Auch heute wird Matthes kommen. Sie ist drauf und dran, ihn zu bitten, sich doch immer einen freien Tag zwischen die Besuche zu legen. Das wäre für sie gut, und für ihn wäre es ganz sicher ein wichtiger Schritt aus dem Karussell, in dem er wie ein Hamster rennt und rennt, sie kann sich kaum vorstellen, wie seine Tage aussehen, an denen er nach der Arbeit noch stundenlang S-Bahn und Bus fährt, um zu ihr zu kommen. Bis er da ist, wartet sie auf ihn. Wenn er dann aber da ist, steht das Unausgesprochene, dessen sie deutlich gewahr wird, ohne es in Worte wickeln zu können, groß und beunruhigend zwischen ihnen. Ob er das auch fühlt? Sie weiß es nicht, und sie weiß nicht einmal, ob das nicht viel beunruhigender ist.Im Kopf putzt sie Fenster. Geht in ihrem Haus in der Arberstraße von Zimmer zu Zimmer mit dem blauen Eimer in der Hand, öffnet die Fenster, wäscht sie erst von außen, dann von innen mit warmem Essigwasser ab. Poliert sie trocken mit alten Windeln. Muss wieder mal lachen, dass sie sich daran erinnert, was ihre Kinder gegessen hatten. Die echten Flecken auf den Windeln kann sie tatsächlich noch einzelnen Breisorten zuordnen, aber meist war eine Krankheit hinzugekommen. Bruno hatte einmal höllischen Durchfall gehabt und durfte nur Möhren pur essen — die Windeln sprachen noch jahrelang nur davon.Warum putzt sie im Kopf Fenster? Sucht sie die klare Aussicht, die ihr sonst fehlt? Von den Fenstern des Hauses kann sie nicht in die Ferne sehen. Vorn das Vorderhaus, hinten eine Grundstücksmauer. An einer Seite neben dem Eingang eine türgroße Scheibe zum Nachbargrundstück, auf den Zufahrtsweg zu ihrem Haus, auf der anderen Seite die Terrasse mit der Pergola, dem stark wuchernden Wein, der so gut schmeckt, dass ihr auf der Stelle das Wasser im Mund zusammenläuft. (Gestern hat Matthes davon mitgebracht, es ist noch eine Kleinigkeit da, die sie sofort in den Mund stopft.)Nein, die Aussicht ist es wohl nicht, nach der sie sich sehnt. Eher ist es vielleicht ein Versuchsballon, den sie steigen lässt: Ob sie sich vorstellen kann, zurückzukehren nach dort, in die alten Verrichtungen … Bisher war sie manches Mal in Gedanken von unten nach oben gewandert in ihrem Haus und wieder zurück, aber nie hatte sie etwas anderes getan, als sich die Zimmer zurückzuerobern, die Möbel, die Bücher, die Teppiche, die Bilder. Heute putzt sie Fenster — das ist, beschließt sie, der Beginn der Heimkehr. Und noch etwas beschließt sie: Sie wird das Hauptaugenmerk auf die Physiotherapie legen und die Entlassung auf jenen Tag, an dem sie keinen Rollator mehr braucht.Über Wochen hatte sie sich langsam, aber sehr sicher abgefunden mit einem Leben im Rollstuhl, und nun hat sie ein einfaches rollendes Gerät schleunigst davon überzeugt, dass viel mehr möglich ist. Dass sie wieder wird laufen können, vielleicht nicht so schnell, wie sie es gewohnt war, aber doch in angemessenem Tempo. Etwas wie Euphorie macht sich fläzig breit, Helene thront im Fenstersessel, als Matthes eintritt.Matthes sieht anders aus als gestern. Hat sein langes Haar nicht zusammengebunden, auch nicht gewaschen, aber das ist es nicht. Matthes sieht unsicher aus. Irgendwie schutzlos. Viel Widriges muss sich die Zeit entlanggeschoben haben bis zu diesem Gesicht. Sie kennt es und weiß, wie lange es braucht, um sich so zu verändern. Matthes tritt an den Sessel, sie steht auf. Er drückt sie, eine Spur zu heftig, zieht sich sofort wieder zurück und wickelt die Blumen aus, die er mitgebracht hat. Kein Wiesenstrauß, die Zeit mag ja auch vorbei sein. Drei Gerbera sind es. Blumen, von denen sie vor zwanzig Jahren behauptet hat, es seien ihr die liebsten. Das war zu einer Zeit, da Schnittblumen ein kaum beschaffbarer Luxus waren. Sie käme nicht auf die Idee, Gerbera heute noch als Lieblingsblumen zu titulieren, aber sie weiß nicht, ob es daran liegt, dass ihr mittlerweile an jeder Ecke die schönsten Sträuße hinterhergeworfen werden. Ob einfach das Alter es mit sich brachte, dass sie heute andere Favoritinnen hat? Glockenblumen zum Beispiel. Aber am liebsten von Matthes gepflückte, mit Klatschmohn gesprenkelt. Im Ikebana steht Gerbera für Traurigkeit. Wofür die Glockenblume steht, weiß sie allerdings nicht.Matthes tritt von einem Bein aufs andere. Sie ist tot , sagt er.
