«Hattet ihr Krach?», wollte die ältere Schwester schnippisch wissen. Alma schüttelte den Kopf, sie schien einen Moment zu überlegen, ob sie weiterreden sollte, dann sagte sie: «Die Gäste standen vor der Tür, trommelten dagegen und riefen, dass wir aufmachen sollten. Schließlich habe ich geöffnet, weil wir die Einnahmen doch brauchen. Später kam Hermann runter, betrank sich mit Schnaps, redete von diesem alten Fisch und las aus den Aufzeichnungen eures Vaters vor. Keiner hat ihn verstanden oder wusste, was er meinte. Sie lachten ihn aus. Dann beschimpfte Hermann die Gäste, wegen des Gebrülls sind immer mehr Leute reingekommen, die das alles nur für ein Spektakel hielten und sich über Hermann lustig machten. Die machten alle nur Witze über ihn. Danach ist er hochgegangen und fast nur noch im Zimmer geblieben. Er hat immerzu den Rauschen hören wollen, als gäbe es da eine Antwort drin. Wenn ich an der Tür lauschte, hörte ich ihn Selbstgespräche führen, mit Magda reden, aber die war gar nicht da … Vor einigen Wochen hat er sich Vorwürfe gemacht, dass er sie mit zum Eisfischen genommen hatte, ist am Fluss entlanggelaufen, hat nach ihr gerufen — auch nachdem man sie längst gefunden hatte, suchte er noch nach ihr. Ich habe ihm gesagt, dass sie selbst Schuld gehabt hat, dass er doch nichts dafür könne. Aber er machte sich Vorwürfe, redete davon, dass dieser alte Fisch sie verschluckt habe und dass er ihn fangen müsse, als würde die Holländerin davon wieder lebendig.»
Alma trank einen Schluck Kaffee und erzählte weiter: «Ich hätte viel früher den Arzt holen müssen — aber Hermann wollte ja nicht. Sein ganzes Zimmer war voller Köder, die er an der Tapete befestigt hat, mit Anmerkungen auf Zettelchen, Gläser mit Getier, ich kann euch sagen, das hat vielleicht gestunken. Er hat mich noch beschuldigt, ich wolle ihm seine Köder wegnehmen. Zuletzt lag er nur noch im Bett, wollte nichts mehr essen, starrte an die Zimmerdecke, wo die Spiegelungen des Flusses schimmerten, und redete immer noch mit Magda. Wenn überhaupt, dann kam er erst spätabends runter, schenkte Schnaps aus, niemand musste bezahlen, er redete immer wieder von dem alten Fisch und von Dingen, bei denen ich mich schämen musste. Wenn alle weg waren, brachte ich ihn wieder nach oben, wo er lange auf dem Bettrand hocken blieb. Seit vier Tagen hat er nun schon sein Zimmer abgeschlossen und verbarrikadiert, seit vier Tagen.»
Während Alma erzählte, stand ich wieder am Küchenfenster und sah zur Brücke und den Arbeitern hinüber. Einer schnallte sich gerade einen Sicherungsgurt und den Strick, dessen Ende zur Absicherung an der Kupplung des Pritschenwagens verknotet wurde, um den Bauch. Er kletterte über das Brückengeländer und wurde von den Kollegen zum mittleren Strömungspfeiler heruntergelassen. Einen Moment lang schwebte er mit ausgebreiteten Armen, wie an einer Angelschnur hängend, dicht überm Fluss. Als er auf dem vorstehenden Brückenpfeiler Halt gefunden hatte, ließen sie Seil nach, und der Arbeiter kroch vom Plafond aus unter die Brücke, wo die Gasrohre und Stromkabel verlaufen.
Als Kinder hatten wir von der Brücke geangelt, dort, wo das um den Pfeiler strömende Wasser zusammenfloss, bildete sich eine ruhige Stelle. Wir mussten, da die Verwirbelungen des Oberflächenwassers die Beute nach unten drückten, auf Grund angeln, das Vorfach mit Blei beschweren. Eigentlich war es verboten, von der Brücke aus zu fischen. Wenn jemand kam, rannten wir weg, Sartorius verfolgte uns mehrmals durch den ganzen Ort. Wir versteckten uns in Scheunen und Kellern, und Sartorius tat so, als würde er uns weiter jagen, in Wirklichkeit war es ihm nicht ernst damit, er hatte nur Räuber und Gendarm mit uns gespielt.
