Helene verspürte den Impuls, ihr Babyöl und zur Nachbehandlung Waschlappen und Handtuch zu reichen, unterließ das aber wohlweislich. Das, worüber sie tatsächlich sprachen, bewegte sich haarscharf an dem vorbei, worüber sie hatten sprechen wollen. Viola erzählte von der Gewichtszunahme, die ihr seit einigen Jahren zu schaffen mache, unterließ es aber, über die gleichzeitigen hormonellen Umstellprozesse in ihrem Körper zu sprechen, die vor der Operation begonnen hatten und danach natürlich beibehalten werden mussten. Sie sprach von den Cremes, die sie benutzte, die Rosazea zu bändigen, aber nicht davon, wie die wahrscheinlich täglich nötige Rasur die Haut zusätzlich beanspruchte. Sie redete davon, wie sie versuchte, ihr Brot freiberuflich mit dem Aufschreiben der Geschichten alter Leutchen zu verdienen, die ihre Biografien gern als gebundenes Buch ihren Kindern und Kindeskindern schenkten und sich das sogar etwas kosten ließen. Über die Irritationen der Anrufer und Anruferinnen beim ersten Kontakt sagte sie kein Wort, ebenso wenig ließ sie darüber verlauten, wie vieler potenzieller Kunden sie wieder verlustig ging nach einem solchen Erstgespräch. Erst, als sie auf Zurückliegendes zu sprechen kamen, auf Studium, Armeezeit und, ja, auch auf die Ehe, sagte Viola laut und deutlich
ich
, als sei sie sich ihrer selbst in der Gegenwart keinesfalls sicher.
Nachdem sie als Viktor Malysch anderthalb Jahre Grundwehrdienst abgeleistet hatte, war sie Lehrerin für Deutsch und Musik geworden. Gearbeitet als solche hatte sie aber nie, sondern dem Studium ein Forschungsstudium aufgepappt, das sie zum Dr. phil. befördert und die Universitätskarriere nahegelegt hatte. In die Zeit der Dissertation war eine Frau eingefallen, die sehr schnell ihre war: Sie fühlte sich verpflichtet, sie zu heiraten, als sie von ihrer Schwangerschaft erfuhr. Die Zwillinge waren
1983
zur Welt gekommen. Da endlich liebte sie ihre Frau, die nicht ahnte, dass der Vater ihrer Söhne ebenfalls eine Frau war. Eigentlich hätten sie schöne Jahre gehabt, sagte sie, so schön, dass sie mit dem
Outcoming
dem Ganzen die Krone hatte aufsetzen wollen. Sie hatten zwei Kinder, das war der Traum vieler Lesbenpaare, die sie kannte. Ja, dieses Traumleben hätte sie endlich führen wollen! Dass ihre Frau keine Lesbe war, musste sie irgendwie ausgeblendet, nicht mehr zugelassen haben, meinte sie. Der Schock wäre beidseitig gewesen: Ihre Frau hätte ihre Verkleidung zunächst für einen Scherz gehalten, der im Zusammenhang mit der Bartabnahme stehen musste. Als Viola aber das Tuch vom Kopf genommen und sie die Glatze erblickt hätte, sei sie regelrecht zusammengebrochen und hätte im Beisein der fast zehnjährigen Söhne einen Schreikrampf erlitten. In diesem Moment wäre es Viola
wie Schuppen aus den Haaren
gefallen: Ihre Frau liebte Bart und Schwanz und Waschbrettbauch und Bizepsaufgang, all das, was ihr so unerträglich war, dass sie nun alles daran setzen wollte, es loszuwerden, und die Unvereinbarkeit ihrer beider Viola-Vorstellungen musste sie beide an den Rand des Abgrunds gebracht haben, der ihre Ehe fortan war. Sie hatte ja nicht einfach aufhören können, ihre Frau zu lieben. Viele Male noch hätten sie miteinander geschlafen, weil sie es sich gewünscht und geglaubt hatte, Viola umstimmen, ummodeln, auf den rechten Weg zurückbringen zu können.
Aus der Traum, an der Mann
hätte Viola diese Akte bei sich genannt. Aber sie sei sich immer fremder geworden dabei und habe schließlich keinen mehr hochgekriegt. Es blieb bei
aus der Traum
Der Mann verschwand. Ihre Frau, sagte Viola, hätte es noch drei Jahre lang mit ihr versucht und allen guten Willen der Welt gezeigt. Als die Zwangsscheidung anstand, weil Viola die Operation mit Personenstandsänderung anstrebte, hätte sie oft geweint, weil es ihr so unvorstellbar erschienen wäre, auf diese Art den Mann loszuwerden, aber hätte Viola darauf verzichtet und nur den Namen geändert, so wäre ja nichts gewonnen gewesen. Ihr Fühlen hätte keine Kraft mehr gehabt, noch länger Anzug zu tragen.
