Wie viel Wasser mag in dieser Zeit den Fluss hinuntergeflossen sein, vielleicht genug, um ein Meer zu füllen, wie viele Dinge sind in dieser Zeit geschehen, bestimmt genug für ein ganzes Universum von Geschichten.
Ich spüre einen Ruck an der Schnur, muss mich jetzt ganz auf den Fisch konzentrieren, darf an nichts anderes denken, deswegen stehe ich ja schließlich hier. Ich atme einmal tief durch, hebe die Rute an, bis die Schnur zwischen Rutenspitze und Fisch straff ist, halte sie so, dass sie deutlich Spannung hat. Dabei dringt der Haken hoffentlich tief in die harte Maulpartie des Fisches ein. Es ist eine schwere Forelle, sie beißt nicht auf die Fliege, sondern sie saugt den angebotenen Nahrungsbrocken samt einem kräftigen Schluck Wasser ein. Das Wasser strömt durch ihre Kiemen wieder aus, die Fliege bleibt in der Mundhöhle zurück. Aber diesmal ist es mein Haken, der in ihrem Kiefer steckt. Die Forelle erschrickt, reagiert mit Flucht, ich lasse sie ruhig einige Meter ziehen, bis sie an einer ihr Schutz bietenden Stelle steht. Dann nehme ich vorsichtig Kontakt auf, indem ich die Schnur wieder verkürze, gehe gleichzeitig einige Meter auf den Fisch zu, um die Distanz zu verringern. Mit der Hand an der Schnur kann ich besser auf seine Befreiungsversuche reagieren. Als ich Kontakt mit ihm habe, versucht er sich erneut in Sicherheit zu bringen. Ich lasse ihn gewähren, versuche, ihn aus dem tiefen Wasser zu bringen, um ihn in einem hindernisfreien Bereich müde zu drillen. Wenn ich ihn dort habe, werden seine Kräfte schnell erlahmen, er wird sich in einem weitgehend wirkungslosen Oberflächengefecht verausgaben, wobei seine vordere Kopfpartie manchmal aus dem Wasser gerät, was seine Atmung erschwert, wenn nicht gar unterbricht. Aber er scheint zu wissen, was ich vorhabe, wehrt sich, denn das ins Wasser getauchte Vorfach kommt plötzlich nach oben, was heißt, dass er jetzt springen oder sich an der Oberfläche wälzen wird, wodurch das Vorfach reißen und er mir entwischen könnte. Ich senke die Rutenspitze daher bis zur Wasseroberfläche, damit der nach oben gerichtete Schnurzug entfällt und er abtauchen kann. Und genau das macht er auch, er taucht und taucht, das Wasser ist an dieser Stelle bestimmt zwei bis drei Meter tief. Er findet Schutz hinter einem Fels, in einer kleinen Höhle unter dem Fels. Mein Gott, er wird mir entwischen, er ist mir überlegen — jeder große und erfahrene Fisch scheint mir überlegen zu sein. Ich werde es nie lernen, stehe letztendlich mit gerissenem Vorfach wie ein Trottel da, meine Hände zittern noch, während ich die Schnur einhole und wütend mit meiner Rute aufs Wasser schlage. «Mist, es ist immer noch wie früher, nichts hat sich geändert, aus mir wird nie ein guter Angler.» Jeder Fisch, der mir entwischt, schwimmt mit einem Stückchen von meinem Mut davon. Ich fühle mich völlig leer, denke daran aufzugeben, mich in den nächsten Zug zu setzen und nach Hause zu fahren, aber wo ist mein Zuhause?

Fliegende Fische (Exocoetidae) schwimmen dicht unter der Wasseroberfläche. Dann schießen sie aus dem Wasser und gleiten mit ihren Flügelflossen durch die Luft, landen ganz kurz im Wasser und schnellen dann wieder hoch. Fliegende Fische werden von großen Raubfischen und von Seevögeln gejagt. Sie legen ihre Eier an Wasserpflanzen ab. Die Jungfische haben zuerst noch kurze Brustflossen.
Als Hermann von der Seefahrerei nach Hause zurückkam, war Vater bereits gestorben. Er hatte nicht sterben wollen, am schlimmsten war, dass er sich so ans Leben klammerte und immer von diesem alten Fisch, Ichthys, sprach und ihm an allem die Schuld gab, er packte Mutters Hand, drückte sie fest und prophezeite unentwegt, dass wir alle von ihm gefressen würden: «Wer nicht liebt, wird gefressen.» Er hatte einen Hirntumor, bekam Morphium, fantasierte dann, dass der Fisch uns allen die Glieder abreißen würde. In den Monaten vor seinem Tod zog er sich oft in den Keller zurück, wo er in einem kleinen Verschlag apathisch in seinem Sessel saß. Er ging nicht mehr an den Fluss, es genügte ihm, im Keller sein Ohr an die nasse Bruchsteinmauer zu legen, an der das Wasser vorbeiströmt.
