Durch den langen, mit Teppich ausgelegten Gang nähert sich eine Kellnerin.
Sie trägt ein leeres Tablett und ist auf der Suche nach Gläsern und Flaschen, die die alten Frauen stehen gelassen haben. Es ist halb drei. Die Spielautomaten sind verwaist. Die alten Frauen sind nicht mehr da. Judith wendet den Blick ab. Sie schaut auf das Display des Automaten, an dem sie vorher gespielt hat.»Hast du noch einen Dollar?«, fragt sie. Mit einem Gefühl der Erleichterung greife ich in meine Tasche. Es hat gar keinen Sinn, wenn wir wirklich einen größeren Betrag verspielen. Ich denke das vielleicht im Hinblick auf die Nacht, die uns noch bevorsteht. Die Stunden, die uns noch bleiben, wenn wir auf unserem Zimmer sind.»Es ist doch viel besser so«, flüstere ich, raune ich mir zu. Jetzt, während ich auf den A-Train warte, der mich schließlich zum Flughafen bringt, und diesen Augenblick Revue passieren lasse, ist es nur ein ganz kurzer Moment, ein kurzer Augenblick.»Willst du?«, frage ich. Ich sehe uns, in der Erinnerung, wie wir zurück ins Zimmer gehen. Das große, glamouröse Bett, von dem wir das Bettzeug heruntergerissen haben. Ich sehe unser Zimmer, ein grelles hyperrealistisches Gemälde. Das Gemälde eines kalten, körperlosen Kusses. Es ist mehr ein Versehen, dass wir den Pay-per-View-Kanal benutzen.»Warum nicht?«, sagt Judith, als ich sie frage, ob sie das sehen will. Und sie greift nach dem Kopfkissen, das auf den Boden gefallen ist. Unsere Lebensgeister kehren noch einmal zurück. Wir richten uns auf, die Hände auf das Bett gestützt, und starren auf den Fernseher.
Die Bettlaken sind so straff gespannt, dass das Bett wie ein Felsen unter uns liegt. Der Schrank, in dem der Fernseher untergebracht ist, ist geschlossen, lässt sich aber leicht öffnen. Als ich mir den Mechanismus des Schlosses genauer anschaue, merke ich, dass man überhaupt keinen Schlüssel hineinstecken kann und dass das messingfarbene Schloss nur zur Verzierung auf das Holzfurnier aufgeklebt ist. Und vielleicht ist das das ganze Geheimnis, in dem sich die eigentliche Kraft unserer Liebe offenbart. An manchen Tagen lieben wir uns nicht, sondern warten nur, dass die alten Gefühle wieder zurückkehren. Vielleicht ist das eine Frage der Dosierung, eine Frage des verantwortlichen Umgangs mit Gefühlen, den man nicht so ohne weiteres steuern kann. Bei Gabriela kann ich mir vorstellen, dass sie sich einen solchen Film anschaut, mit derselben Unvoreingenommenheit, mit der sie auch sonst alles anschaut, was mit Sexualität zu tun hat. Einmal hat sie sogar zusammen mit ihrem Freund eine Erotikmesse besucht und mir erzählt, wie» lustig «und» interessant «sie vor allem die Frauen findet.»Die Frauen?«, frage ich sie.»Du fandst sie lustig?«»Ja«, sagt sie,»sie hatten Spaß miteinander. Alle haben ständig gelacht. «Ihr würde auffallen, dass die Darstellerinnen in dem Film, den ich mit Judith in Primm sehe, auffallend klein sind. Garantiert würde Gabriela sagen:»Warum sind die denn alle so klein?«Oder sie würde sagen:»Die waren alle im Solarium. Alle zusammen. «Gabriela geht selbst ins Solarium, und zwar regelmäßig. Die gleichmäßig gebräunte Haut der Darstellerinnen in dem Porno, den ich mit Judith sehe, lässt diese Frauen für mich als Wüstenfrauen erscheinen, Wüstenbewohnerinnen, die irgendwie in diesen Film hineingeraten sind und bei denen sich die Sonneneinstrahlung gleichmäßig auf ihre kleinen wendigen Körper verteilt hat. Einige von ihnen tragen Ringe und Armreifen oder schwere goldene Ketten, die mehrfach umeinandergewickelt sind. Und auch das würde Gabriela nicht unkommentiert lassen. Sie würde sagen:»Und sonst haben sie nichts an. Lustig was?«Judith sagt dagegen nichts. Sie schaut einfach nur zu. Sie macht nicht eine einzige Bemerkung. Schaut sie den Film an, um mir einen Gefallen zu tun? Ich sage:»Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt Lust darauf habe. «Und dann sage ich:»Ich bin gar nicht in der Stimmung dafür. «Gabriela schaut sich die Frauen auf der Erotikmesse an. Sie findet es erstaunlich, wie gut sie sich in Form halten und wie gepflegt sie sind. Einige von ihnen findet sie auch attraktiv. Sie sagt:»Aber es ist ja eine Messe. Da ist das dann eben so.«»Dass man sie attraktiv findet?«, frage ich.»Nein, dass sie Spaß haben, und die Leute, die sie anschauen, haben auch Spaß. Das ist doch schön. «Und ich kann nicht anders, als zu denken, dass Gabrielas große unerschöpfliche Unschuld mich noch bis an mein Lebensende immerzu rühren und verzaubern wird.»Willst du dir das wirklich anschauen?«, frage ich Judith mit der Fernbedienung in der Hand, unfähig, den Pay-per-View-Kanal wieder zu verlassen. Wir haben noch nicht mal eine Decke. Wir liegen beide nackt auf dem beigefarbenen Riesenbett und sind der Erregung, die uns ergreifen soll, hilflos ausgeliefert.
