, dass sie schon laufen kann, dass sie keine Angst hat vorm Hund. Später haben sie mir Bilder gezeigt, Romy dick eingepackt auf einem Schlitten im Schnee. Ich hab mein eigenes Kind kaum erkannt. Wenn sie raus waren, hab ich geheult. Ich war ja froh, dass sie sich alle so kümmern in Bresekow, das haben sie gemacht, ja, die waren rein verrückt nach Romy, meine Oma sowieso, sogar meine halbwüchsigen Schwestern. Trotzdem war mir das wie ein Alptraum. Das war mir jedesmal komisch, die zu sehen da in meinem Krankenhauszimmer, wie sie mit hängenden Köpfen um mein Bett rumstanden wie auf ner Beerdigung und versuchten, mit mir zu sprechen. Denn wie ich da so lag alle Tage, da dacht ich überhaupt nicht an früher, an meine Kindheit oder so, das war alles weg, und da war ich eigentlich froh drüber. Ich dacht eigentlich nur an die Zukunft, dass ich ein Kind hab, für das ich da sein will, ich musste doch für mein Kind da sein. Ich weiß nicht, ob die auch gedacht haben, ich komm nicht mehr wieder. Ich wollte das nicht denken, ich dachte, das darfst du nicht denken, reiß dich zusammen, iss was. Ich konnte nicht. Ich konnte nix mehr essen, gar nix mehr bei mir behalten. Verdacht auf Magen-Darm. Ich musste einen Schlauch schlucken. Die Schwester ließ mich mit dem Schlauch im Mund da liegen. Ich konnte keinen Schlauch schlucken, ohne kotzen zu müssen, ich musste kotzen, aber ich lag auf dem Rücken und kam nicht rum, ich kam nicht rum. Mit mir im Zimmer lag eine Bäuerin, die haben sie erst gequält, was die aushalten musste, aber die hat immer noch plattdeutsche Witze erzählt, und ich konnt doch gar nicht lachen mit dem Bauch. Wie die das mitkriegte, ist sie aus ihrem Bett raus und zu mir hin und hat mir einfach den Schlauch rausgerissen und dann erst geklingelt. Und da hat sie noch Mecker für gekriegt. Dass sie mir das Leben gerettet hat. Aber seltsamerweise dacht ich auch nie, dass ich jetzt wirklich sterben müsste, ich war ja noch so jung, ich konnt mir das nicht vorstellen, auch wenn mir das manchmal am liebsten gewesen wär, Schluss mit der Quälerei. Verdacht auf Darmkrebs. Sie haben nix gemacht. Meine Eltern und Friedhelm wollten eine Verlegung nach Greifswald in die Uniklinik, ich glaub, die hatten mehr Angst als ich. Die Ärzte wollten nicht, wer weiß weshalb. Ich wog noch sechsunddreißig Kilo. Sie haben diskutiert. Ich weiß nicht, ob das Absicht war, aber die Tür zu meinem Krankenzimmer stand auf, im Zimmer gegenüber saßen sie. Ich hab deutlich ihre Stimmen über den Flur gehört, die Stimme von Doktor Krafczyk, ich hab gehört, wie er gesagt hat,»ich mach sie auf«. Anscheinend waren nicht alle dafür. Keiner hat gerne nen Toten aufm OP-Tisch am Ende. Doktor Krafczyk sagte,»wir operieren, Frau Plötz«. Alle Ärzte würden dabei sein. Er hat mich noch mal untersucht, ich kam kaum noch auf den Stuhl. Als er fragte:»Wie viele Kinder haben Sie?«, wars aus. Ich kriegte nen Weinkrampf. Das war genau an Romys erstem Geburtstag.
