Immer dann, wenn wir unterwegs sind, wenn wir ein Ziel vor Augen haben, verstehen wir uns am besten. Wir legen Entfernungen zurück, vor denen wir sonst zurückschrecken würden. Stundenlang fahren wir, ohne auch nur ein einziges Mal anzuhalten. So als ginge es darum, sich in der Bewegung zu verflüssigen und auch innerlich beweglich zu bleiben, trinke ich ständig etwas. Auf dem Rücksitz stapeln sich die leeren Flaschen. Auf der Fahrt nach Borrego Springs, nach Primm und zu den Kelso Dünen nehme ich so viel Flüssigkeit zu mir, dass es auch Judith auffällt. Spüre ich die herannahende Krankheit, ahne ich die drohende Eskalation? Judith trinkt kaum etwas. In meiner Erinnerung nippt sie nur an ihren Getränken.»Was ist dein Lieblingsgetränk?«, frage ich sie einmal. Und sie antwortet:»Ich hab keins. «Und dann sage ich:»Aber du musst doch eins haben. «Sie wirft mir vor, ich interessierte mich nicht für Alkohol, hätte keinen Sinn für den Rausch, die Verausgabung. Sie bedauert es, dass wir nicht mehr trinken, und mit» mehr trinken «meint sie zweifellos Alkohol. Vielleicht sei ich ja deswegen so kontrolliert und asketisch, weil ich meinen Klienten gegenüber» so viel Verantwortung «empfände, dass ich mir keine» hedonistischen Momente «erlauben wolle. Ich widerspreche ihr nicht, teils aus Eitelkeit, teils weil ich gerne glauben würde, dass sie die Wahrheit sagt. Obschon alle Erkenntnisse, zu denen ein wohlwollender Beobachter kommen würde, dagegen sprechen, denn ich lasse mich genau deswegen gehen und schrecke genau deswegen vor keiner Eskapade zurück, weil ich denke, ich könne meine Klienten dann besser verstehen, und zwar in all ihren Verfehlungen, ihren Sehnsüchten und ihren zerschlagenen Hoffnungen. Ich trinke ununterbrochen, aber ich kann mich nicht erinnern, dass wir auch nur ein einziges Mal anhalten. Muss ich nicht irgendwann diese ganze Flüssigkeit loswerden? Ich frage mich das im Zuge meiner Erinnerung, die mir zusehends unberechenbarer und manipulativer erscheint. Warum muss ich nie auf die Toilette? Nur einmal, es ist irgendwo nördlich des Anza-Borrego Desert State Parks, erinnere ich mich, wie ich den Wagen verlasse und Judith und ich auf einmal getrennt sind und es mir mitten in der Wüste nicht gelingt, die Straße zu überqueren. Ich versuche hinüberzukommen, aber es ist unmöglich. Wenn ich die Augen schließe und mir die Szene zu vergegenwärtigen versuche, reißt der Strom der Wohnmobile mit ihren mit Segeltuch bespannten Aufbauten und ihren mit Fahrrädern und Motorrädern beladenen Anhängern, ihren Zusatzfahrzeugen, Aufklebern, Wimpeln und Amerikaflaggen nicht ab. Und es kommen immer neue Wohnwagen, neue Sport Utility Vehicles mit Anhängern, auf denen in ritterlicher Pracht die Motorräder stehen, die mit Gummibändern festgezurrt sind. Es ist einfach unendlich, es hört nicht mehr auf, und ich schaffe es nicht, in meiner Erinnerung, diesen Strom von Fahrzeugen zu unterbrechen, ihn zu Ende gehen zu lassen. Ich schaffe es nicht, die Straße zu überqueren, ich komme nicht auf die andere Seite.
