«Er hat mich beschimpft, mir Vorwürfe gemacht — auch deinetwegen.» Sie erzählte, Hermann habe in dieser Zeit alles mitgemacht, was Salm und Knuppeglas anstellten. Die drei stiegen in Wochenendhäuser ein, klauten Eisen-, Blei- und Zinkschrott von Baustellen, brachen Autos auf. Es war einträglicher, als im Zementwerk zu arbeiten oder in der Stadt zu jobben. Knuppeglas, der damals noch mit Schrott handelte, verkaufte das Diebesgut in Belgien. In einer Autowerkstatt im Industriegebiet stahlen sie alles, was sich irgendwie zu Geld machen ließ. «Der Heizungskeller und der Raum unter der Bühne waren voll von geklautem Zeug», sagte Alma.
Eines Nachts erschien Sartorius mit einigen Kollegen in der Gaststätte, sie suchten Hermann, der hielt sich in Vaters Büro versteckt. An der Theke stehend, beteuerte Sartorius, dass Zeugen Hermann gesehen hätten, er vermutlich zu einer gefährlichen Diebesbande gehöre, der man jetzt endlich auf die Schliche gekommen sei. Vater ließ sie aber nicht im Haus herumschnüffeln. Hermann kauerte zitternd in Vaters Büro, hatte Angst, ins Gefängnis zu kommen. Vater steckte Hermann Geld zu, half ihm beim Packen, brachte ihn in derselben Nacht noch mit dem Auto nach Köln, von wo aus er mit dem Zug nach Hamburg fuhr.
Während Alma erzählte, war es Abend geworden, die untergehende Sonne schien durch das Dachfenster der Mansarde, es war so wie damals zu Hause, nur dass wir das Rauschen nicht hörten. Wir fragten uns, was Hermann gerade mache, wo er sich aufhalte. Auf dem Platz vor dem Hotel wimmelte es von Pilgern und Touristen. Man hörte das Bimmeln der kleinen Bahn, die durch die Innenstadt zu den Kirchen fuhr. Der Heilige Rock Jesu war damals, nach acht Jahren, wieder in der Basilika zu sehen. Als Alma aufstand, sang sie auf Französisch, sie hatte tatsächlich in der Zwischenzeit Französisch gelernt. «… Je suis une poupée de cire … poupée de son. Mon cœur est grave dans mes chansons …» Sie hatte sich in einem Hotel in Paris beworben, sie wollte endlich weg aus Deutschland.
Ich war gestern am späten Vormittag wieder zu Hermann gegangen, hatte gefragt, was mit ihm los sei, was das alles solle, im Zimmer zu hocken und zu schweigen. Ich war wütend auf meinen Bruder, weil er so tat, als existierten wir für ihn gar nicht mehr. Ich glaubte zu hören, wie er umherging und sich schließlich irgendwo hinsetzte. Auch früher war Hermann manchmal schweigsam gewesen, bei anderen Gelegenheiten aber hatte es nur so aus ihm herausgesprudelt, ich hatte ihm ganze Nächte zugehört, in denen er erzählte und erzählte — so viele Dinge, die ich damals nicht verstand, die es in Wirklichkeit auch nicht gab und die er sich wohl nur ausgedacht hatte.
Ich stand vor Hermanns Tür, versicherte, was auch immer passiert sei, es sei nicht so schlimm, er müsse nur rauskommen, wir würden reden und wie früher an den Fluss gehen. Ich erzählte ihm von meiner Arbeit, denn er hatte sich immer dafür interessiert. Während seiner Zeit auf See hatte er Mutter regelmäßig Geld für mein Studium geschickt, eigentlich war er der Klügere von uns beiden. Ich setzte mich vor der Tür auf den Boden, sagte, dass ich wohl besser hiergeblieben wäre und er an meiner Stelle studiert hätte, erzählte ihm lauter Dinge, die ich glaubte, lange vergessen zu haben. Wieder bat ich ihn, etwas zu sagen, doch endlich die Tür zu öffnen: «Wenn Sartorius heute Abend kommt, wird er die Tür aufbrechen, und die werden dich mitnehmen … Hermann, du bist doch nicht verrückt, Hermann, sag endlich was.»
Der Elfuhrzug nach Trier ratterte vorbei, die Sonne schimmerte nun durch die Glasbausteine des Flures. Auf dem Boden standen künstliche Sonnenblumen in einer der von Mutter bemalten Milchkannen. Überall in die Tapete waren Köderfliegen eingehakt. Hermann fertigte sie zuletzt wie ein Wahnsinniger an, immer neue Köder, neue Varianten mit absonderlichen Namen. Vielleicht ist er ja doch verrückt geworden, und es ist besser für ihn, wenn er abgeholt wird und einige Zeit unter Aufsicht ist, versuchte ich mir einzureden.