HELENE WIRD WACH. DER MUND TUT WEH
Die Zunge scheint geschwollen. Billy ist bei ihr. Er lächelt auf seine unnachahmlich weise Weise. Helene möchte sich aufsetzen, sieht: den Tropf im Arm, das Gitter vorm Bett. Ein Versuch, sich zu erinnern, aber nur zerhackte Sequenzen. Die müssen doch schon Jahre zurückliegen! Jedenfalls kommt es ihr so vor … War sie hier nicht schon? Der große Raum, vier weitere Betten darin? Was ist los? Sie fühlt sich benommen, zerschlagen. Gebrumm in den Beinen wie nach langem Krampf. Die Rippen schmerzen. Jetzt, da sie etwas sagen will, spürt sie die Zunge riesengroß im Mund, ein voluminöser, kraftloser Lappen, den sie irgendwie nicht auswringen kann. Eine Schwester schaut vorbei, kündigt das Mittagessen an: Nudeln mit Käsesauce. Ihr ist aber gar nicht nach Essen! Billy versucht, sie zu beruhigen. Warum ist sie hier? Sie schaut nun einigermaßen verzweifelt ihrem Sohn in die schönen blauen Augen. Die Schwester kommt. Ein Tablett kommt. Die Schwester nimmt einen Löffel voll Nudeln, besteckgerechte Spirelli, tunkt ihn in Käsesauce und hält ihn Helene vor den Mund. Die will nicht.
Nu aber
aufmachen!
poltert die Schwesternstimme, und Helene ist so perplex, dass sie automatisch den Mund öffnet. Schon ist der Löffel drin, aber ein heftiger Würgereiz lässt die Nudeln einzeln aus dem Mund kullern. Die Schwester ist sauer. Da ermannt sich Billy und staucht sie zusammen. Dass man doch so nicht mit auf Gedeih und Verderb hierher verfrachteten Patienten umgehen könne! Dass doch zu sehen sei: Seine Mutter will jetzt nichts essen! So! Und so!
Der Würgereiz schwindet, Stolz breitet sich aus.
So!
sagt sie triumphierend.
Die Schwester zischt unverrichteter Dinge ab.
Kann mir mal jemand sagen, was ich hier will? Sie bringt die Frage einfach nicht heraus, das ist ja schlimmer als der Sprachverlust nach der Operation! denkt sie. Damals waren im Moment des Sprechenwollens meist auch die Wörter weg, während sie jetzt doch da sind, aber keines kann ihren Mund verlassen! Überhaupt steckt sie fest in einer Art Gallert, findet sie. Die Glieder kann sie nur gegen heftigen Widerstand bewegen, und Billys blaue Augen sieht sie verschwommen.
Du hattest einen epileptischen Anfall,
sagt er.
Einen schlimmen, der uns Angst machen sollte. Mir hat er aber keine Angst gemacht, ich wusste, dass du es schaffst.

Einen Tag später fährt sie, diesmal bei (zugegeben: pappigem) Bewusstsein, zurück nach Heidemühlen. Bill hat ihr den Hergang der Dinge erzählt, aber sie liegt seither wie im Prokrustesbett, das ihr gar nicht passen will. Von den Ärzten bis zur Oberkante Halskrause mit Valproat abgesättigt, geht das Denken nur langsam vonstatten. Sie versucht, sich während des Krankentransportes noch einmal einen Überblick zu verschaffen:
Vorgestern hatte sie Matthes besucht, und während seiner Anwesenheit war sie in einen Status epilepticus geraten, einen eigentlich lebensbedrohlichen Zustand unausgesetzten Anfallsgeschehens. Man hatte sie — Matthes ließ sich nicht abweisen und hatte darauf bestanden, sie zu begleiten — zunächst in das heute evangelische Krankenhaus von Henrichshorst gebracht, wo sie vor fast zwanzig Jahren gearbeitet hatte. Man hatte dort versucht, den Grand-mal-Anfällen mit einer Faustan-Injektion zu begegnen, aber ohne Erfolg. Matthes hatte dann verlangt, dass man sie noch in der Nacht ins Unfallkrankenhaus nach Berlin fuhr. Dort lagerten nicht nur ihre Operationsunterlagen, sondern man konnte sich ihrer auch gut erinnern und verfügte über ein breites Diagnostikspektrum. Matthes hatte befürchtet, erneut wäre ein Aneurysma geplatzt, oder es wäre zu Nachblutungen gekommen. In Berlin war er nicht von ihrer Seite gewichen. Die Ärzte hatten sich entschlossen, Valproat zu infundieren, um den Status aufzulösen und neuen Anfällen vorzubeugen. Sie hatten bedauert, wegen ihres Herzschrittmachers keine Magnetresonanztomografie durchführen zu können, waren auf eine Computertomografie angewiesen. Zum Glück aber hatte sie keine Anzeichen auf eine erneute Ruptur erbracht, sodass man sie in die neurologische Station verlegt hatte, eine Etage unterhalb der
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