Einige Monate nach Vaters Tod hatte Mutter ihren ersten Schlaganfall, danach wurde sie vergesslich, die Gaststätte war bald heruntergewirtschaftet. Alle Haushaltshilfen kündigten nach kurzer Zeit. Mutter kam mit niemandem zurecht, aber auch nicht mehr allein. Die Schwestern wohnten, ebenso wie Alma und ich, schon lange nicht mehr im Hause.
Eines Abends stand Hermann in der Gaststätte, er war jetzt Mitte dreißig, trug einen Vollbart, hatte einen großen Seesack auf der Schulter, in dem sich kleine, ausgestopfte Alligatoren, afrikanische Holzfiguren und eine Kette für Alma zwischen seinen Klamotten befanden. Mutter erkannte ihn zuerst nicht einmal, so sehr hatte er sich verändert. Damals waren wir alle heilfroh, als wir hörten, dass er wieder aufgetaucht sei, die Gaststätte übernehmen und sich um Mutter kümmern, den Betrieb wieder ordentlich führen wollte; es sollte so sein, wie es früher einmal gewesen war. Ich erinnere mich daran, in dieser Zeit einige Male mit ihm telefoniert zu haben. Er war enthusiastisch, hatte große Pläne und erkundigte sich nach Alma. Ich hatte lange nichts mehr von ihr gehört, wir wussten nichts von ihr, vielleicht war sie verheiratet oder lebte in Paris. Hermann renovierte von seiner gesparten Heuer die Gästezimmer, pachtete von der Gemeinde wieder den Fluss, kümmerte sich um den Besatz mit Fischen. Abends stand er auch noch hinter der Theke. Auf einer Kassette, die er mir in dieser Zeit geschickt hatte, ungefähr ein halbes Jahr nachdem er wieder zu Hause war, sagte er, dass Alma wieder da sei und sie heiraten wollten, wenn das Geschäft besser ginge — aber es lief nicht besser: Hermann musste wieder im Zementwerk arbeiten. Das Werk bezahlte auch Hilfsarbeiter gut, er verdiente dort mehr, als die Gaststätte einbrachte. Meist hatte er Nachtschicht. Wenn er morgens zurückkam, holte er für die paar Gäste die Frühstücksbrötchen bei Simons, half Alma beim Zubereiten des Frühstücks, danach ging er einige Stunden an den Fluss. Wenn er zurückkam, half er Alma wieder im Haus.
So vergingen fast zehn Jahre, ein großer, ruhiger Fluss voller Zeit. Hermann schickte mir weiterhin Kassetten. Die letzten Jahre lebten Alma und er nur mehr nebeneinander her, Hermann war wieder in ein Gästezimmer gezogen, Alma hatte andere Liebhaber, Salm, Siegmar, durchreisende Vertreter. Oft, wenn Hermann seine Kassetten besprach, saß er auf dem kleinen Balkon seines Zimmers über dem Fluss, ich hörte den Rauschen im Hintergrund. Ich glaube, er hatte niemanden, mit dem er reden konnte, der ihm zuhörte, vielleicht hat er deswegen diese Kassetten besprochen, so wie andere Leute Tagebuch schreiben oder malen. Mittlerweile hatte ich eine ganze Kiste davon. Auf einer Kassette spricht er von unserem mutmaßlichen leiblichen Vater, dem Perseus-Verkäufer, der in die Gaststätte gekommen war, an der Theke saß, die ganze Zeit nur vom Perseus redete, diesem seltsamen Wundergerät, das alles heilen könne.
Im Fluss stehend, warte ich auf Erinnerungen und einen großen Fisch, der anbeißt.
Als Mutter einige Jahre später ihren zweiten Schlaganfall erlitt, musste sie ins Stift — sie kam zu Hause nicht mehr zurecht. Ich erinnere mich, wie Hermann anrief und mich fragte, ob er sie dort unterbringen solle. Im Grunde war es mir völlig egal, ich wollte sowieso nichts damit zu tun haben. Hermann brauchte Geld für Mutters Pflege und die Unterbringung im Stift, ich schickte ihm etwas Geld. Auch als es mir beruflich schlecht ging und ich kaum genug für die Miete hatte, überwies ich ihm meinen Anteil, weil ich nichts damit zu tun, aber ein reines Gewissen haben wollte. So vergingen einige Jahre, in denen ich nichts von Hermann hörte. Hin und wieder schickte er mir Kassetten, die ich meist ungehört zur Seite legte. Nur wenn ich betrunken nach Hause kam, hörte ich sie, griff wahllos in die Kiste, steckte eine Kassette in einen Rekorder, warf mich aufs Bett und schlief ein. Manchmal wachte ich dann mitten in der Nacht auf, meinte, wie früher als Kind im Bett zu liegen, die Leute unten in der Gaststätte und den Rauschen zu hören.
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