Der Krankenwagen und Sartorius hatten nun vermutlich gerade die Wallenthalerhöhe erreicht, fädelten sich dort in den Feierabendverkehr ein, der in einem kontinuierlichen Strom von der Kreisstraße auf die Landstraße floss, kamen durch das Industriegebiet, an Computerläden, Getränkeshops und Supermärkten vorbei. Während sie über die Hüttenstraße am Bahndamm entlangfuhren, flackerte die Straßenbeleuchtung auf, und Sartorius wählte unsere Nummer. Knuppeglas und Salm hatten die Gaststätte betreten. Das Telefon klingelte. Alma bediente die beiden. Wir hörten, wie Knuppeglas sagte, dass sie noch eine Fuhre machen müssten. «Eigentlich ist’s egal, die Viecher verrecken sowieso», schimpfte Salm. Claudia sprach nun mit Sartorius am Telefon. Die jüngere Schwester stand auf, um die Schiebetür zu schließen. Als sie sich wieder zu mir an den Tisch setzte, fragte sie, was ich davon hielte, wenn wir die Gaststätte verkauften.
Dann stand Mutter plötzlich in der Küche. Sie hatte sich, Gott weiß, wie, aus dem Stift hierherverirrt, ihre Haare und ihre Kleidung waren klatschnass, sie trug Pantoffeln und stand zitternd neben der Spüle. Sartorius fragte nach unserem Bruder, und als Claudia keine Antwort gab, sagte er, dass er in wenigen Minuten mit dem Krankenwagen eintreffen werde. Mutter war durch den Flur zum Treppenhaus gewankt. Meine Schwestern liefen ihr nach. Renate nahm Mutter in den Arm, drückte sie fest an sich und rubbelte mit beiden Händen über ihren Rücken, um sie zu wärmen. Aber Mutter wollte zu Hermann hinauf.
Als wir alle vor seiner Tür standen, betraten unten die Brückenarbeiter die Gaststätte. Niemand war da, um sie zu bedienen. Zehner redete von dem alten Fisch, den man fangen werde, einer sei dazu bestimmt, ihn zu fangen, er schrie es so laut, dass wir es bis ins Treppenhaus hörten. Claudia klopfte an Hermanns Tür, sagte, dass Mutter gekommen sei, auch Sartorius werde jeden Moment eintreffen. Sie rüttelte an der Türklinke, die Tür sprang auf, als wäre sie nie verschlossen gewesen, so als hätten wir den ganzen Tag über jederzeit zu Hermann hineingehen können. Im Zimmer hingen überall Angelschnüre, an der Tapete unzählige Köderfliegen, winzige Larven und Insekten, Käfer und Schmetterlinge. Es stank nach vergammeltem Fleisch. Auf dem Boden in Einweckgläsern wimmelten Maden, ausgebreitete Zeitungen, überall lagen Hermanns abrasierte Haare herum, Federn, leere Flaschen, Zeichnungen von Fischen. Hermann saß nackt auf seinem Bett, er hatte die Hechel aus schillernden Kragenfedern eines Hahns auf seinen rasierten Kopf geklebt, seine Lippen waren wie ein Fischmaul geschminkt. Die ältere Schwester lief schreiend über den Flur, setzte sich auf den Treppenabsatz, die Jüngere versuchte, sie zu beruhigen. Mutter setzte sich neben Hermann und streichelte seine Hand. Auf dem Tisch lagen Hermanns Geräte zum Köderbinden, sein Schulkatechismus, Vaters Notizhefte, eine Fotografie von Hermann am Flussufer, wie er stolz seine erste gefangene Forelle präsentierte.
Ich wate ein Stück durch knietiefes Wasser, sehe Sonnenfischchen, die im letzten auf dem Wasser glitzernden Licht unter der Oberfläche umherwimmeln. Oft haben Angler an der Theke davon geredet, dass Sonnenfischchen gute große Fische angezeigt hätten, die sie dann tatsächlich herausholten. So groß wie die ausgestreckten Arme eines erwachsenen Mannes sollen die Fische gewesen sein. Ich habe dieses Gerede nie geglaubt, ich hielt es für Anglerlatein, aber jetzt folge ich den Fischchen, weil ich gar keine andere Wahl habe. Sie schwimmen stromaufwärts, ich muss über morsche, ins Wasser gestürzte Bäume klettern, zwischen denen sich verdorrtes Gras und Müll verfangen haben. Wenn ich ihnen nicht mehr folgen kann, scheinen sie sich zu versammeln und auf mich zu warten. Doch dann sind sie plötzlich alle verschwunden. Die Sonne ist hinter den Uferbäumen untergegangen. Es dämmert. Nebelschleier schweben überm Wasser.
