Der Aal ( Anguilla anguilla ) ist ein auf dem Grund lebender Wanderfisch. Wenn er ein Jahr alt ist, wird sein Maul spitzer, und die Augen werden größer, die Haut beginnt silbern zu schimmern, und sein Rücken wird schwarz. Nun kommt die Zeit, da er ins Meer schwimmen wird, um sich in den Tiefen des Pazifiks zu paaren. Dort unten legt er seine Eier ab und stirbt zufrieden. Die sich aus den Eiern entwickelnden Larven steigen langsam auf, driften mit dem Golfstrom zu den Küsten Europas zurück. Dort, wo die Heimatflüsse ihrer Eltern einmünden, werden sie von bekannten verführerischen Gerüchen angelockt. Sie schwimmen die Flüsse hinauf, nichts kann sie aufhalten, weder Wasserfälle noch Schleusentore oder Wehre, bis sie die Lieblingsplätze ihrer Eltern erreicht haben.
In der Strömung stehend hole ich Hermanns Plastikbox mit den Köderfliegen aus der Angeltasche, suche nach dem richtigen Köder. Hermann hat sie alle selbst gebunden. Grashüpferimitationen mit glänzenden Beinchen und Kopfbindungen für die Hechel, Waldameisen mit einem schwarzen Leib und roten Flügeln, eine schwere Goldkopfnymphe mit grünem Leib, mit viel Blei im Unterbau und einem Kopfkranz aus saugfähigem Fell, zum Fischen auf Große am Grund. Viele der Köder kenne ich nicht mehr, oder Hermann hat sie in den letzten Jahren erfunden. Ich werde es mit einer schönen Köcherfliege versuchen, die kenne ich noch gut. Die Larve der Köcherfliege baut ihr Gehäuse aus Sand- und Holzpartikeln auf dem Flussgrund. Ich habe Hermann oft dabei zugesehen, wie er diesen Köder gemacht hat. Man zieht zuerst vorsichtig die Larve der Köcherfliege aus ihrem Gehäuse, dann umwickelt man den Schenkel eines Einfachhakens mit einer Wollfadenwicklung, kratzt mit einer Nadel eine schmale Rinne in das Gehäuse, bestreicht den Wollfaden mit Kleber, schiebt das Gehäuse auf den Hakenschenkel, bindet hinter dem Hakenöhr einen Hechelkranz, stellt zu guter Letzt die Hechel hoch und zwirbelt sie.
Hermann hat seine Köder sogar in der Schule unter der Bank angefertigt, es interessierte ihn damals nicht, was die Lehrer ihm beibringen wollten. Er war der Meinung, dass man ihm nichts mehr beibringen könne, jedenfalls nichts, was er wissen müsse. Schon nach einigen Jahren verließ er wegen ungenügender Leistungen das Gymnasium und besuchte wieder die Hauptschule. Nachmittags musste er in der Wirtschaft aushelfen oder Sommerfrischler zu den Eishöhlen führen, in denen früher Mühlsteine geschlagen wurden. Er zeigte ihnen alte riesige Schwarzkiefern, die römischen Sandsteinbrüche, Villen und Brunnenstuben, erzählte ihnen von Kelten und Römern, die früher hier gesiedelt hatten, alles Geschichten, die er in Büchern gelesen oder von Vater und Zehner aufgeschnappt hatte. In der Hauptschule machten sich die Lehrer über den einstigen Musterschüler lustig. Hermann fing an zu stottern und machte in seinen Aufsätzen viele Rechtschreibfehler.
Nachdem Hermann die Hauptschule abgeschlossen hatte, bestand Vater darauf, dass er eine Lehre machte. Da es bei uns in der Gegend kaum Ausbildungsmöglichkeiten gab, wurde Hermann in ein Lehrlingsheim in der Stadt geschickt. Er wollte nicht von zu Hause weg, und ins Lehrlingsheim ging er nur, weil er Vater nicht wieder enttäuschen wollte. Die Lehrwerkstatt und das Wohnheim befanden sich weit außerhalb einer Stadt in einem Industriegebiet. Hermann blieb die Woche über dort. Er konstruierte und baute für Vater in der Lehrwerkstatt einen Bindestock, in den Vater die Haken für seine Köder einspannte. Vater präsentierte den Bindestock stolz vor Anglern in der Gaststätte.
