keinen Hunger haben
Sie glaubt zu wissen, dass er zur gleichen Zeit zu Hause unmäßig zulangen würde, er macht geschmäcklerische Lippenbewegungen und tut so, als reizte er im kleinsten Pröbchen seinen Appetit aus. Das ist für gewöhnlich der Zeitpunkt, zu dem sie es bereut, mit ihm überhaupt zum Essen gegangen zu sein. Er ist lang und dennoch ein Hänfling neben ihr. Unangenehm, sich der Beobachtung des Personals auszusetzen, das eine dicke Frau und einen dünnen Mann am Tisch sitzen sieht. Der dünne Mann nimmt kaum etwas zu sich, die dicke Frau haut rein. Dass es immer wieder genau so kommt, verstimmte sie sonst stets aufs Neue, dabei hätte sie doch nur den jeweils letzten Restaurantbesuch aktivieren müssen im Gedächtnis und hätte genau diese Abläufe kommen sehen! Heute aber nimmt es ihr nicht die Lust, sich den Bauch vollzuschlagen. Sie sieht ihn sein Sauer-Scharf-Süppchen schlürfen. Kein Gedanke an einen Vorwurf. Wieder so ein Gesinnungs- und Verhaltenswandel. Oder hat es damit zu tun, dass die Leine gekappt ist, an der sie einander in Schach hielten?
Sie isst länger als er, also hört sie ihm zu. Billy hat eine wichtige Klausur in Mathematik mit einer Zwei bestanden, Lissy einen Wasserschaden verursacht in ihrer Wohnung. Ist es schlimm, dass sie sich über die Zwei zwar freut, aber ebenso froh darüber ist, mit dem Wasserschaden hier draußen nichts zu tun haben zu können? Ein bisschen kommt sie ins Grübeln und hört nun nicht mehr zu, die Kapazität! denkt sie. Geht auf verschlungenen Wegen und sieht ihn tiefgründig an dabei. Hört seine Stimme wie aus der Ferne. Sie murmelt. Sie gurgelt.
Helene verschluckt sich.
Im Augenblick, da sie das Fleisch wieder hochwürgt, fällt es ihr ein:
Keine Sentimentalitten!
, hatte Matthes geschrien, außer sich, als sie sich, tatsächlich? getrennt hatten. Ein Film, hart geschnitten und von gellender Farbigkeit, wird da ausgestrahlt, während sie essen will. Schließlich bekommt sie keinen Bissen mehr herunter. Matthes zahlt. Matthes trottet, sie auf der Sitzfläche des Rollators vor sich herschiebend, mit ihr zum Optiker. Die Brille ist fertig, lange schon, der Film aber offenbar nicht zu Ende. Auch, als die ungewohnte
Sehhilfe
vor ihren Augen sitzt und sie eigentlich mit erneuertem Blick in die Welt schauen soll, sieht sie statt des Heidemühlener Kleinkarierten nur den Film. Matthes merkt, dass da etwas abläuft. Er unterlässt es zu fragen. Stattdessen befördert er sie zurück in die Klinik. Ihr Fuß hat inzwischen die Ausmaße eines Klumpens erreicht. Spätestens morgen würde seine Farbe sich zwischen rot und blau nicht mehr entscheiden können, und es würde ein Weile dauern, bis er sich grün, gelb und braun verfärben und schließlich wieder in Form und Farbe dem ähneln würde, was da heute Morgen in ihrem Schuh gesteckt hatte. Das stört sie nicht.
Sie sieht den Film.