Ich stehe frierend und verloren da, wie früher in der Kindheit, wenn Vater und Hermann fischend weitergegangen waren, ich alleine zurückblieb. Doch jetzt glaube ich, am gegenüberliegenden Ufer im Tiefen, nahe der Hauptströmung, große Fische zu sehen, die sich im Ruhigwasser postiert haben und lauern. Um ihnen einen Köder so dicht wie möglich anzubieten, werfe ich schräg flussauf, ziehe wieder zurück und versuche es immer wieder aufs Neue, bis der Köder punktgenau und zart wie ein Federflaum an der Grenze zwischen Haupt- und Rückströmung aufsetzt und abwärtstreibt. Mit ruckartigen Zupfern führe ich ihn zurück, wobei er die Bahn der Fische kreuzt. Vielleicht ist der alte Fisch unter ihnen, denke ich, glaube aber gleichzeitig, dass ich nicht mehr ganz normal bin, schon zu lange im Fluss stehe und zu viel getrunken habe. Dann sehe ich den Ichthys, so wie Vater ihn immer beschrieben hat, so wie Hermann über ihn sprach, als wir gestern sein Zimmer betraten, einen großen Fisch mit moosbewachsenen Schuppen, ein Wesen, das es gar nicht geben dürfte, das allein schon deswegen geangelt werden muss. Hermann jedenfalls sagte immer, dass er unbedingt gefangen werden müsse.
Als wir gestern Abend sein Zimmer betraten, redete Hermann nur von diesem Wesen. Mit seinem geschminkten Mund und der Hechel auf dem Kopf sah er wie eine komische Pappfigur aus einer Geisterbahn aus. Sartorius kam mit der Ärztin und zwei Krankenpflegern die Treppe hinauf. Hermann weigerte sich, mit ihnen zu gehen, die Ärztin gab ihm eine Spritze. Als das Medikament wirkte, versorgte sie die Schnitte, die er sich überall am Körper zugefügt hatte, und legte ihm eine Decke über. Hermann zitterte und zappelte wie seine Köder. Sie mussten ihn auf der Trage festschnallen. Er redete von dem seltsamen alten Fisch, den er fangen wollte; unentwegt redete er weiter. Die Schwestern weinten, sie verstanden das nicht, niemand von uns konnte das verstehen. Mutter stand neben den Schwestern, auch sie weinte, ich habe unsere Mutter nie zuvor weinen gesehen. Ein Pfleger blieb bei Hermann hinten im Krankenwagen, während der andere mit der Ärztin zum Führerhaus ging. Der Krankenwagen fuhr langsam die Bahnhofstraße hinunter, dann durch das Gewerbegebiet und weiter auf der Landstraße, die unseren Fluss begleitet. Der Fluss, wie Vater sagte, ist das Einzige, das wirklich uns gehört, das ewig unser Erbteil sein wird.
Ich brachte Mutter mit Claudia zusammen ins Stift zurück. Renate lief zum Bahnhof, um noch den letzten Zug in die Stadt zu erreichen. Salm und Knuppeglas waren wieder zum Fluss gefahren, um für diesen Tag die letzten Setzlinge auszubringen. Als sie viel später am Abend zurückkamen, machte Alma Bratkartoffeln und Spiegeleier für die beiden.
«Vielleicht werden sie jetzt die Gaststätte ganz schließen», befürchtete Alma. Sartorius saß an der Theke. Er hatte Hermann zur Klinik gebracht und war danach nochmals zurückgekommen. Ich versprach ihm, mich um Hermann zu kümmern — aber ich war mittlerweile völlig betrunken, und wie immer, wenn ich getrunken habe, redete ich zu viel. Wie soll ich meinem Bruder helfen, ich komme kaum allein zurecht, und niemand weiß, ob Hermann überhaupt wieder gesund wird.

Das Sonnenfischchen oder Moderlieschen ( Leucaspius delineatus ) lebt in Schwärmen dicht unter der Wasseroberfläche und ist sehr scheu. Früher nahm man an, es würde aus dem Schlamm auf dem Grund geboren, deshalb Moderlieschen, oder aus dem glitzernden Sonnenlicht, weshalb man es auch Sonnenfischchen nannte. Es ist nur fingerlang, zart mit silbern glänzenden Schwanzflossen, sein Schuppenkleid ist hellgrün, silberweiß und durchscheinend. Die Mundspalte ist steil nach oben gerichtet, so als würde das Sonnenfischchen freundlich lächeln.
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