Wir fahren Richtung Nordwesten, übernachten in einem kleinen Ort nicht weit von San Diego, besichtigen eine Geisterstadt, die in Wirklichkeit ein von Familien und Touristen überflutetes Freilichtmuseum ist, fahren weiter, übernachten wieder und erreichen schließlich den Anza-Borrego Desert State Park. Wir fahren so langsam, dass jemand neben uns herlaufen könnte, wenn es in dieser Einöde noch jemanden außer uns gäbe. Wir tun nichts anderes, als zu fahren, stundenlang, um dann am Abend in einer ausgeklügelten, dramatischen Inszenierung das schönste, aber auch das billigste Hotel zu finden, in dem wir dann wenig später einschlafen, um am nächsten Tag zu versuchen, noch etwas Besseres und Schöneres zu finden. Eine Aufgabe, die sich nicht so leicht erfüllen lässt, wenn man nicht vorher schon alles plant. Judith versucht, die Übernachtungsorte immer per Internet zu buchen, was vor unserer Fahrt nach Baltimore fehlschlägt, da ich zwei Stunden lang ihre Bemühungen torpediere, bis sie sich geschlagen gibt und wir ohne Buchung losfahren. Dieses Fahren, dieses gleichmäßige Dahingleiten nimmt in meiner Erinnerung den meisten Raum ein. Am liebsten würde ich nur daran denken, wie wir fahren. Ab und zu unterbrechen wir unser Schweigen, schalten das Radio ein oder hören eine CD. Eine Klientin hat mir eine zum Abschied geschenkt, und ich bedauere es, dass ich mich aus professionellen Gründen jetzt nicht mehr bei ihr melden und mich für die CD bedanken kann. Die Band nennt sich nach einer Figur aus einer Erzählung von Kafka» Blumfeld«, und Judith und ich singen bei» Tausend Tränen tief «laut mit. Judith liebt das Lied. Sie programmiert den CD-Spieler so, dass wir es immer wieder hören können. Zu einer gelungenen Reise zweier Menschen, die sich lieben, gehört es, dass man darum kämpft, Orte zu finden und zu Orten zu gelangen, die in der Erinnerung später eine Rolle spielen und unvergesslich bleiben.»Möchtest du mal schauen?«, fragt Judith jedes Mal, wenn wir ein Vacancy-Schild sehen.»Nein, lass uns noch ein bisschen weiterfahren«, sage ich.»Es sieht irgendwie komisch aus. «Mir bleiben zwei Nächte in Erinnerung, wenn man die Rückfahrt nach San Diego nicht mitzählt. Die anderen Nächte, die wir irgendwo verbringen, in denen wir irgendwo übernachten, sind aus meiner Erinnerung mehr oder weniger schon wieder verschwunden und nicht mehr rekonstruierbar. Es sind die Nächte, die verloren gegangen sind.
Den Verdacht, dass ich diese Reise verkläre, habe ich von Anfang an. Ich denke immer, in Baltimore ist nichts passiert, Baltimore ist eine einzige Katastrophe, obwohl ich vorher noch gedacht habe, Baltimore sei in Wirklichkeit ein Neubeginn gewesen. Die Reise in der Wüste erscheint mir jetzt im Nachhinein als etwas ganz Besonderes, und ich möchte sie eigentlich lieber nicht in Frage stellen. Ich suche ein besonderes Detail, einen Ausdruck von Charme im Stil der Einrichtung, wenn ich mir die verschiedenen Hotelzimmer, Motels und Privatunterkünfte anschaue. In Julian hat eine Frau das Jugendzimmer ihres Sohnes in eine märchenhafte Traumlandschaft und die Zimmerdecke mit Tüchern und Diaprojektionen in einen Sternenhimmel verwandelt, auf den sie so stolz ist, dass wir, während wir das Zimmer besichtigen, die ganze Zeit nur zur Decke schauen.»Das ist genau das Richtige für ein junges Paar«, sagt sie. Wir schauen uns neun verschiedene Unterkünfte an. Zwei Motels, drei Hotels und vier Privatunterkünfte, bevor wir Julian wieder verlassen und in den Nachbarort fahren, um dann aber doch wieder zurückzukehren und in einem Hotel zu übernachten, das uns gar nicht gefällt.»Das ist wunderschön«, sage ich zu der Frau in Julian.»Und ich sehe, Sie haben hier sogar ein Himmelbett. «Judith setzt sich in den Wagen und wartet, bis ich den nächsten Versuch starte. Es ist eine besondere Fähigkeit von ihr, in schwierigen Situationen von einer auf die andere Sekunde absolut teilnahmslos und gefühllos zu werden. Sie zeigt keine Anzeichen von Erschöpfung. Wenn ich sie frage, ob alles in Ordnung ist, nickt sie nur. Am nächsten Morgen verlassen wir Julian und fahren auf dem direkten Weg zum Anza-Borrego Desert State Park. Man kann das Gaspedal in dem Camaro so einstellen, dass der Wagen automatisch Gas gibt und man überhaupt nichts mehr tun muss, außer zu lenken. Wir fahren, ohne anzuhalten. Wir wissen noch nicht, dass wir kurze Zeit später das schönste Hotel und damit den Höhepunkt unserer Reise schon erreicht haben.
