Am Tage darauf waren sie dennoch zu Pietros Geburtstag gefahren.

Seit gestern hat sie wieder das Lied im Ohr, in Thüringer Mundart, in dem von den
Sentimentalitten
die Rede ist. Ein spöttisches. Einem Professor wird ein melodisch gackerndes Huhn vorgeführt, und er stürzt sich drauf mit Eifer und Geifer. Bietet dem Besitzer Geld, einen Trabi — das Lied stammt wohl aus den
80
ern — und was des Bürgers Begehrlichkeit damals wohl noch so geweckt haben mochte. Der aber will davon nichts wissen und dem
Viech
,
keine Sentimentalitten!
, den Kopf abhacken, damit es am Sonntag
nei in sein Toppe
kommen kann. Früher hatte Matthes die Wendung im Scherz gebraucht, wenn ihm etwas nahe kam, was nicht in seine Nähe gehörte. Billy zum Beispiel. Oder die von einem berückenden Foto ausgehende Rührung, die er nicht sofort als
Kitsch
abtun wollte, sondern allenfalls, wenn ihm das jemand vorgemacht hatte. Überhaupt ließ er seine Haltungen gerne im Halbdunkel, erahnbar zwar, aber mehrdeutig auszulegen, sodass man ins Grübeln geriet. Sagte jemand laut und unüberhörbar, was er meinte, so schien jedes Mal ein Damm zu brechen in Matthes. Alsbald arbeitete er sich an der geäußerten Haltung gewaltig ab, als brauche er sie, um die eigene überhaupt überprüfen zu können. Manchmal demontierte er sein Gegenüber geradezu wegen der geäußerten Sätze, Helene wusste jedoch mit den Jahren, dass allzu große Abstoßung bedeutete, er gelänge früher oder später zu genau der gleichen Haltung wie der eben abqualifizierten. In Bezug auf sich selbst aber erwartete sie — nichts. Matthes hatte nicht mehr
mit
ihr gesprochen, hielt es vielleicht für überflüssig angesichts der Übereinstimmung, die sie seit vielen Jahren zelebriert hatten. Wenn man einander besetzt hält, wähnt man sich im anderen zu Hause und muss darüber, wo Tür und Fenster sind, über die Farbe des Teppichs und die Bettwäsche kein Wort mehr verlieren. Dass man aber glaubt, auch mit dem Blick des anderen aus dem Fenster zu schauen, mit seiner Hand die Tür zu öffnen, unter den Teppich zu kehren, was man — wie der andere — nicht vor Augen haben möchte (von Bettwäsche ganz zu schweigen), ist trügerisch: Anfangs wundert man sich vielleicht, dass der andere die Tür zuhält, die man selbst zu öffnen im Begriff steht, oder man sieht sich getäuscht, weil der andere auf etwas herumhackt, was man doch gerade erst unter den Teppich verbracht hat. Später dann lässt man um der Gewohnheiten willen davon ab, den anderen überhaupt zu bemerken, während er an der Leine turnt und verlernt, sich selbst als Zentrum seines Bewegungskreises zu sehen. Dessen Radius bestimmt sowieso der andere. In dieser geheuchelten Sicherheit hatten sie sich beide befunden, und es war Maljutka gewesen, die ihr den Garaus gemacht hatte mit ihrem für Helene gefährlichen, spröden Charme. Ihrer betörenden Unschärfe, die eine nicht weniger betörende Klarheit im Schlepptau hatte. Sie hatte sich nicht begierig in eine Beziehung gestürzt, war aber doch überrollt worden, auch von Maljutkas Beklommenheit, ihrem
Dilemma
, aus dem sie ihr aufhelfen wollte, so oder so. Ihr Helfersyndrom? Für Liebe kann es sicher nichts, denkt Helene, und geliebt hat sie Maljutka. Nicht als Ersatz für Matthes, aber neben ihm, unabhängig von ihm, bedingungslos. Matthes hat das merken müssen, auch wenn er es vielleicht nicht wusste. Hätte er es gewusst, hätte er klar reagieren können.
Keine Sentimentalitten
war zum Schrei der Not geworden in einer Situation, die bedrohlich gewesen war für Matthes. Bedrohlich unklar. Und das Beunruhigendste daran, meint Helene heute, sei gewesen, dass sie geglaubt hatte, sich entschieden zu haben.
Vorerst.

Der Rollstuhl ist wieder da. Die Schwester hat ihn heraufgebracht aus dem Magazin. Helene bekommt eine Stütze ums rechte Bein, die sie vor neuerlichem Umknicken schützen soll. Eine lederne Sohle, von der aus am Knöchel links und rechts Plastikschienen ausgehen; in Wadenhöhe enden sie dann in einem weißen Gurt, der ums Bein zu schnallen ist. Warum soll sie die tragen, wenn sie jetzt wieder im Rollstuhl sitzt?
Wenn Se ma puschen jehn
, sagt die Schwester und ist verschwunden.