Wenn Hermanns Kollegen abends in die Diskothek gingen, saß er allein in seinem Zimmer. Im Sommer hockte er nach Feierabend auf einer Bank bei einem Tennisplatz und kam erst spätabends ins Wohnheim zurück. Einmal nahmen ihn seine Kollegen, aus der Diskothek kommend, im Auto mit, äfften seinen Dialekt und seinen Sprachfehler nach und boten ihm Bier an. Bis dahin hatte Hermann keinen Tropfen Alkohol angerührt. Als er nicht trinken wollte, warfen sie ihn irgendwo vor der Stadt aus dem Auto.
Manchmal schreckte er nachts schreiend aus dem Schlaf, lag schweißnass im Bett. Die älteren Lehrlinge kehrten spät in der Nacht von ihren Sauftouren zurück, gingen lachend über die Flure, schlugen mit den Fäusten gegen seine Tür. Im zweiten Lehrjahr schwänzte Hermann immer häufiger den Unterricht, führte seine Berichtshefte nachlässig, rief kaum noch zu Hause an. Wenn er sich einmal meldete, versicherte er, dass alles okay sei und er nur viel lernen müsse, aber in Wirklichkeit lernte er gar nicht mehr. Er trieb sich in der Stadt herum, übernachtete in Parks oder Hauseingängen, wie er mir später auf seinen Kassetten berichtete. Als er dann wochenlang nicht nach Hause kam und auch nicht mehr anrief, erkundigte Vater sich im Lehrlingsheim und erfuhr, dass Hermann gar nicht mehr dort sei — man hatte angenommen, er sei zu uns nach Hause gefahren; einige Wochen blieb er spurlos verschwunden.
Eines Mittags, als ich aus der Schule kam, saß er in der Küche, einen leeren Teller vor sich und noch Essensreste an der Wange. Sein Gesicht war voller Eiterpickel, die nicht mehr weggingen, sich auf Wangen, Stirn und Hals entzündet hatten und kleine Narben hinterließen. Er hatte draußen übernachtet, zuletzt war er in Hamburg gewesen, hatte erfolglos versucht, auf einem Schiff anzuheuern. Vater schlug vor, er könne auch in der Gastwirtschaft mithelfen — da gerade Hauptsaison war, gab es genügend zu tun.
Hermann war damals achtzehn Jahre alt. Er stand jetzt abends hinter der Theke und bediente die Gäste, holte morgens die Frühstücksbrötchen bei Simons in der Bäckerei, richtete tagsüber, wenn keine Gäste im Haus waren, schleifende Türen, leimte wacklige Stühle, zimmerte Flaschenregale, sorgte für die Getränkebestellungen, schreinerte einen Wäscheschrank und reparierte die Tischspringbrunnen, die in den Gästezimmern standen und seit Jahren nicht mehr funktioniert hatten. Unter der Saalbühne richtete er sich eine kleine Werkstatt ein, in der er auch an einem Motorroller bastelte, auf dem er an seinen freien Tagen mit Alma durch die Eifel fuhr. Alma saß auf dem Sozius, legte ihre Arme um ihn und ihren Kopf an seinen Rücken.

Die Elritze (Phoxinus phoxinus) ist ein kleiner Fisch, der zum Köder für die großen Fische taugt. Sie hat einen dünnen, daumenlangen, drehrunden Körper, mit grau- bis braungrüner Färbung und Querbinden, die golden schimmern. Sie schwimmt in flinken, aufgeregt schwebenden Schwärmen dicht unter der Wasseroberfläche unruhig und erwartungsvoll, formt seltsame schöne Gestalten, die nur den einen Grund haben, ihre Feinde zu irritieren.
