Ich versuche mein Glück mit einer 012er Vorfachspitze, an die ich eine künstliche Hoflandsfliege knüpfe. Die Hoflandsfliege ist bei direkter Sonneneinstrahlung geeignet, da sie selbst auf irisierenden Wasseroberflächen gut zu erkennen ist. Hermann hat sie mit roter Seide gebunden, die Flügel sind aus den hellbraun gesprenkelten Schwungfederspitzen einer Fasanenhenne gefertigt. Ich ziehe die Vorfachschnur durch einen gefalteten Grashalm, um das Fett zu entfernen und damit das Vorfach im Oberflächenfilm einsinken kann. Dann wate ich vom Ufer bis zu einer Biegung. Ich stehe im Fluss oberhalb des Bahnhofs. Ich schiebe die Rute beim Vorschwung nach vorn, wenn sich die Leine vorne gestreckt hat, ziehe ich die Rute nach hinten, für einen Moment, nachdem ich die Rute kurz gestoppt habe, liegt die Schnur hinter mir gestreckt in der Luft, und dann werfe ich meinen Köder aus.
Jungen überqueren die Gleise, sehen einen Moment zu mir hin und klettern dann auf der anderen Seite des Bahndamms die Böschung hinauf, um von dort über den Parkplatz zum Supermarkt zu gelangen. Einige von ihnen sind Schüler, die gestern zum Kickerspielen in der Gaststätte waren, ich hatte sie bedient, mit ihnen geredet. Bestimmt wissen die Jungen auch, was mit Hermann geschehen ist, bestimmt war es gestern Thema beim Abendessen in ihrem Elternhaus. So etwas geht wie ein Lauffeuer durch den Ort. ‹Ach, der Hermann …, ja kein Wunder, dass es einmal so kommen musste›, werden die Leute sagen, sie werden auch wieder über die Holländerin reden, die man im Frühjahr am Rauschen gefunden hatte. Vielleicht hat er ja doch was damit zu tun gehabt, wenn er solch verrückte Sachen macht, werden sie vermuten.
Seit Hermann vor einem Jahr bei der Arbeit im Staubsilo verunglückt und dort beinahe umgekommen war, ist er immer absonderlicher geworden. Vielleicht ist das zu viel für ihn gewesen, er war ja immer schon etwas seltsam und verschroben, sie werden denken: ‹Von seinen Geschwistern hat sich ja keiner um ihn gekümmert.›
Ich stehe im Fluss, erinnere mich, wie Alma zum ersten Mal zu uns in die Gaststätte kam und Mutter nach Arbeit fragte. Vorher hatte sie im Supermarkt gearbeitet, der damals noch gar kein richtiger Supermarkt war, sondern nur ein großer Lebensmittelladen in der Lagerhalle der einstigen Molkerei.
«Den ganzen Tag an der Kasse sitzen gefällt mir nicht», sagte sie zu Mutter. Damals trug sie eine Brille, schielte und fantasierte von ihren französischen Vorfahren, Hugenotten, die im 17. Jahrhundert in den Osten vertrieben worden waren. Sie spielte immer Französin, tauchte ihre Brötchenhälften in den Milchkaffee, den sie ‹café au lait› nannte, und führte die Tasse mit dem abgespreizten kleinen Finger zum Mund. Sie war, als sie bei uns anfing, sechzehn Jahre alt, drei Jahre älter als Hermann und ziemlich altklug.
Ich frage mich, wieso sie so viel mit uns zusammen war, die anderen Mädchen in ihrem Alter hatten schon erwachsene Freunde. Ihre Familie wohnte noch nicht lange in unserer Gegend, sie waren aus dem Osten gekommen, Aussiedler, Flüchtlinge, mit denen man damals bei uns nichts zu tun haben wollte. Ihr Vater arbeitete als Melker auf einem Siedlungshof, später wie fast alle hier in der Gegend im Zementwerk. Sonntags nach der Messe kam er in die Gaststätte. War er betrunken, redete er von ihrer Vertreibung aus Ostpreußen, vom eigenen Gutshof, davon, wie die Russen seine Frau in der Scheune vergewaltigt hatten. Er weinte, an der Theke sitzend, sagte, dass die Russen ihn umgebracht hätten, wenn er aus seinem Versteck gekommen wäre. Er war fleißig und sparsam, hatte bald ein Haus gebaut, in dem Almas Bruder jetzt mit seiner Familie wohnt.
Wann immer ich damals Alma in unserem Haus begegnete, sah sie mich verführerisch an. Ich half ihr beim Bettenmachen, sah ihr heimlich zu, wenn sie sich in ihrem Zimmer auszog.
«Ich weiß, was du willst, Leo, wenn du’s aus der Nähe sehen willst, musst du nur zu mir kommen, dann zeig ich dir alles», hauchte sie leise mit französischem Akzent, obwohl sie gar kein Französisch konnte. Bald saß ich auf ihrem Bett, sah ihre Brüste, ihre weißen, dünnen Beine, ihre enge Muschel. Sie zog mir die Hose aus, das Hemd und die Strümpfe und legte sich zu mir. Ich kroch in sie hinein, ganz hinein, bis ich dachte, nicht mehr auf dieser Welt zu sein. Manchmal ging ich nur mit Hermann zum Fischen, um ihn dann mit einer Ausrede zu verlassen und mich heimlich mit Alma zu treffen.