Der Arbeiter holte einen Schraubenzieher aus seiner Brusttasche, stocherte und kratzte damit am Eisenträger, fing mit der Hand etwas Rost auf, den er in ein Tütchen steckte. Dann kroch er wieder unter der Brücke hervor, stieß dabei mit seinem Helm gegen einen Träger. Der Helm fiel in den Fluss, trieb wie ein kleines Boot auf den Wellen und wurde von der Strömung auf die Hauswand der Gaststätte zugetrieben, strich an der Mauer entlang, sodass man ihn vom Küchenfenster aus mit einem Besenstiel hätte herausfischen können. Während der Helm wieder zur Flussmitte auf den Rauschen zutrieb, berichtete Alma, wie man die Holländerin gefunden hatte. Der Fluss war noch zugefroren. Kinder hatten eine Rutschbahn aufs Eis geschlagen. Sie nahmen Anlauf, schlitterten von der Brücke auf das Wehr zu, kamen jedes Mal einige Meter weiter, bis ihre Rutschbahn kurz vor dem Rauschen endete, der aber zugefroren und still war. Nur die Geschicktesten waren von der Brücke bis zum Rauschen geglitten. Einer stolperte und rutschte bäuchlings auf das Wehr zu. Mit ausgebreiteten Armen blieb der Junge liegen, wischte übers Eis, erkannte unter dem Eis eine dicke Hand, die etwas zu halten schien. Es waren, wie sich später herausstellen sollte, Neunaugen, die sich an der Hand der Frau angesaugt und festgebissen hatten. Der alte Zehner, Salm und Knuppeglas liefen mit Sartorius aufs Eis. Sartorius kratzte mit der Stiefelhacke ein großes Geviert in den Schnee, sperrte die Stelle ab, schlug ein Loch ins Eis und verbot jedem, näher an das Loch heranzukommen. Er selbst hockte vor dem Loch, als das Gesicht der Frau zwischen den Eisstücken sichtbar wurde.
Am Abend standen Scheinwerfer auf der Brücke, die zum Rauschen hinüberleuchteten, und die Frau wurde aus dem Eisloch gezogen. Die Fundstelle, ein Geviert von fünf mal fünf Metern, war nun mit einem rotweißen Plastikband abgesperrt. In den nächsten Tagen taute es, die Eisenstangen sanken auf den Grund, das Band trieb auf das Wehr hinaus und blieb schließlich irgendwo flussabwärts im Ufergestrüpp hängen. Der Rauschen war wieder zu hören.
Ich trinke, werfe die leere Flasche in den Fluss, ihr Hals taucht nach einiger Zeit wieder auf und treibt langsam ab. Ich weiß nicht, ob ich weiterfischen soll, ob es überhaupt Sinn hat. Ich denke an Hermann, frage mich, was er jetzt wohl gerade macht. Gestern Abend haben sie ihn abgeführt und eingesperrt, als wäre er ein Verbrecher, eine Gefahr für die Leute. Aber ich glaube nicht, dass er für irgendjemanden eine Gefahr ist, außer vielleicht für sich selbst. Alma sagte, dass Hermann an jenem Tag, an dem er mit der Holländerin zum Eisfischen gegangen war, spät in der Nacht verwirrt nach Hause gekommen war, Fieber bekommen hatte und vor Erschöpfung zusammengebrochen war. «Das Fieber war so hoch, ich habe die ganze Nacht an seiner Seite gewacht und Wadenwickel gemacht, ich habe mich nur um ihn gekümmert, nicht um sein wirres Gerede», verteidigte sie sich.
Ich gehe über einen matschigen Kuhpfad zum Ufer, werde es weiter versuchen, werde nicht aufgeben, wate flussaufwärts gegen eine leichte Strömung, der Fluss wird mit jedem Schritt tiefer und ist bald zu beiden Seiten von hohen Erlen beschattet. Ich erinnere mich an ein Floß, das wir hier im Gestrüpp versteckt hatten. Hermann lag oft stundenlang bäuchlings auf dem Floß, blickte mit seiner Taucherbrille ins Wasser, sagte einmal, er sei ein Teil vom Fluss, alles, was je geschehen sei und geschehen werde, fließe durch ihn hindurch.
Was Hermann getan hat, scheint mir nicht mehr so schrecklich, vielleicht musste es so kommen, wenn er doch keinen anderen Ausweg mehr wusste.
Gestern am späten Nachmittag waren nur wenige Gäste in der Wirtschaft, die Schwestern wollten endlich nach Hause, sagten, dass sie nicht mehr länger warten könnten, dass sie den ganzen Tag sinnlos vertan hätten, fragten, wann denn Sartorius endlich käme.
Der Sechsuhrzug fuhr in den Bahnhof ein. Reese blickte vom Stricken auf. In der letzten Klasse vorm Abitur war ich oft mit dem Sechsuhrzug nach Hause gekommen. Der Zug war immer voller Menschen, die von der Arbeit kamen, ich erinnere mich, dass ich damals auf keinen Fall so wie diese Spießer hatte werden wollen. Ich wollte immer etwas Besonderes sein und war doch genauso geworden. Ich hätte genauso gut hierbleiben können, dachte ich, als ich am Küchenfenster stand und sah, wie die Pendler zum Parkplatz oder zur Haltestelle liefen, in ihre Autos oder in den wartenden Linienbus stiegen, der sie zu den Höhendörfern brachte. Die Arbeiter auf der Brücke räumten ihre Werkzeuge zusammen, trugen Bohrmaschinen und anderes Gerät zum Pritschenwagen. Einige sicherten den Kollegen unter der Brücke am Strick und zogen ihn nun hinauf, plötzlich ließen sie ihn, aus einer Laune heraus, bis zum Wasser hinunter und amüsierten sich, wie er mit den Schuhspitzen das Wasser berührte, zappelte und schrie. Die letzten Märktler schickten sich an, unsere Gaststätte zu verlassen, eilten zum Bahnhof, um noch den Zug zu erreichen. Renate sagte, dass sie jetzt nicht mehr warten könne, dass sie nach Hause müsse, redete wieder von ihrer wichtigen Arbeit im Büro.
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