Helene erinnert sich, während der langen Ansprache zum Ort ihrer ersten Begegnung zurückgekehrt zu sein: Viola war, nun ja, geschlechtsindifferent gekleidet gewesen, die männliche Erscheinung war erst auf den zweiten Blick mit der Knötchenfrisur aneinandergeraten, und das auch nur für einen Moment. Sie fragte sich, was sie zu diesem regelrechten Gestaltwandel veranlasst hatte.
Als sie schachmatt einschläft, sitzt die Brille noch auf ihrer Nase.
Als sie erfrischt aufwacht, sitzt die Brille nicht mehr auf ihrer Nase. Zerdrückt hat sie die, ein Glas ist aus der Fassung gesprungen, ein Bügel abgebrochen, der andere verdreht. Zuerst möchte sie wütend werden, dann aber besinnt sie sich.
Heute ist auch noch ein Tag.
Heute nimmt sie sich aber zusammen und schafft es, sich frische Sachen aus dem Schrank zu nehmen. Sie schafft es, sich die blöden Thrombosestrümpfe von den Beinen zu ziehen. Sie schafft es, ins Bad zu fahren und sich unter die Dusche zu setzen. Sie schafft es, die Seife wieder aufzuheben, als sie ihr zwei-, dreimal aus der Hand rutscht. Sie schafft es, sich gründlich zu waschen, abzutrocknen und schließlich die Zähne zu putzen. Sie schafft es, sich einfache Socken über die Füße zu streifen, den Slip anzuziehen. Den BH legt sie so zurecht, dass sie die eine Verschlussseite mit der linken Hand von hinten unter den rechten Arm klemmen kann, der zu solch grobem Festhalten in der Lage ist. Dann führt sie die andere Verschlussseite von links nach vorn, zieht und lässt sie dabei nicht los, bis sie auch die unter dem rechten Arm klemmende Seite erreicht hat. Sie schafft es, wirklich! die Häkchen in die Ösen zu schieben, wenigstens zwei von drei, und dann den BH ein halbes Mal um den Körper zu ziehen, sie schafft es, den rechten Arm in die Trägeröffnung zu bugsieren, und sie schafft es, auch mit dem linken unter den Träger zu schlüpfen. Sie schafft es. Geschafft ist sie, als sie es schließlich noch schafft, das T-Shirt über den Kopf, die Hose über den Hintern zu ziehen. Matthes hat ihr weiße Sportschuhe mit Klettverschluss mitgebracht. Sie schafft es …
Als die Schwester zum Wecken kommt, sitzt sie über ein Kreuzworträtsel gebeugt im Sessel am Tisch.
Mit der linken Hand schreibt es sich aber sehr ungewohnt.

Als sie von der Physiotherapie zurückkommt, schiebt sie die Schwester vor das Ärztezimmer.
Na, warten Sie mal, Sie kommen gleich dran.
Also wartet sie. In der Tat kommt die Ärztin einen Moment später nach ihr sehen, ruft sie herein, sie kommt ihr nicht zu Hilfe, sodass sie allein im Rollstuhl fährt.
Ein Lehrerinnenblick, denkt Helene.
Eine Lehrerinnenstimme beginnt, von den guten Erfolgen zu sprechen, die Helene vorzuweisen habe. Sie könne sich alleine anziehen. Dann könne sie natürlich auch alleine essen, oder? Sie könne sich allein waschen und allein im Rollstuhl fahren, kurz, sie sei nichts für diese Station, in der man das alles nicht können darf.
So?
Helene bekommt auf der Stelle Panik, aus der Rehaklinik geworfen zu werden. Als die Ärztin ihre Aufregung bemerkt, lacht sie und legt den Arm auf Helenes Oberschenkel. Es gibt das Haus
2
für die besser beweglichen Patienten, die überwiegend allein zurechtkommen. Dorthin wird sie verlegt.
Sie beruhigt sich.
Es könne aber nicht garantiert werden, dass sie dort auch ein Einzelzimmer bekommt, sagt die Lehrerinnenstimme.

Sie bekommt ein Einzelzimmer. Glück gehabt.
Glück gehabt? Matthes kann das nicht glauben. Es wäre doch angenehmer, jemanden zum Reden zu haben, zum Austausch!
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