Die neue Brille rückt die Dinge ein gutes Stück näher, sie werden wieder deutlich, sie wusste schon gar nichts mehr vom Sehen, denkt sie, als sie schließlich im Zimmer sitzt, Matthes im Rücken, im Abseits, im entlegenen Dunkel. Aus dem Fenster schaut sie in den Himmel, Wolken ziehen, und dass sie die feinen Abstufungen im Grau wieder sehen kann, die Verwirbelungen, das Strudeln im Wind, fasziniert sie. Lippen spürt sie plötzlich am Hals,
mach’s gut, meine Liebe
, ein Klappen der Tür. Sie hat nichts gesagt, sich nicht verabschiedet. Stattdessen geht sie seinen Worten nach. Hat er
groß
gesprochen oder
klein
? Ist sie seine
Liebe
oder seine
liebe
Helene? Macht das einen Unterschied? Wenn ja, welchen? Seine
Liebe
… Im Film vorhin sah sie ihn klein und zerknirscht, es war Anfang Juni, sie hatte Lottchen in den Kindergarten gebracht, er einen Behördentag genommen. In den letzten Wochen war ihr zwischen den Fingern verdorrt, was sie gewollt hatte. Deshalb hatte sie ihn um Urlaub gebeten, um ein, zwei Tage nur, die sie hinausfahren könnten ins Blaue, das rings um die Stadt in tiefem, frischem Grün auf sie wartete und das sie aufgeladen hatte mit Wünschen, Matthes möge mit ihr eine lichte Stelle im Wald suchen (sie vor allem auch finden!), auf der er sie wie früher auszöge und sie sich liebten, die Sonne würde den Schweiß auf ihrer Haut glitzern lassen, sie würde mit dem Finger hindurchgehen und seinen Namen schreiben. Matthes hatte zwar Urlaub genommen, aber ins grüne Blaue zog ihn nichts, er war aus seinem Zimmer in die Küche hinuntergekommen und hatte sich an den Tisch gesetzt. Seine Hände hatten gefaltet vor ihm auf dem Tisch gelegen, er war gespannt wie eine Geigensaite gewesen, bei der kleinsten Berührung, sie spürte es, hätte er Töne von sich gegeben, von denen sie im Voraus nicht hätte sagen können, ob sie ihm und ihr angenehm gewesen wären. Also berührte sie ihn nicht, wenn auch ihre Hände beständig gezuckt hatten, die rechte, die linke, sich auf seine Unterarme, das verknotete Handpaar zu legen. Also hatte sie von Beliebigem gesprochen (sie weiß es nicht mehr) und ihn beobachtet, wie das Beliebige ihn wütend zu machen begann und seine Augen ins Flackern brachte, dass das Handpaar schließlich ganz blutleer gepresst dagelegen hatte und die Zähne so fest miteinander verbunden schienen. Also hatte sie überlegt, ob sie überhaupt wieder voneinander zu lösen sein würden. Also so, in etwa. Aber ihr Sinn hatte gleichzeitig sehr wach danebengestanden und sie beide beobachtet, ohne dass er dem Beliebigen aus ihrem Mund hätte ins Wort fallen können, und er hatte natürlich wahrgenommen, wie schwer es ihr gefallen war, ohne ein Berühren auskommen zu müssen, wie schwer es ihm gefallen war, sich dem Beliebigen aus ihrem Mund auszusetzen. Ihm war womöglich danach gewesen,
Butter bei die Fisch
zu machen und ihr einfach gleich hier in der Küche die Klamotten abzureißen und sie einfixdrei zu ficken, dass ihnen schwarz würde vor Augen und sie dem Grün im Blau nicht länger ausgesetzt hätten sein müssen. (Ja, so denkt Helene jetzt.) Aber ihre Haut war alt geworden und schämte sich, so schlaff (trotz des Specks) von den Bauchseiten herabzuhängen, so faltig verkniffen von Brust bis Scham über Kinder zu reden, die heute hinreißend waren wie früher sie selbst. Sein Rücken, gekrümmt vom Alter, konnte sich einfach nicht vorstellen, sie würde ihn schön finden wie früher und ihn kneten, während der Schwanz in ihr Wache schob, aufmerksam, lauschend. Und so hatten sie beide, da sie mehr in sich selbst hockten, einfach aneinander vorbei die Minuten verbracht, auf ihre jeweiligen Ziele gestarrt und gar nicht gemerkt, dass sie ein und denselben Punkt fixiert hatten: ihr Einssein zu zweit, ohne Leine und Besetzung des anderen. Was gerade geschah, hätten sie wahrscheinlich beide nicht sagen können, aber dass es etwas war, was ihr Leben entscheiden sollte, hatten sie schon gefühlt. Das Jahr, in die Minute des Schiedsspruchs geschrumpft, hatte zusammengekrümmt zwischen ihnen auf dem Tisch gelegen, bis Matthes es hochgehoben und fallen gelassen hatte mit einem großen
Ach
, während sie es aufgefangen und versucht hatte, ihm wieder Luft zu geben, dass es atmen konnte.
Keine Sentimentalitten!
hatte er unvermittelt geschrien, als er schon wieder auf der Treppe nach oben gestanden und sich noch einmal umgedreht hatte, und das war für sie das
Aus
gewesen nach dem
Ach
, das Jahr wurde nicht wieder, und wenn sie es in den wenigen Wochen, die ihr bis zum Platzen des Aneurysmas noch bleiben sollten, angesehen hatte, so war sie traurig geworden, denn es hatte wie tot am Haken des jeweiligen Tages gehangen, und die Tage starben, indem sie eingingen ins tote Jahr, das natürlich nicht lebendiger wurde dadurch.
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