Im Einschlafen ruft ein Muezzin.
Jedenfalls glaubt sie das.

Hat sie Matthes überhaupt gebeten, sich einen Tag Ruhe zu genehmigen zwischen den aufreibenden Besuchen bei ihr? Sie weiß, dass sie es wollte. Ob aber Zeit dafür war, weiß sie nicht. Matthes kommt nach wie vor täglich. Gestern hat er berichtet, am Wochenende an Violas Grab gewesen zu sein und eine Staude gepflanzt zu haben. Wenn der Schmerz nicht schlurfend den Vorhang geschlossen hätte, wäre sie wütend geworden, hätte es als ihr Vorrecht einklagen wollen, Blumen ins Grab einzubringen. Sich über so etwas aufzuregen … Aber nimmt er ihr wirklich alles ab? Muss er tatsächlich zum Grab der ihm fremden Frau fahren, um so zu tun, als hätte er in irgendeiner Beziehung zu ihr gestanden? Er hat sie doch kaum gekannt, wenn man vom einmaligen Besuch in der Arberstraße absieht. Oder? Unsicherheit. Etwas zieht an ihr. Zieht sie tiefer ins Bett, als ihr lieb ist. (Dabei ist es Zeit, aufzustehen. Mittagsruhe vorbei.) Das Herzchen wählt die schnellere Gangart, sie merkt sofort, wenn die vom Schrittmacher eingestellten sechzig Schläge pro Minute sozusagen freiwillig überschritten werden. Eigentlich schön, dass das gelegentlich vorkommt, ohne dass sie sich anstrengt. Ohne körperlichen Einsatz. Sie lebt noch in ihrem Körper, eines hängt mit dem anderen zusammen, trotz der sich mehrenden Metallteile in Kopf und Brust. Ohne die wäre sie vermutlich
hinüber
… Nicht so
sanft entschlafen
wie Viola, sondern entweder nicht mehr aufgewacht während einer der Synkopen, die vor der Implantation des Schrittmachers regelmäßig dafür gesorgt hatten, dass sie zu Boden gegangen war, oder eben am blutenden Hirn verröchelt. Dem Schicksal kann sie schlecht danken dafür, denn das hatte ja eigentlich für ihr frühzeitiges Krepieren plädiert. Oder aber sie erweitert den Schicksalsbegriff um die zeitliche Dimension: Hätte sie vor hundert Jahren gelebt, wäre sie nicht vierundvierzig Jahre alt geworden. Da das Schicksal es gewollt hat, dass sie erst im Zeitalter der medizinischen Hochtechnologie lebt, hat es sich nun gewissermaßen selbst ausgehebelt, indem es zuließ, dass man ihm etwas entgegensetzte.
Anstrengende Gedanken.
Sie erhebt sich, nimmt den Rollator, läuft ins Bad. Das geht wieder viel besser, in der einen Woche seit den epileptischen Anfällen hat es sich wieder
zum Guten gewendet
, das Schicksal. Sie ist überzeugt, es nicht hintergangen, sondern ihm auf die Beine geholfen zu haben mit dem Ausschleichen des Antiepileptikums. Obwohl das Denken nach wie vor anstrengend ist, vollzieht es sich nicht mehr im Gallert, im Pappigen, und manchmal kann sie sogar
ins Offene
sehen. Meist ist sie dazu in der Natur, der Wind fährt ihr um Schultern und Beine und gibt ihr das Gefühl, sie mitnehmen zu können, wenn sie es möchte. Lässt die Entscheidung bei ihr. Sie hält sich dann am Rollator fest, als würde ein Loslassen das Wegfliegen bedeuten. In diesen Augenblicken des Innehaltens schließt sie die Augen und sieht, was ihr mit geöffneten versperrt bliebe. Es kommt vor, dass sie bis nach Indien hineinblicken kann und mit Sulagna Dhal kocht, für den Reis, der schon im Topf wartet. Sie geht zurück in der Zeit, in der anderen Dimension
des Offenen
, und sieht sich als Kind gerade noch dem Sturz mit dem Fahrrad entgehen, weil der Vater sie auffängt. Oder vorwärts in beidem, was für sie die dritte Dimension
des Offenen
ausmacht, betritt Räume und Zeiten, in denen sie noch nie war, und sie jagen ihr keine Angst ein. Das sind schöne Momente, nach denen sie sich vermutlich gesehnt hat, als sie im Dämmer lag. Traum und Realität jener Zeit kriegt sie im Übrigen noch immer nicht auseinander, sie sind eins und werden es, vermutet sie, bleiben. Hingegen glaubt sie zu wissen, dass Maljutka Malyschs Tod kein entsetzlicher Traum ist. Woher eigentlich? Sie versucht, sich vorzustellen, ihn geträumt zu haben. Es misslingt kläglich. Flugs schwillt der Schmerz vom Hintergrundton in lautes Gedröhn, sie hält sich die Ohren zu, lässt den Rollator los. Bleibt stehen. Keine Zeit, sich zu wundern: Sie macht drei Schritte ohne das Ding, es gelingt!