Meine Mudder musste unterschreiben, Friedhelm, glaub ich, auch. Sie haben mir ein OP-Hemd angezogen, hinten offen, man kommt sich damit nackter vor, als wär man wirklich nackt. Das letzte Hemd, wie man immer so sagt, das fällt mir erst jetzt auf, das hab ich da nicht gedacht. Nur immer wieder: Du kannst nix machen. Sie haben mich dann auf den schmalen OP-Tisch gehoben, ich war ja leicht. So legen sie dich auch mal in den Sarg, das Gefühl hatte ich. Wenn man gar nix mehr machen kann. Die Narkose war einfach nur entsetzlich. Ich spürte genau den Tubus in meinem Hals, ich wusste, dass irgendwas nicht stimmt, ich hatte furchtbare Angst, sie würden anfangen, mich zu operieren, ohne dass ich betäubt wär, ich wollt schreien, aber ich konnt ja nicht. Dann gab es richtig so was wien Schlag, ne Erschütterung durch meinen ganzen Körper, mir war, als würden mir Arme und Beine ausgerissen. Ein Arzt, dem ich später mal davon erzählt hab, hat mich ganz starr angeguckt und dann den Kopf geschüttelt:»Frau Plötz, das hätten Sie nie erleben dürfen. «Mir kam das auch teilweise nicht so vor: dass ich das bin, dass mir das alles passiert.
Als ich aufgewacht bin, wusst ich nicht, was los ist. Ich musste sofort kotzen. Dann merkte ich meinen Bauch, den großen Schnitt, einmal quer rüber. Ich traute mich nicht hinzugucken. Doktor Krafczyk wirkte erleichtert. Er sagte, sie hätten erst gar nichts gesehen, vor lauter Eiter. Alles verklebt. Dann hätten sie endlich die Ursache gefunden. Normalerweise wär ich tot gewesen, mit einem geplatzten Blinddarm. Aber irgendwas hatte sich abgekapselt, der Eiter war nicht in die Blutbahn gelangt, hatte mich nicht vergiftet. Ich hab das nie genau kapiert, es war mir auch egal, zu dem Zeitpunkt war mir alles so egal, ich lag da mit meinem zugenähten Bauch voller Schmerzen und wollt keinen sehen, nicht mal Friedhelm, ich wollt nicht, dass er mich so sehen muss. Ich wollte Romy sehen, mein Kind, und das ging nicht. Es ging überhaupt nix. Ich konnt nicht gehen, ich kam überhaupt nicht hoch, ich durfte auch nicht. Ich konnt nicht essen, aber ich musste. Mein Körper vertrug die künstlichen Fäden nicht, es heilte nicht, ich kriegte Fieber. Sie haben die Fäden wieder rausgezogen. Ich lag da mit einem offenen Bauch. Sie haben mir Mull, Drainagestreifen in die Wunde gestopft. Jeden Morgen neue. Jeden Morgen mussten sie die alten rausziehen, und die klebten. Ich konnte mir ein Leben ohne Schmerzen gar nicht mehr vorstellen, ein normales Leben wie vorher, das kam mir wie das Paradies vor. Ich dachte, das ist für immer vorbei. Nach diesen drei Monaten wusst ich ja kaum noch, dass es so was wie draußen, die Welt da draußen, Jahreszeiten und so, dass es das alles gibt, für mich gabs das nicht mehr. Ich war nur noch ein Strich, ich hatte nie gute Werte, ich hatte ganz verknorpelte Venen, am Ende haben sie mich in den Fuß gestochen. Ich dacht, sie entlassen mich nie. Aber mitten im Winter kam ich raus. Die Sonne schien, und es lag ein ganz klein wenig Schnee. Die paar Schritte zum Taxi ging ich wie auf Eiern, auf Friedhelm gestützt. Zu Hause konnt ich mein Kind nicht auf den Arm nehmen. Ich durfte auch nicht.»Sie dürfen nicht schwer heben«, haben sie gesagt,»auch später nie«. Ich konnte keine Kinder mehr bekommen. Alles verklebt. Mein Kind erkannte mich nicht. Sie hatte Angst vor mir. Ich hatte Angst, dass das so bleibt, dass ich gar kein Kind mehr hab. Ich hab ihr ALLE MEINE ENTCHEN vorgesungen, da hat sie meine Stimme erkannt, oder ich weiß nicht, irgendwas an mir muss sie doch an ihre Mama erinnert haben.
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