Gehen wir Kaffee trinken?
Sie gehen. Raphael schiebt Helenes Rollstuhl, hat schon von Matthes erfahren, dass der wieder angesagt ist. Er ist eben doch ein Betuttler, es tut ihm gut, unentbehrlich zu sein.
In der Cafeteria herrscht reger Besuchsbetrieb, es wird schwer, ein Plätzchen zu finden, sodass Raphael den Cappuccino und die Schokolade mit hinausnimmt, in den Garten. Gartenwetter? Eigentlich nicht, aber Helene hat eine Decke ins Rollstuhlnetz gepackt, und wenn man die um die Knie legt, mag es gehen.
Raphael hört nicht auf, von Lina zu schwärmen. Von Maljutka zu schwärmen, fiele Helene nicht ein.
Ein Schwarm …
Warum ist ihr dieses warme Wort zu Maljutka nie eingefallen?
Raphaels Augen, sonst Asyle unendlicher Müdigkeit, zeigen heute einen versunkenen Glanz, den man nicht sofort wahrnimmt, der sich aber offenbart, wenn sein Blick umschwenkt. Sein Blick schwenkt ziemlich oft um, es ist, als wollte er die Leute teilhaben lassen an seiner Glückserzählung. Tatsächlich spricht er immer ein wenig lauter, als es guttut, Helene merkt es und rückt ein Stück ab, damit die Erzählspitzen sie nicht in die Ohren stechen. Hier draußen im Garten ist die Wahrscheinlichkeit, irgendjemand könnte Anteil nehmen an Raphaels Freude, allerdings sehr gering, der Wind schluckt den Ton, und die wenigen Menschen, die sich an die verstreut stehenden Tische gesetzt haben, sind mit sich selbst ausreichend beschäftigt. Helene lässt ihn sprechen, er wird den Anflug eines schlechten Gewissens nicht bemerken, das sich ein-, zweimal zeigt, weil Helene auf und davon geht, fort vom Linaschwarm. Plötzlich nimmt sie ein neues, unbekanntes Ziehen im Kopf wahr, eigentlich sitzt es genau an der Stelle, an der sie den Titanclip verortet, sie muss an einen seltsam schmerzfreien Wadenkrampf denken, der sich nach oben verlagert hat, ins Hirn. Es heilt, denkt sie begütigend, es heilt … Womöglich spürt sie die Absorption des ausgetretenen Restblutes, stellt sie sich vor, oder der Clip wird nun merklich von Gewebe umsponnen, das sich seiner Kontur anpasst, jeden Winkel, jede Ritze füllt. Es ist, als nehme sie das Fitzchen Metall endlich als zu sich selbst gehörig wahr, als fühle sie seine Existenz. Der Verstand meldet sich, sagt, dass es wohl eher unmöglich sei, etwas wie Blutabsorption oder das Einwachsen von Fremdkörpern tatsächlich wahrzunehmen, aber sie wischt ihn beiseite und sieht zufrieden aus, als Raphael ihr in die Augen schaut.
Du bist zufrieden mit mir?
Aber ja doch. Aber wirklich. Aber ganz sicher. Aber hat er denn keine Bedenken, Tochter und Enkel hierzulassen, Eltern und Freunde? Nein, hat er nicht. In Schweden erinnere ihn manches an die untergegangene DDR, das dürfe man zwar nicht laut sagen, aber er sage es jetzt einfach mal doch. Vieles sei kostenlos, so eine gute Schulspeisung für Kinder oder der Eintritt in Museen und Tierparks, es gebe Lehrmittelfreiheit und gemeinsamen Schulbesuch aller Kinder, Berufsqualifikationen bei weitergezahltem Gehalt … Halt, halt, halt, Raphael. Die Schulspeisung in der DDR war weder gut noch kostenlos, erst, wenn man drei Kinder hatte, zahlte man nichts mehr, möchte Helene entgegnen, für Museum und Tierpark hat man gelöhnt, wenn es auch mit den heutigen Preisen nicht zu vergleichen war, und die Lehrmittelfreiheit galt allenfalls in Berlin. Zwar gingen die Kinder bis zur achten Klasse gemeinsam zur Schule, ehe sie sich aufspaltete in zehnklassige und zum Abitur führende Zweige, aber wer weitergehen durfte, entschied nicht immer die Leistung, sondern auch die soziale Herkunft eines Schülers. Berufsbegleitende Qualifikationen waren selbstverständlich gewesen, das schon, aber das führte zu keinem nennenswerten Karriereschub. Wer mehr Geld hatte, konnte davon unter Umständen nicht mehr kaufen, wenn er keinen kannte, der an der
Konsumgüter
quelle saß. Hast du das vergessen, Raphael? Aber sie sagt das alles nicht, es wäre zu anstrengend, und außerdem möchte sie mit Raphael sowieso nicht über das untergegangene Land diskutieren. Seltsam, dass der querköpfige, dissidente Freund, der zu alten Zeiten viel erdulden musste an Bespitzelung und Berufsverbot, im Nachhinein nicht immer deutlich zu sehen scheint, was ihm da gefehlt hat. Schweden ist also nicht nur das Linaland, es ist voll beladen mit Raphaels Sehnsüchten nach der eigenen Kindheit, nach Jugendzeiten.