Im Schmerz Freude, in Freude Schmerz.
Soll sie hoffen, auch diese beiden Dinge irgendwann wieder auseinanderhalten zu können?

Sie isst noch weniger zu den Mahlzeiten, sie merkt es. Kann nicht schaden. Mit dem Speck schmilzt die Dickfelligkeit, denkt sie. Sie hat schon mehrere Tage nicht um Maljutkas Tod geweint, obwohl das Weh, die Seelennot allgegenwärtig sind. Ist das nun Dickfelligkeit? Sie denkt an Mischas Sprung vor den Zug — wochenlang war sie immer wieder von Heulanfällen heimgesucht worden, die sich von sehr weit unter der Oberfläche Bahn brachen, irgendetwas anderes hatte sie zugleich mit Mischa beweint. Die Tatsache, dass sie selbst keinen Sohn mit Matthes hatte, wird es wohl kaum gewesen sein. Mag sein, dass sie Schuld gefühlt hat am Tod des Jungen. In frühen Zeiten mit Matthes hatte Mischa besonders scharf und mit körperlichen Symptomen auf die Entzweiung seiner Eltern reagiert, die für ihn als kleiner Kerl nun einmal gleichzusetzen war mit dem Verlassenwerden durch den Vater. Matthes hatte die Mutter, die Schwester und ihn verlassen, und Helene stand als Ehebrecherin da, die zwar nicht die eigene, aber eine fremde Verbindung gebrochen hatte. Mischa hatte begonnen einzunässen, auch die Nahrungsaufnahme verweigert, und er hatte von einer Minute zur nächsten Ausschläge, Durchfälle und Ohnmachten auf Lager gehabt, was für ein fünfjähriges Kind zumindest nicht alltäglich gewesen war. Helene hatte geahnt, dass die Not leidende andere Frau ihr die Krätze an den Hals wünschte — die Krätze aber bekam Mischa, nahm sie auf sich. Nahm überhaupt auf sich, was die häuslichen vier Wände nicht verlassen sollte, aber, hätte er es nicht irgendwie geschluckt, als Nachtmahr über ihnen hocken geblieben wäre, der spätestens in der Dunkelheit Angst und Schrecken heraufbeschworen hätte. Dass der Nachtmahr seinen Platz in Mischas Eingeweiden fand, daran hatte Helene nie gedacht. Ja, wahrscheinlich fühlte sie deshalb Schuld. An Maljutkas Tod fühlt sie keine Schuld, aber stimmt das überhaupt? Augenblicklich wird sie unsicher, die letzten Monate vor dem Platzen des Aneurysmas sind ja hinter luftigen, duftigen Vorhängen verborgen. Manchmal schafft es der Wind, sie für Momente an der einen oder anderen Stelle beiseitezuschieben, aber mehr als Zipfel von Ideen, was passiert sein könnte, bekommt sie noch nicht zu fassen, und wenn sie einen davon in der Hand hält, zeigt sich meist irgendetwas, was wie der nächste Zipfel aussieht. Sie öffnet die Hand, um ihn zu schnappen, aber sofort ist wiederum der erste desertiert. Im Ärger darum lässt sie auch den zweiten ziehen. Immer wieder geht das so. Vielleicht bringt die Speckschmelze ja wenigstens erhöhte Beweglichkeit mit sich, die sie dafür gut gebrauchen könnte. Auch der Geist wird geschmeidiger, stellt sie sich vor, obwohl sie auch denkt, dass ein wenig Fett dem Schmierfluss zwischen den Gedanken durchaus zuträglich sein könnte. Auf das richtige Maß kommt es an, wie bei allem. Und so nimmt sie doch noch die zweite Halbscheibe Brot.
Sie sitzt nicht mehr beim
Schadhaften
Zwei Tage ihrer Abwesenheit hatten ausgereicht, sie vom Plan zu streichen und eine andere Besatzung um den Tisch zu gruppieren. Zuerst wollte sie ihr Recht einklagen, als sie wiederkam, dann aber erschien es ihr lächerlich, und so sitzt sie nun inmitten einer schweigenden Mümmeltruppe aus alten Männern, die offenbar dabei sind, sich selbst zu vergessen. Anderes scheinen sie sowieso schon vergessen zu haben. Sie kommt gut mit ihnen zurecht, auch wenn sie sich fragt, welchen Grund es gegeben haben mag, sie ausgerechnet diesem Tisch zuzuteilen. Andere Besatzungen sind nach Alter, Geschlecht oder persönlicher Bekanntschaft zusammengestellt worden, bei ihr griff das System nicht. Persönliche Bekanntschaften hat sie hier keine, aber als alters- und geschlechtslos wird sie ja nun auch nicht anzusehen sein. Obwohl die graue Kurzhaarhälfte vermutlich nicht zum Gesicht passt, hat man ihr von jeher ein
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