Pissen, pinkeln, Wasser lassen, mal müssen. Manche sagen eben puschen dazu … Helene muss grinsen. Natürlich passt der Fuß in keinen Schuh. Vorerst auch ohne Gestell nicht, und später, wenn er wieder abgeschwollen sein sollte, würde sie einen alten Schuh zerschneiden müssen, um etwas an die Füße zu bekommen. Sie wird Matthes bitten, ihr die Stoffturnschuhe mitzubringen, die sie letztes Jahr gekauft hatte, um regelmäßig joggen zu gehen. (Matthes hatte damals gelacht, denn er wusste im Gegensatz zu ihr, dass heutzutage kein Mensch mit einfachen Stoffturnschuhen joggte. Schon gar nicht, wenn man etwas schwerer war als leicht, dann nämlich drückte das Gewicht so unvorteilhaft auf die dünne Sohle, dass Schmerzen die Folge waren.)
Da sie nie mehr joggen gehen würde, kommt es auf die Schuhe wirklich nicht an, denkt sie. Die Zufriedenheit mit dieser Feststellung bemerkt sie einen Moment nach deren Entstehung und wundert sich, dass der Schmerz ausbleibt. Sie hat sich schnell daran gewöhnt, dies und das nicht mehr tun zu können. So umstandslos, dass sie sogar schon daran denkt, wie mit nutzlos gewordenen Dingen zu verfahren ist.
Sie tut sich Genüge, anders kann sie es nicht nennen.
Matthes hat sie in den letzten Jahren wohl kaum Genüge getan.
Maljutka hat genügend getan, um Helene aus ihrem Gefüge zu reißen.
Hätte ich doch ihrem Leben Genüge getan, denkt Helene.
Wenn Maljutka zum Ende hin zufrieden gewesen war, so wollte sie es auch zufrieden sein, aber sie kann nur raten, wie Helene ihre letzten Wochen verbracht hat.
Sie ruhen lassen.
Schlafen.
Es klopft, und Raphael steht im Zimmer. Raphael, der gute alte Freund! Sie schaukeln einander ein Weilchen in den Armen. Schön ist das. Raphael sieht selbst im Herbst sommerbraun aus, obwohl er nie in ein Sonnenstudio geht. Er führt das auf arabische Vorfahren zurück, die es in seiner Familie mütterlicherseits vor vielen Generationen gegeben haben soll. Nichts Genaues weiß man nicht, aber die Saga hält sich. Seine Mutter hieß mit Mädchennamen Makaffreh, und ein Bezug zu den ungläubigen Kaffern war schnell hergestellt. Helene findet zwar, dass die Namensähnlichkeit mit den irischen McCaffreys eher auf der Hand liegt, war aber damit auf taube Ohren gestoßen … Raphael kämpft mit Tapferkeit gegen immer wiederkehrende Depressionen, und dass er es geschafft hat, von seinem für Berliner Verhältnisse abgelegenen Wohnort ohne Auto bis hierher zu zuckeln, nötigt Helene alle Achtung ab. Das sagt sie auch.
Raphael druckst.
Warum druckst du, Raphael?
Ich werde weggehen aus Deutschland, nach Schweden.
Raphael erzählt, bei seinem Sommerurlaub in Schweden Lina kennengelernt zu haben. Was dann kommt, erinnert Helene sehr an die Geschichte mit Maljutka, von der sie Raphael nichts erzählt hat. (Raphael ist mit Matthes ebenso befreundet wie mit ihr, Loyalitätskonflikten sollte er nicht ausgesetzt sein.) Lina sei Meeresbiologin und arbeite an der Universität Lund. Erst auf den dritten oder vierten Blick sei sie ihm aufgefallen, als er schon eine Woche lang im Häuschen neben ihrem mit seiner Enkelin Urlaub gemacht hatte. Dann aber sei mit einiger Gewalt das Undenkbare passiert: Er habe sich heillos verliebt, vier lange Monate sei das nun her, Briefe und Wochenendbesuche hätten einander abgelöst, und immer hätte er mit Helene teilen, ihr mitteilen wollen, was da im Busche war, aber Helene hätte sich ja unterdessen verabschiedet. Zum Glück sei sie nun wieder aufgetaucht, aber jetzt sei gar keine Zeit mehr, um Rat zu fragen, um Beistand zu bitten, denn er hätte sich einfach entschieden, nach Lund zu ziehen. Probehalber. Seine Wohnung wolle er noch behalten vorerst. Er sieht Helene irgendwie verschüchtert an, als könnte es ausgerechnet Helene nicht passen, dass er dem Glück eine Falle stellte. Der will das aber außerordentlich passen, damit hatte sie ja nun überhaupt nicht gerechnet! Raphael unter der Haube, in festen Händen! Jetzt fällt ihr ein, dass sie vermutlich nie mehr wird tanzen können. Jetzt hätte sie eben gern mit Raphael getanzt. Ein Walzertyp ist sie, Raphael bevorzugt Tango. Wahrscheinlich wären sie ohnehin nur schwer übereingekommen, aber schade ist es doch.
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