Als ich nach unten kam, saß Reese mit den Schwestern zusammen am Küchentisch. Sie schnitt Petersilie und Lauch, zupfte die Blättchen der Zitronenmelisse ab, schälte danach Kartoffeln. Die Schalen drehten sich wie Locken über ihren zitternden Handrücken. Die jüngere Schwester machte sich Notizen in ihrem Kalender und telefonierte wieder mit einer Kollegin.
Gegen zwölf Uhr mittags kamen die ersten Angler, sie waren sehr früh aufgestanden und ohne Frühstück zum Fluss gegangen, nun kehrten sie hungrig mit einem stattlichen Fang zurück, der von Alma zubereitet wurde. Sie saßen währenddessen am Tisch, tranken und redeten über Köder, mit denen sie Erfolg gehabt hatten, von Angeltouren an den Küsten, wo sich die Forelle dem Salzwasser angepasst hatte und silbern schimmerte wie blinkender Stahl. Einer von ihnen sagte, er werde es am Nachmittag mit Zuckmücken versuchen, andere wollten künstliche Fliegen, Blinker oder Wobbler nehmen. Sie erkundigten sich auch nach Hermann, fragten mich, ob ich der Bruder sei.
Sartorius hatte in der Zwischenzeit angerufen, um uns zu sagen, dass er später vorbeikommen werde. Die Schwestern wollten längst wieder zu Hause sein, doch jetzt mussten sie noch bleiben, wenigstens bis man Hermann abgeholt hatte. Sie schimpften darüber, wiederholten, dass sie ihre Zeit nicht gestohlen hätten.
Alma nahm Äschen aus dem Korb, legte sie auf die Anrichte, ging zum Küchenschrank, um ein scharfes Küchenmesser zu holen. Die Äschen waren in die großen Blätter der am Ufer wachsenden Pestwurz eingewickelt und hatten Grashalme zwischen ihren kleinen scharfen Zähnchen. Sie legte einen Fisch in ihre Hand, entfernte mit dem Schälmesser Schüppchen, schnitt den Bauch auf, holte Organe heraus und kratzte mit dem Daumen Blutrückstände aus der Niere vor der kleinen Wirbelsäule heraus, ließ dann Wasser aus dem Kran in den Bauch laufen — sie machte es genauso, wie Mutter es früher immer getan hatte, und schimpfte genauso wie Mutter darüber, dass die Angler die Fische nicht selbst am Fluss ausnehmen würden. Das Handy der jüngeren Schwester klingelte. Sie ging in den Flur, und wir hörten, wie sie mit ihrer Angestellten telefonierte, ihr sagte, was im Büro unbedingt zu erledigen sei, dass sie, so schnell es gehe, wieder ins Büro komme — erst am Abend könne sie hier weg.
Zehner rief, dass er bedient werden wolle. Ich ging hinter die Theke, zapfte ihm ein Bier, stellte das Glas auf seinen Deckel und machte einen Strich. Dabei packte er meine Hand, blickte mich verkniffen an, lachte schelmisch: «Wer nichts wird, wird Wirt … hähähä.» Während er trank, hüpfte sein spitzer Kehlkopf unter der faltigen Lederhaut. Er wischte sich den Bierschaum mit dem Handrücken vom Mund, schnaufte, verschob sein Gebiss, redete von der Brücke, kurzhalmigem Korn, einem Kartenspiel. Sein Hund war aufgewacht, streckte die Pfoten aus, reckte sich gähnend und trottete zur Tür. Dort blieb er mit der Schnauze an der Tür stehen und wimmerte. Ich ließ Zehner reden, ging durch die Gaststätte ans Fenster, mich interessierte, was die Arbeiter auf der Brücke machten. Sie überprüften gerade das Geländer. Einer lief zum Brückenkopf, schlug mit einem Fäustel gegen eine Geländerstrebe, und die Schläge pendelten immer leiser werdend zwischen den Berghängen, bis sie verhallten.
Schließlich waren die Schwestern gestern noch vor dem Mittagessen zu Mutter ins Stift gegangen. Sie wussten nicht, was sie sonst im Haus tun sollten. Sie vermuteten immer noch, dass Hermann draußen herumlaufe, und vielleicht rechneten sie damit, ihm zu begegnen. Ich war froh, mit Alma allein zu sein, und nun endlich offen mit ihr reden zu können. Aber es war viel zu tun, die Fische brutzelten in der Pfanne, sie deckte in der Gaststätte Tische ein, entschuldigte sich bei den Anglern, dass sie so lange warten mussten.
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