Zum Reden …
Sie wischt beiseite, wovon Matthes da anfängt.
Sie fragt ihn, ob er sich gut an Viola erinnern könne.
Gut erinnern …
Matthes wischt beiseite, wovon sie da anfängt.
Ratlos sehen sie für einen Moment aneinander vorbei.
Sie sieht, dass Matthes nicht nur schweigt, sondern
ver
schweigt.
Es wäre doch angenehmer, jemanden zum Reden zu haben!

Schließlich ist sie es, die den Weg zum See vorschlägt. Dort war sie noch nicht. Matthes geht natürlich darauf ein, geradezu beflissen packt er zwei Gläser, die er mitgebracht hat, in seinen Rucksack zurück. Weintrauben wäscht er ab, hat sie vermutlich auf dem langen Weg hierher irgendwo erstanden. Auch sie verschwinden im Rucksack. Sie fährt voraus, wartet am Fahrstuhl, hält ihn an. Wo bleibt er denn?
Er kommt schon.
Er stolpert über seine eigenen Füße, findet sie. Sie fahren nach unten. Der Weg aus dem Haus führt durch die Cafeteria. Helene ist nicht nach Eis, aber Matthes hat schon zwei Tütchen gekauft, Limone Buttermilch, ihr Lieblingseis. Na gut, aber sie kann nur eines, entweder Rollstuhlfahren oder Eisessen! Matthes greift den Rollstuhl und schiebt ihn weiter, sie fährt mit der Zunge über das köstliche Eis. Nun ist ihr doch danach. Der Appetit kommt eben beim Essen. Überrascht zieht sie Matthes am Ärmel, als sie eine Rotkappe sieht, die sich aus märkischem Sand ans Licht bohrt. Gleichzeitig ist sie verärgert, dass bei jedweder Aufregung die Fähigkeit zu sprechen erst einmal versagt. Selbst wenn sie einen einfachen Pilz im Unterholz sieht. Sie schließt die Augen. Auf dem Gipfelpunkt der Anspannung legt Matthes seine Hand auf ihre Schulter. Langsam verebbt der Druck, sie merkt, wie sich Arm und Hand aus dem Spasmus lösen und schlaff auf der Stuhllehne ruhen. Matthes schneidet den Pilz mit dem Schweizer Taschenmesser, das er einfach immer dabeihat, aus der Erde, lässt dabei ein kleines Stielstück im Boden. Immer macht er das so. Sie glaubt zu wissen, dass es besser wäre, den Pilz ganz herauszudrehen. Schonender, weil man ihm nicht eine solch große Schnittwunde zumutet, besser für den Esser, weil gerade bei dickfleischigen Pilzen, wie es die Rotkappe ja ist, ein schönes Stück Fleisch im Boden bleibt. Da kann man nichts machen, Helene unterlässt es, ihm das sagen zu wollen. Er hat es auch in den Jahren zuvor nicht gehört. Sie denkt darüber nach, was man in der Beziehungskiste überhaupt hört. Was hört sie von ihm und was nicht, und scheppert der Kistenverschluss womöglich so laut, dass sie einander zubrüllen könnten, was sie wollten? Die Rotkappe im Schoß, geht es weiter nach unten. In Serpentinen hat man hier einen rollstuhlgeeigneten Weg angelegt. Am See dann eine Feuerstelle, eine überdachte Sitzgruppe und um alles herum ein steinerner Bankkreis. Matthes setzt sich, sie steht ihm gegenüber, dreht dann aber den Stuhl, dass sie, seinen Blick im Rücken, aufs Wasser hinausschauen kann. Es war ein Sommer ohne große Gelegenheit zum Baden, jedenfalls war ab Anfang Juli Schluss damit gewesen, und ob sie im Juni noch schwimmen war, daran kann sie sich nicht erinnern. Von hinten gerät jetzt eine Weintraube in ihr Blickfeld. Matthes lässt sie vor ihren Augen baumeln. Was will er sie denn immer wieder füttern! Sie fährt ein Stück beiseite, demonstrativ das Limoneneis erhoben wie eine Brandfackel.
Stille.
Niemand außer ihnen ist hier unten.
Ein Düsenjäger am Himmel malt einen Kondensstreifen. Langsam und ruhig sieht das aus.
Es ist so still, dass sie überlegen muss, wie Bedrohung klingen könnte.