Etwa zwanzig Meter weiter abwärts macht der Fluss einen Bogen. Dort stehen am gegenüberliegenden Ufer große Forellen, die von der Wiese ins Wasser gefallene Heuschrecken und nicht selten auch Mäuse schnappen. Hermann saß oft an dieser Stelle, weil man die Fische vom Uferhang im klaren halbtiefen Wasser sehen konnte, ihre Form und die Größe ihrer Ringe beim Steigen. Alte, erfahrene Fische steigen vorsichtig, verursachen nur kleine Ringe, nehmen die Beute und touchieren beim Abtauchen mit dem Rücken die Oberfläche, oder sie drehen sich kurz auf die Seite, peitschen mit dem Schwanz ein-, zweimal und verschwinden wieder in der Tiefe.
Je älter ein Fisch wird, desto perfekter vermag er sich seiner Umgebung anzupassen, er wird immer vorsichtiger. Man muss sehr viel Geduld haben, um einen solchen Fisch zu fangen. Meine Freunde und ich hatten diese Geduld nicht, wir zogen es vor, mit Karbid zu fischen, eine grausame, aber effektive Methode, bei der man etwas Sprengstoff in eine Flasche gibt, einige Tropfen Wasser einfüllt, dann die Flasche verschließt und sie schnell in den Fluss wirft, sodass sie oberhalb der Stelle landet, wo die Fische stehen. Die Flasche taucht ein und treibt langsam den Fluss hinunter, während das entstehende Karbidgas sich im Flascheninneren ausdehnt, bis die Flasche, wenn man alles richtig gemacht hat, genau über den Fischen explodiert. Die Druckwelle zerreißt ihnen die Schwimmblase. Wir hatten einmal auf diese Art einen ganzen Schwarm gefangen, die toten Fische trieben auf der Wasseroberfläche, und wir mussten sie nur noch einsammeln. Als Hermann uns dabei erwischte, sagte er, dass wir das unterlassen sollten, und versuchte, mir den Sprengstoff abzunehmen. Ich wollte mir das nicht gefallen lassen, auch weil Alma bei ihm war. Ich wollte ihr imponieren, ihr zeigen, wer der Stärkere von uns war. Wütend stürzte ich mich auf meinen Bruder, schlug mit beiden Fäusten auf ihn ein. Ich glaubte ernsthaft, dass Alma mich mehr schätzen würde, wenn ich ihr zeigte, dass ich stärker als Hermann war. In dieser Zeit stromerte ich viel herum, legte mich mit jedem an, prügelte mich schon wegen Kleinigkeiten, während Hermann sich immer mehr zurückzog. Seit er seine Lehre abgebrochen hatte, nahm ihn niemand mehr ernst, außer Vater und Alma. Als Hermanns Nase blutete, sah er mich völlig perplex an, so als könnte er das nicht glauben, als würde er mich nicht wiedererkennen — doch ich war völlig außer mir. Hermann wehrte sich nicht, was mich nur wütender machte. Meine Kameraden johlten, feuerten mich an, für sie war es ein Spaß zu sehen, wie ich mit meinem älteren Bruder umsprang, wahrscheinlich hätten sie das auch gerne mal mit ihren Brüdern gemacht, von denen sie immer nur herumgestoßen und verdroschen wurden. Ich glaube, sie rechneten damit, dass Hermann sich jeden Moment wehren, ich endlich Prügel beziehen würde. Als Alma uns trennte, fiel ihre Brille zu Boden. Hermann versuchte sie aufzuheben, ich traf wieder seine Nase, sie brach, schwoll an und blutete. Hermann wehrte sich nun, ich bekam einen Schlag ins Gesicht, aber ich spürte keinen Schmerz. Wenn ich mich prügelte, rannte ich wie durch einen Tunnel und kannte nur ein Ziel. Wir wälzten uns am Ufer, um uns herum Fische mit geplatzten Schwimmblasen. Alma versuchte, uns zu trennen, mich von Hermann herunterzuziehen. Ich kniete auf ihm und hielt ihm einen Flaschenhals an die Kehle, ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn Alma nicht dazwischengegangen wäre. Sie stieß mich weg und bettete Hermanns Kopf auf ihren Schoß. Sie weinte und sagte mir, dass ich verschwinden und ihr nie mehr unter die Augen treten solle.
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