Ich gehe ins tiefere Wasser, bis ich zum Bauch in der Strömung stehe und der Fisch meinen Schatten nicht mehr sehen kann. Durch die Sonneneinstrahlung glitzert das Wasser irisierend, alle Wahrnehmungen scheinen sich in diesem Licht aufzulösen. Ich habe Hermanns Polarisationsbrille aufgesetzt. Der Fisch wartet so lange, bis der Köder in seiner Höhe ist, beäugt ihn gründlich, nimmt ihn entweder direkt, oder er steigt leicht an und schert aus. Nach einigen erfolglosen Würfen gehe ich ein Stück flussaufwärts, um mich dem Fisch von hinten zu nähern, den toten Winkel zu nutzen. Da Fische stets mit dem Kopf zur Strömung stehen, kann ich mich nah an sie heranpirschen. Nun stehe ich in der Mitte des Flusses und befische das gegenüberliegende Ufer. Um den Zielpunkt mit der Fliege zu erreichen, muss ich den Fisch zwangsläufig mit dem Vorfach überwerfen — wenn ich Pech habe, gerät die Fliegenschnur in seinen Sichtbereich und erregt seinen Argwohn. Auch andere, in der Nähe stehende Fische können vergrämt und von einem Biss abgehalten werden. Ich weiß nicht genau, wo die Forelle sich aufhält, sie springt nicht und ist so früh nicht zu sehen.
Ich denke an viele Dinge, die Vater uns beizubringen versuchte, die ich längst glaubte vergessen zu haben. Aber wir vergessen nicht wirklich. Vater erklärte uns, wir müssten das Wasser und die Strömungen im Detail kennen, dürften nie übereilt reagieren. «Ihr müsst abwarten, euch mit den Bewegungen der Fische vertraut machen, umso genauer könnt ihr den richtigen Köder zum richtigen Zeitpunkt und am richtigen Ort präsentieren.» Ich erinnere mich, wie er nur Hermann dabei ansah und mich gar nicht beachtete. Während des Tages ziehen Forellen tiefe Stellen vor, sie patrouillieren auf bestimmten Routen, sind auf Futter angewiesen, rastlos unterwegs und suchen diejenige Strömung, die Beute auf sie zutreibt. «Wenn ihr sie fangen wollt, müsst ihr eure Ungeduld zügeln, das ist wie in der Liebe», sagte Vater einmal, «ihr müsst zu gleichen Teilen geben und nehmen.»

Die Hoflandsfliege imitiert fast alle braunen Fliegenarten, Kiefernspinner, Fleischfliegen, Schwebwespen und Florfliegen, die sich zum Überwintern braun färben. Sie hat einen aus dunkler, rotbrauner Seide gebundenen filigranen Körper, ihre Hecheln bestehen aus Fasanenfedern oder aus den Kragenfedern eines Hahns.
Der Zehnuhrzug war gestern mit Verspätung aus Trier gekommen. Reese sagte, dass die Züge immer unpünktlicher geworden seien, früher habe man nach ihnen die Uhr stellen können. Als der Zug aus dem Tunnel kam und an der Gaststätte vorbeifuhr, zitterten die dünnen Sektgläser in der Glasvitrine hinter der Theke, Reese stellte fest, dass sich der Zug genau um zehn Minuten verspätet habe. Früher hatte Mutter, wenn Alma morgens die Gaststätte putzte, immer zu ihr gesagt, sie solle die Gläser einen Fingerbreit auseinanderstellen und Papierservietten unterlegen. Alma war sehr gelehrig gewesen, hatte alles genau so gemacht, wie Mutter es wollte.
Alma ging in die Gaststätte, um zu bedienen. Wir hörten in der Küche, wie Zehner an der Theke wieder vom Rauschen sprach, davon, wie der Rauschen, als er noch ein Kind gewesen war, angelegt worden war. Mit der Absicht, den Mühlbach an den Fluss anzubinden, um den Rauschen mauern zu können, leitete man den Fluss in die Stollen der lange stillgelegten Erzbergwerke. Vater hatte in seinem Wahn zuletzt vermutet, dass der alte Fisch in einem der gefluteten Schächte, in riesigen unterirdischen Seen, die Jahrtausende überdauert habe. Der umgeleitete Flusslauf habe es dem großen Fisch dann endlich ermöglicht, aus diesem See heraus nach draußen zu gelangen. Damals war das Wasser für mehrere Tage im Labyrinth der Stollen und Schächte verschwunden gewesen. Zehner redete davon, wie sie als Kinder durch das fast leere, schlammige Flussbett gelaufen waren, dort gespielt und erstickende Fische eingesammelt hatten. Seltsame Fische waren darunter gewesen, solche, wie man sie noch nie zuvor im Fluss gesehen hatte; er erzählte auch von einem Auto, das aus einem tiefen Kolk aufgetaucht war. Sie sprangen auf dem Dach herum, versuchten, ins Wageninnere zu gelangen, in dem ein toter Soldat saß. Während die Kinder im schlammigen Flussbett spielten, arbeitete man mit Hochdruck am Bau des Rauschen, mauerte in nur vier Tagen den Damm hoch. Die Arbeiten waren gerade abgeschlossen, als der Fluss oberhalb des Ortes mit einer riesigen, das Tal überragenden Fontäne aus einem Stollen geschossen kam. Schaufeln, Hacken, Grubenlampen, Pferdeskelette, Loren, Stützbalken, Geröll- und Schlamm massen schleuderten heraus. Nachdem der Fluss wieder sein Bett gefunden hatte, schlängelte er sich wie früher durch unseren Ort.
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