Sie fragt sich, was Matthes verschwieg. Sie spricht nicht differenziert genug, um ihm beizukommen, denkt sie. Matthes ist klug. Matthes verdreht ihr die Sätze im Mund. Sie weiß es noch. Es gelang ihm nicht immer, aber oft. In dem Zustand, in dem sie sich jetzt befindet, würde er sie ohne Zweifel unterbuttern. Aussichtslos also, ihn auf irgendeine Weise zur Rede stellen zu wollen. Ohnehin lässt er sich nicht
anbohren
, wie er es nennt, wenn sie ihn nach etwas fragt, womit er gerade nicht beschäftigt ist, sodass es ihn einige Überlegung — vor allem Zeit? — kostet, umzuschwenken.
Wie ist es mit den Bügeln? Drücken sie?
Helene ist mit Matthes zum Optiker gerollt, zum einzigen, den es in Heidemühlen gibt, um sich eine neue Brille anpassen zu lassen. Der Optiker hat einen Spiegel wie einen dreiflügligen Altar. Darin kann sie sich von der Seite sehen. Was sieht sie? Der Haarwuchs auf der linken Seite ist noch spärlich, vielleicht einen knappen Zentimeter lang. Er ist völlig grau. Silbern stehen die Borsten zu beiden Seiten der Narbe vom Kopf ab. Sie dreht den Kopf: Auf der anderen Seite glänzt es kastanienbraun. Sie stellt sich vor, wie es aussähe, wären die Haare wieder gleich lang: links grau, rechts braun, der Gedanke beginnt ihr zu gefallen. Sie dreht einige Mal den Kopf.
Na wie denn nun, drücken sie?
Nein, sie drücken nicht.
Welche Brille sie nimmt, ist ihr völlig egal. Matthes hingegen versucht, ihr die Vor- und Nachteile der verschiedenen Modelle zu erläutern. Sie versteht Bahnhof. Will Bahnhof verstehen. Ob nun mit überstreckbaren, unkaputtbaren Bügeln oder aber aus Plastik — sie will nur sehen können damit. Sie will die Welt anschauen. Die Welt wird sie doch sowieso nicht mehr anschauen! Sie ist bereit, sich damit abzufinden, sagt sie, wenn Matthes sich damit abfände, dass sie die Wahl eines passenden Gestells gerne ihm überließe. Das sind nun aber Ölworte im Feuer. Da muss der Matthes jetzt aber korrekterweise heftig protestieren, und das tut er.
Sie sei wohl verrückt! Sie sei eine schöne Frau, nach der sich nicht nur die Männer umdrehen!
Was hat er da gesagt? Weiß er überhaupt, was er da gesagt hat? Matthes tut jetzt so, als habe er überhaupt nichts gesagt. Sie zweifelt. Forscht dem Nachhall in ihren Ohren nach. Wird unsicher.
… nach der sich die Männer umdrehen!
Das wären zwei Worte weniger, vielleicht hat sie zwei Worte mehr gehört, als er gesagt hat, sie sieht ihm forschend ins Gesicht, aber er lächelt nur unverfänglich. Ihre Unsicherheit macht, dass sie zu zittern beginnt, er nimmt die Brille, die sie gerade aufprobiert hat — Metallgestell, hellblau, halbrundes Glas —, aus ihrer Hand und hält sie beruhigend fest, aber sie hasst das in diesem Moment. Ein Blick in die Gesichter der Umstehenden, des Optikers und zweier nachfolgender Kunden, zeigt keine Zeichen von Verunsicherung an über das, was Matthes da eben gesagt hat, sie wird sich verhört haben, ja, sie hat sich einfach verhört. Nun will sie aber doch schnell hier raus, sie stimmt dem hellblauen Metallgestell zu, das Matthes für das drittschönste hält, und reicht ihren Brillenpass über den Tisch, in dem die Werte der Gläser vermerkt sind. Nein, eine Neuvermessung ihrer Sehkraft möchte sie jetzt auf keinen Fall vornehmen lassen.
Heilfroh ist sie, als sie ein Stückchen Tüte mit dem Abholdatum und ihrem Namen in der Hand hält und Matthes mit ihr den Laden verlässt.

Wo bleibt eigentlich Lottchen, wenn Matthes kommt? In Heidemühlen war Lottchen noch nicht, das wundert sie. Wahrscheinlich hat Matthes seine Eltern gebeten, nachmittags vorbeizuschauen und nach Lottchen zu sehen. Mareile hat einfach zu viel um die Ohren (Chor, Orchester, Schülertheater, kein Sport, zu ihrem Leidwesen), und Lissy ist unzuverlässig. Auch Billy wohnt in Karlshorst, aber nach einem Schuljahr in Dänemark zog es ihn zu seiner Freundin. Sie wohnen auf der anderen Seite der Treskowallee, vielleicht zwei Kilometer entfernt. Wenn Helene an Billy denkt, geht ihr das Herz auf.Jetzt denkt sie an Billy.Ihr Herz geht auf.Um den Kohl fett zu machen, klopft es. Herein? Billy. Ist denn das die Möglichkeit? Gerade habe ich an dich gedacht! Es ist eine Freude, ihn zu sehen. Braun gebrannt, langbeinig. Natürlich hat er alle Schönheit von seinem Vater. Wenn er nach der Mutter käme, täte er ihr ein bisschen leid.Mit feinspürigem Blick, der immer ein Stückchen unter die Haut schlüpft, umarmt er Helene. Er packt eine Puppe aus, ein kleines, ebenso langbeiniges Geschöpf wie Billy selbst, und setzt sie seiner Mutter auf den Schoß. Die Sorgenpuppe. Selbst genäht hat er die, mit Helenes alter Maschine, die auf dem Dachboden ein unbeachtetes Dasein fristete. Jetzt aber offensichtlich nicht mehr, denn Billy dreht sich: Sieh mich an, ich habe mich neu eingekleidet! Helene erkennt die Stoffe ausgemusterter Sachen, von denen sie gedacht hätte, dass sie im Container gelandet wären: Ihr alter Wendewickelrock, die eine Seite schwarz mit Streublümchen, die andere schwarz mit weißen Pünktchen, hat für ein ganzes Oberhemd und eine Schiebermütze gereicht! Dem hell- und dunkelblau karierten Blazer, schlimmes Stück, sind von schwarzem Sweatstoff der Kragen und Teile der vorderen Blenden abgejagt worden, er ist eindeutig vermännlicht worden. Verrückt, der Junge kann wirklich alles anziehen und alles durcheinander, und es wird immer gut aussehen.Billy erzählt, dass er wieder zu Hause eingezogen sei. Es sei doch nicht einfach für alle im Moment, und auch Bengt überlege, ein Urlaubssemester zu nehmen und nach Berlin zu kommen, um einspringen zu können.Nun ist ihr klar, wo Lottchen bleibt.So gerührt ist Helene, dass sie wieder einmal gar nichts sagen kann.
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