Das Hotel liegt etwas abgelegen und ist nicht so leicht zu finden. An einigen Stellen ist der Weg nur noch eine Sandpiste.»Hier ist niemand«, sagt Judith, als wir über ein asphaltiertes Stück zwischen niedrigem Gestrüpp fahren. Aber dann taucht es plötzlich auf, wie ein aus dem Felsen herausgebrochenes Monument. Es ist ein flaches zweistöckiges Gebäude, von hochgewachsenen Palmen umgeben. Als wir uns nähern, erkennt man deutlich, dass es bewohnt ist. Es trägt einen ganz einfachen Namen. Es heißt The Palms. Es ist niemand da, keine Gäste, kein Personal, nicht einmal jemand am Empfangstresen. Für einen Moment vergessen wir die stundenlange Suche nach dem geeigneten Ort, die Agonie, in der wir die ganze Gegend abgefahren sind. Palm Canyon Drive, Borrego Valley Road, Henderson Canyon Road. Wir stehen an der Rezeption, kleine Stapel mit weißen Handtüchern liegen nebeneinander auf dem Empfangstresen. Ich sehe es in Judiths Augen, die Leichtigkeit und Beschwingtheit, mit der sie unser Zimmer in Beschlag nimmt. Die Lobby ist erleuchtet, und im Hintergrund läuft fast unhörbar etwas von Burt Bacharach. Wir sind allein, aber trotzdem scheint es, als wären bis vor wenigen Sekunden alle noch da gewesen. Das Einzige, was wir tun müssen, ist, eine Telefonnummer zu wählen und einer freundlichen Frauenstimme am anderen Ende unsere Kreditkartennummern durchzugeben, und schon können wir uns eine Suite zu besonders günstigen Konditionen aussuchen, mithin also den schönsten, spektakulärsten Raum im ganzen Haus. In den 40er Jahren haben hier Hollywood-Schauspieler residiert. Die Inneneinrichtung ist im Art Deco Stil gehalten, und die verfallenen Bungalows in der Umgebung erinnern an alte glanzvolle Zeiten, in denen das Hotel ständig ausgebucht war. Als wir draußen im Whirlpool sitzen und auf die Palmen und das beleuchtete Hotel schauen, wird uns auf einmal bewusst, was für ein Glücksfall das ist.»Das ist wahrscheinlich das schönste Hotel, das ich jemals gesehen habe«, sagt Judith.»Wirklich, ganz bestimmt«, erwidere ich, während über dem Pool ein leichter Dampfschleier aufsteigt. Die Palmen spreizen sich im Wind. Licht windet sich durch die Lobby, den Saal, unsere Suite im ersten Stock, mit dem ums Eck herumführenden Fensterband, das einen violetten Schimmer verbreitet. Die Granitfelsen des sich hinter dem Hotel erhebenden Indian Head ruhen in der Dunkelheit. Judith streckt ihre Beine aus. Ich sage ihr, wie gut ihr der Ring steht, den ich ihr gekauft habe. Der kleine künstliche Brillant ist auf einem durchsichtigen Plastikband so befestigt, dass es so wirkt, als klebe der Diamant direkt auf dem Gelenk ihres Zehs. Sieben Dollar fünfzig. Wir stützen uns mit den Armen auf den Plastiksitzen ab. Wir können unser Glück nicht fassen.»Und es ist niemand hier«, raunt sie mir zu. Wir stellen uns vor, wir seien die letzten Menschen auf der Erde und fünfzehn Minuten nach dem Untergang der Welt funktioniere alles noch, sogar der Whirlpool.»Hättest du das gedacht«, sage ich,»dass wir so ein tolles Hotel finden?«Ich möchte ein bisschen Anerkennung dafür, dass ich bei der Suche so hartnäckig darauf bestanden habe, jedem Hinweis nachzugehen. Das Hotel wird in meinem Reiseführer als Geheimtipp gehandelt.»Das hast du toll gemacht.«»Und es hat dich nicht genervt?«Ich lasse meine Füße leicht aus dem Wasser hochsteigen.»Natürlich hat es dich ein bisschen genervt. «Judith schüttelt den Kopf.»Nein«, sagt sie.»Es ist das schönste Hotel der Welt, und ich werde es niemals vergessen. «Sie dreht sich zur Fassade des Palms um, schaut anerkennend auf die schwarzen Fensternischen und die im Dunkel liegende Glasfront des Restaurants. Wir müssen in die Stadt zurück, um etwas zu essen. Die Aussicht, unser Hotel für ein paar Stunden zu verlassen und dann wieder zurückzukehren, ist geradezu berauschend.
Читать дальше