Während wir in der Küche zusammensaßen, hockte Zehner an der Theke, schnitt vor der verchromten Zapfsäule Grimassen. Nachdem Alma bedient hatte, kam sie in die Küche zurück, ich ging zu meinem Bruder hinauf. Am Flurende, wo der Eingang für Hotelgäste ist, hörte ich, wie Zehner meinen Namen rief und Alma ihm sagte, er solle still sein. Die Hotelgäste bekommen einen Schlüssel für diese Tür, damit sie nicht durch die Gaststätte gehen müssen. Das Treppenhaus führt in die erste und zweite Etage hinauf. Auf einem Treppenabsatz stand eine von Mutter bemalte Milchkanne, an der Wand hing noch immer die topografische Karte der Eifel, von Werbeanzeigen der Raiffeisenbank, des Autohauses, des Zementwerkes, der Zehnermühle eingerahmt. Ich sah den Verlauf der Urft, der Kyll, der Sauer und Nims, der Flüsse, die sich durch enge felsige Täler schlängeln. Jemand hatte mit Kugelschreiber Kringel um die Dörfer gemalt, Hunscheidt, Krekel, Wahlen, Floisdorf, Mürlenbach, Birresborn, Kyllburg und Keldenich, eine markierte Route an Kalk- und Sandsteinbrüchen vorbei. An der Wand im Treppenhaus und im Flur hingen Fischzeichnungen von Hermann, darunter in winziger, kaum lesbarer Schrift seine Beobachtungen über diese Fische. Schließlich stand ich vor dem Zimmer meines Bruders. Er wollte eigentlich nie ein eigenes Zimmer haben, zog es vor, in einem der Gästezimmer zu schlafen, die alle gleich eingerichtet sind, eine weiß gekachelte Dusche, ein Schrank, ein Tisch, das Bett, daneben die Tür zum Balkon. Im Flur war es klamm und kühl, das ganze Haus zu heizen ist in der Übergangszeit zu teuer, wenn nur wenige Gäste bei uns logieren. Damals, als Hermann von der Seefahrt zurückkam, baute er von seinen Ersparnissen in einige Zimmer Duschen und Toiletten ein und installierte eine Ölheizung im Haus. In den vergangenen Jahren blieb aber nie Geld übrig, um auch die restlichen Zimmer zu renovieren. In den Wintermonaten waren die Einnahmen oftmals so gering, dass die Getränkelieferanten nicht bezahlt werden konnten. Ich stand vor der Tür und versuchte, mit meinem Bruder zu reden. Ich sagte, dass ich mit ihm fischen gehen wolle, gleich oder am nächsten Tag in aller Früh, noch bevor die ersten Angler am Fluss sein würden, so wie wir es früher mit Vater gemacht hatten. Er antwortete nicht. Ich sagte, dass ich extra aus Hamburg gekommen sei und in Köln lange gewartet habe, bis endlich eine Bahn in die Eifel gefahren sei. Ich fragte, wie es ihm so gehe und was mit ihm los sei, warum er nicht sprechen wolle, sagte, dass Alma verzweifelt sei und nicht alles allein machen könne, wieso er zuletzt auch noch von dem Fisch angefangen habe, jeder wisse doch, dass das nur ein Hirngespinst von unserem Vater gewesen sei, niemand habe diesen Fisch jemals gesehen, es sei doch nur eine Geschichte, die Angler sich erzählten, die Vater aufgeschnappt und geglaubt habe. Vater hatte viele Geschichten geglaubt und weitererzählt, das ganze Leben war für ihn nur eine fantastische Geschichte gewesen. Ich warnte Hermann, wenn er nicht damit aufhöre, würde er noch in eine Anstalt kommen, sagte, ich müsse eigentlich bei der Arbeit sein, redete von meinen Problemen, dass mein Chef mir keinen Urlaub hatte geben wollen und dass ich nun gar nicht wüsste, was ich hier solle, wenn er nur schweigend in seinem Zimmer bleibe und niemanden hineinlasse.
«Komm raus, Hermann, los, wir gehen fischen. Die Schwestern sind auch unten, die werden staunen, wenn du runterkommst und wir zusammen fischen gehen, und Alma wird sich erst freuen. Du willst doch nicht, dass Alma weint, Hermann, das willst du doch nicht, sie hat mich angerufen, weißt du.» Ich sagte ihm noch, dass ich während der Fahrt auch einige seiner Kassetten gehört hatte.

Die Nymphe ist eine kleine Schönheit, ein noch unfertiges Insekt, das an sonnigen Tagen aus dem Wasser aufsteigt. Sie bringt ihre Jugend dort als Larve und räuberisches Insekt zu. Doch nun steigt sie auf, um ein anderes, schöneres Wesen zu werden; aus Tau geboren, über dem Fluss schwebend, in wehenden Gewändern zu Flötenmusik von Satyrn und Faunen umtanzt.
Ich ziehe ein Stück flussaufwärts zu einer Stelle unterhalb der kleinen Stromschnellen, wo sich das Wasser in einem ruhigen flachen Abschnitt staut, wo sich Schaumkronen bilden, wo Forellen allerlei Nahrung finden, winzige Insekten, Staubpartikel, kleine Käfer, Samen und Blätter. Ich werfe junge Forellen an, die noch in Schwärmen jagen. Jahre später, wenn sie alt geworden sind, werden sie zu Einzelgängern, vertreiben jeden aus ihrem Revier und fressen sogar kleinere Artgenossen. Ich möchte endlich einen Fisch fangen, spüren, wie die Leine sich spannt, etwas Unbekanntes, gänzlich Fremdes am Haken ist. Es war, so erinnere ich mich, obwohl ich damals das Fischen nicht schätzte —, immer ein Gefühl, als wäre man plötzlich in einer anderen Welt.