Sie schweigen, Raphaels gerötete Wangen sehen hinreißend aus auf dem braunen Teint, und Helene dürfte sich jetzt fast wie Lina fühlen, so gut gefällt ihr das.

Die Tage sind schneller als sie, es ist einfach nicht zu schaffen, auch nur einen einzigen von ihnen einzuholen und mit dem Gefühl ins Bett zu fallen, ihn hinter sich gebracht zu haben. Immer sind sie gerade entwischt, wenn sie einschläft, und wenn sie aufwacht, muss sie zusehen hinterherzukommen. Es passiert so viel. Zu viel, denkt sie, ihr Gehirn läuft seiner alten Form hoffnungslos hinterher. Es dauert, bis sie jemanden versteht. Wahrscheinlich beläuft sich die Verständnisscheide auf wenige Sekunden, aber sie rechnet sie noch nicht ein, ist jedes Mal entsetzt über das gähnende Loch zwischen dem Moment des Aussprechens und dem Verstehen. Lieber gerät sie in Panik, als in solch ein Loch hineinzufallen, denkt sie, aber ehe die Panik einsetzen könnte, hat sie meist doch verstanden. Sie versucht sich seit Kurzem heimlich daran, Texte zu schreiben, erinnert sich der Anfrage, die sie nicht zu einem Auftrag hatte werden lassen. Texte auf Hauswänden, auf Trottoirs oder Bänken müssen kurz sein, dem Vorübergehenden auch durch einzelne Worte ins Auge fallen, und sie müssen mit
Stadt
zu tun haben, sollen sie doch irgendwie zu
städtischen Gebilden
werden. Merkwürdigerweise verlockt es sie nicht, den Laptop zu benutzen, sie nimmt die linke Hand, was zu einer gewissen Übereinstimmung des Schreibtempos mit dem Sprechtempo führt. Erster Versuch:
der abend schwebt, zitternder ballon,
über der stadt, in ihren höfen
ruhen die beutetiere, erinnern
den feind, schlaf,
verkleidet als penner,
im flaschenjargon verfilzt …
Woher sie das nahm, ist ihr unklar, sie hat einfach geschrieben, Wort für Wort ist ihr so und nicht anders in den Sinn gekommen, die große Anstrengung steckt ihr buchstäblich in den Knochen, die, jetzt merkt sie es, unbändig zittern. Kaum aber kommen die nächsten Worte, löst sich die Spannung, sie muss weiterschreiben:
über der stadt
die wolkigen lastkähne
beladen mit schwaden
nebels den wir verlassen
haben
Helene glaubt nun wieder die gespannte Sehne im Kopf zu spüren, den Clip, der die Platzstelle sichert, und ihr wird warm, sehr warm, als sie den kühlen Text findet:
die kalte seide deiner lust
wie sie übern beton schlurrt
(die einfachen dinge im schlepptau:
liebe und schnee)
ist blau wie der fisch
der aus meinem mund schlüpft
Das hat aber nun gar nichts mit Stadt und Hauswand zu tun, das ist eher ein — Liebesgedicht?
Irgendwie hat sie gar nicht gemerkt, dass jemand ins Zimmer getreten ist. Die Stationsärztin sieht ihr neugierig über die Schulter
.
Na, das geht doch ganz gut, Frau Wesendahl, nicht? Was schreiben wir denn?
Sie antwortet nicht.
Sie findet es unverfroren, so beobachtet zu werden.

Matthes bringt die Stoffturnschuhe, sie müssen den rechten in der Tat aufschneiden. Er holt Gummiband aus der Tasche und näht es ein, damit er ihr nicht von den Knöcheln rutscht. Seine Umsicht macht sie wieder einmal sprachlos. Wenn er sie im Rollstuhl an den See schiebt oder die Klinik umrundet, sagt er fast nichts, er spürt wohl, dass auch Helene nichts sagen möchte, wenn er hinter ihr läuft, sie hat kein Zutrauen zu ihrer Artikulation, wenn ihr Gegenüber ihr nicht auf den Mund schauen kann. Aber ohnehin fällt es schwer, mit Matthes
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