Es muss Primm gewesen sein. Und zwar unter Mitwirkung von acht Frauen, die eine Büro-Sex-Szene spielen. Die Frauen sind in einem fiktiven Büro, in dem mehrere Schreibtische stehen und eine Sitzgarnitur sowie eigenartigerweise auch eine Fahrstuhltür, die sich aber während des Ausschnittes, den wir sehen, nicht öffnet, in meiner Erinnerung aber später eine große Rolle spielt. Zwei oder drei Frauen bilden jeweils eine Gruppe, um die sich die Kamera herumbewegt. Es gibt keinen Auftakt, kein Vorspiel, nicht die geringste Einleitung. Die Wüstenbewohnerinnen spielen miteinander, und wir schauen zu. Besonders große Schwierigkeiten habe ich mit ihren rasierten Geschlechtsteilen. Nicht, dass ich so etwas noch nie gesehen hätte, aber ich empfinde es Judith gegenüber als geschmacklos. Im Grunde schaue ich nicht hin, sondern schaue die ganze Zeit zu Judith und schaue zu, wie sie den Film aufnimmt. Ich tue so, als würde mich natürlich der Anblick von Judith sehr viel mehr erregen als der der Frauen im Hotelfernseher, in dem dunkelgebeizten, klobigen Schrank. Sie sind Kraftsportlerinnen. Ihre ausgeschabten Achselhöhlen blitzen im künstlichen Licht auf. Die Wüste hat ihre Körper glatt und geschmeidig gemacht. Ihre Zungen sind behände, reaktionsschnelle Tiere, die aus dem Untergrund kommen. Ihre Schamlippen, zusammengefaltete Hände, die sich in ihren Schoß hineingearbeitet haben. Sie haben ihre Arme verloren. Ihre Finger ziehen ihre Münder auseinander, ihre Hände arbeiten an fremden Körpern. Einmal sehe ich eine Szene, die Judith kommentarlos durchgehen lässt, wie eine Frau einer anderen mit ihrer kleinen fleischigen Zunge so abenteuerlich schnell über die kalten, trockenen Schamlippen leckt, dass man denkt, ihre Zunge sei verrückt geworden, habe sich selbständig gemacht, und es sei ihr nicht mehr möglich, sie noch länger in ihrem Mund, zwischen ihren Lippen festzuhalten.»Tja«, sage ich und lache. Ich traue mich nicht, etwas zu sagen. Ich fürchte, ich könnte die latent erotische Stimmung gefährden, die mir aber gleichzeitig nicht ganz geheuer ist. Plötzlich bin ich hellwach. Erregt mich der Anblick der nackten Frauen, obwohl ich gar nicht hinschaue? Ich kann nicht sagen, dass mich der Anblick von Judith in diesem Moment erregt. Die Wüstenbewohnerinnen stecken sich gegenseitig die Hände, die Finger und die Zungen in den Mund. Im Grunde probieren sie alle Körperöffnungen und alle Extremitäten in ihren verschiedenen Kombinationen miteinander aus. Das ist gehobene Büroarbeit. In einer Szene fährt eine hagere, sonnengebräunte, wasserstoffblonde Wüstenfrau mit ihren zweifach beringten Zehen über die Klitoris einer auf der Couch liegenden anderen Frau, die die Beine mit beiden Händen so auseinanderspreizt, dass sie wie ein großer, ins Leere führender Brückenkopf über einer sich ihrer Scham nähernden dritten langhaarigen Frau schwebt. Das Kunstwerk, zu dem ich den Kommentar» na ja «oder» tja «wage, scheint Judith aber nicht weiter zu interessieren. Sie gibt keine Anzeichen von Anteilnahme oder Erregung von sich, obwohl ich mich zu erinnern glaube, dass sie im Widerschein dieser hellen, grell leuchtenden Bilder die Augen leicht zusammenkneift. Aber wo ist der Übergang? Wo ist der Moment, in dem Judith mich oder ich sie berühre?
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