«Ich verspreche jetzt hier, dich wieder freizulassen, wenn du den Köder nimmst, ich werde dich freilassen, wenn du den Haken nicht verschluckst», murmele ich vor mich hin. Und dann sehe ich, wie das Wasser sich leicht wölbt, spüre einen leichten Ruck an der Schnur, die Forelle hat gebissen und flieht, nun gebe ich Schnur nach, bis sie steht, sich ausruht, dann zieht sie wieder, wehrt sich prächtig, und schließlich hat sie keine Kraft mehr. Sie hat den Widerstand aufgegeben und liegt erschöpft in der Strömung. Ich ziehe sie vorsichtig heran, nehme sie aus dem Wasser. Es ist eine schöne junge Bachforelle mit bunten Tupfern und einem leicht braunen Rücken. Je älter Bachforellen werden, desto dunkler wird ihr Rücken. Sie ist kalt wie das Wasser, ich spüre, wie ihr Herz rast, während ich den Haken aus ihrem Kiefer entferne, dann halte ich sie unter Wasser, locker in der Hand mit dem Kopf zur Strömung, damit sie sich erholen kann. Im nächsten Herbst wird sie zum Laichen einen Nebenbach hinaufschwimmen, der am Berghang im Wald entspringt. Sie wird sich eine Stelle suchen, wo das Wasser über feinen Sand und Kies fließt und es zuweilen so seicht ist, dass die Flosse aus dem Wasser ragt, und eine Grube mit der Schwanzflosse schlagen und ihre Eier ablegen. Als Jugendliche waren wir oft solchen Bächen gefolgt, um die sich zum Ablaichen sammelnden Forellen in seichten Tümpeln zu fangen, sie waren unseren Holzsperren ausgeliefert. Wir durchbohrten sie, nahmen sie aus und brieten sie überm Lagerfeuer. Als Junge habe ich noch alle gefangenen Fische getötet.
Erst als die Forelle wieder bei Kräften ist und sich in der Strömung behaupten kann, lasse ich sie aus meiner Hand. Vielleicht wird ihr diese Erfahrung eine Lehre sein, wird sie sich nicht mehr so leicht täuschen lassen, alt wie Methusalem werden und viele Nachkommen zeugen. Vater sagte einmal, Fischen sei nichts anderes als die Kunst des Täuschens; im Leben komme es nur darauf an, dieses nach festen Regeln zu machen, sodass jeder eine faire Chance habe, die Täuschung zu erkennen. Dies gelte für das Leben, die Liebe und besonders für das Fischen. Die größte Kunst war demnach das Fliegenfischen, weil die Chancen auf beiden Seiten einigermaßen gleich verteilt sind. Im Gegensatz dazu waren alle anderen Angelmethoden, sei es mit Fleischködern oder Blinkern, barbarisch, sie würden nur von Stümpern und Kneipenfischern ausgeübt. Später änderte Vater seine Meinung, vielleicht weil sich auch seine Meinung über das Leben geändert hatte, es ihm eigentlich nicht mehr darauf ankam, den großen alten Fisch zu fangen. Wenn schon nicht den, dann wenigstens möglichst viele andere, so viele, bis es vielleicht keine Fische mehr gab und nur noch Vater und der alte Fisch Ichthys übrig blieben.
Ich fische jetzt im ruhigen Wasser oberhalb der Stromschnellen, wo die Wiesen sacht an den Fluss herangehen und wo im seichten Uferlehm die Höhlen der Bisamratten liegen. In diesem Bereich sind die Bahngleise fast hundert Meter vom Ufer entfernt. Ich war oft mit Hermann zusammen hier, hier brachte er mir Schwimmen und Tauchen bei. Wenn wir dort waren, beobachteten wir Fische beim Fressen, wie Fliegen auf der Wasseroberfläche landeten, wie sie von der Strömung erfasst wurden, welche Farbtöne Fische im Wechsel der Jahreszeiten annahmen. Bei Gewitterregen war es im Wasser angenehm warm, Blitze zuckten über dem Tal, alles schien wie elektrisiert, und wir schlängelten uns wie Aale im Fluss. Ich konnte mir nie erklären, warum Fische bei Gewitter so zutraulich sind, wir sie berühren und ihnen beim Jagen zusehen konnten. Alma war bei uns, sie trug einen schwarzen Badeanzug, von dem das Wasser abperlte. Sie hatte bei Gewitter Angst, ins Wasser zu gehen, hockte meist unter einem Baum und las in Groschenheften. Almas Brüste waren schon damals groß, ihre Haut leuchtete weiß, und auf der Innenseite ihres linken Oberschenkels verbarg sich eine nur stecknadelgroße dunkle Warze. Ich durfte nachts unter ihre Bettdecke, wo es nach Pfirsich roch. Sie kicherte und gluckste, kraulte in meinen Haaren und flüsterte verführerisch in ihrem fantasierten Französisch. Ich dachte, ich wäre für immer aus dem Paradies vertrieben, als sie mir eines Tages sagte, dass ich nicht mehr zu ihr kommen dürfe, als sie ihre Tür verschlossen hielt, wenn ich davorstand und darum flehte, dass sie mich hineinlassen solle. Ich hasste meinen Bruder deshalb, denn ich wusste, dass ich wegen Hermann nicht mehr zu ihr durfte.
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